Transkript
FORTBILDUNG
Phytotherapie bei Depressionen
Welches Potenzial haben pflanzliche Präparate?
Viele depressive Patienten werden von Hausärzten betreut. Doch nur bei etwa der Hälfte wird die Diagnose Depression gestellt, und nur ein kleiner Teil wird ausreichend behandelt. Gründe hierfür sind unter anderem das negative Image einer psychischen Erkrankung einerseits und die relativ schlechte Verträglichkeit von Antidepressiva andererseits. Deshalb ist eine gut wirksame medikamentöse Behandlung mit geringer Nebenwirkungsrate bei moderaten Kosten, wie sie mit Phytopharmaka möglich ist, gerade in der hausärztlichen Praxis eine wertvolle Option.
Nichtmedikamentöse Therapie An erster Stelle in der Behandlung depressiver Patienten steht das ärztliche Gespräch, das mit dem Zuhören beginnt. Therapeutische Gespräche sollten anfangs möglichst ein- bis zweimal wöchentlich stattfinden, besonders in der Latenzphase, bis die verordneten Arzneimittel wirken. Ergänzend ist an soziotherapeutische Massnahmen mit Beratung der Angehörigen, Training sozialer Kompetenzen und Organisation der Basisversorgung zu denken (18). Lichttherapie kann bei milden Verlaufsformen, insbesondere im Winter, hilfreich sein. Regelmässiges Ausdauertraining besitzt unter anderem durch Ausschüttung von Endorphinen eine nahezu gleich gute stimmungsaufhellende Wirkung wie eine spezifische Medikation. Und auch für die antidepressive Wirkung klassischer Massagen gibt es Belege. Speziell bei schweren und rezidivierenden Erkrankungsformen wird auch die Elektrokrampfbehandlung mit Erfolg eingesetzt (18). Auch Entspannungsverfahren und Stressreduktion sind therapeutisch wirksam. Einfache, relativ leicht und schnell erlernbare Techniken bieten das autogene Training (AT) und die progressive Muskelentspannung (PM). Wichtig hierfür ist natürlich die regelmässige Durchführung einer dieser Techniken. Das häufig vorgebrachte Argument: «Dafür habe ich keine Zeit!» kann leicht damit entkräftet werden, dass 10 Minuten AT oder PM so erholend wirken wie 2 Stunden Schlaf.
PETER W. GÜNDLING
Etwa 20 Prozent aller Patienten einer Allgemeinarztpraxis leiden unter Depressionen. Doch nur etwa 10 Prozent der Depressiven werden ausreichend behandelt, und nur bei rund 5 Prozent währt die Compliance länger als drei Monate (12). Auch aus der gesundheitsökonomischen Perspektive ist die Behandlung von Depressionen von hoher Relevanz: Die mit dieser Erkrankung einhergehenden Symptome, wie Verlangsamung von Denken und Sprache, Antriebs- und Konzentrationsschwächen, reduzierte Motorik und Leistungsfähigkeit, schränken die Patienten oft so weit ein, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihren beruflichen und privaten Alltagsaktivitäten nachzugehen oder ihre sozialen Kontakte zu pflegen. Mögliche Nebenwirkungen synthetischer Antidepressiva wie anticholinerge Effekte oder Sedierung können diese Probleme noch verschärfen (7).
Medikamentöse Therapie Je schwerer das depressive Syndrom ist, desto eher muss eine Pharmakotherapie erfolgen. Ebenso ist bei typisch phasenhaftem Auftreten ohne klare Psychogenese primär die Behandlung mit Antidepressiva indiziert.
Merksätze
■ Johanniskrautextrakte entfalten eine Wirkungsbreite, die einzelne synthetische Antidepressiva nicht haben.
■ In mehr als 40 Studien zeigte sich, dass Johanniskraut gegenüber Plazebo und im Vergleich zu synthetischen Antidepressiva gut wirkte.
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PHYTOTHERAPIE BEI DEPRESSIONEN
Das Spektrum der Antidepressiva ist beträchtlich: tri- oder tetrazyklische Antidepressiva, selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI), selektive NoradrenalinwiederaufnahmeHemmer (SNRI), noradrenerge und serotoninerge Antidepressiva (NASSA), MAO-Hemmer und nicht zuletzt Phytotherapeutika. Für welche Arzneimittel man sich letztlich entscheidet, richtet sich einerseits nach dem Erscheinungsbild und dem Schweregrad der Depression, andererseits nach den Begleiterkrankungen und der Komedikation des Patienten, der Verträglichkeit, den Kontraindikationen und Wechselwirkungen des Mittels sowie der Präferenz des Patienten.
Johanniskraut Hochwertige Johanniskrautextrakte enthalten ein Gemisch aus Hyperforin, Hypericin und Pseudohypericin sowie deren Synthesevorstufen, Flavonoide, Xanthone, Gerbstoffe und ätherisches Öl. Neuere Untersuchungen zeigen, dass vor allem Hyperforin und Flavonoide wie Biapigenin und Rutin für die antidepressive Wirkung entscheidend sind. Wie bei den meisten Phytotherapeutika beruht auch die Wirkung von Johanniskraut nicht auf einem einzelnen Inhaltsstoff, sondern auf einem Komplex. Nach aktuellen Untersuchungen hemmt Johanniskrautextrakt die Wiederaufnahme der Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Dopamin und hemmt GABA (Gamma-Amino-Buttersäure) und L-Glutamat. Keines der bekannten synthetischen Antidepressiva weist ein ähnlich breites Wirkspektrum auf (10). Die Wiederaufnahmehemmung der Neurotransmitter erfolgt vor allem durch Hyperforin (und Adhyperforin), weshalb diese im Wirkmechanismus am ehesten mit trizyklischen Antidepressiva vergleichbar sind, ohne jedoch deren typische Nebenwirkungen aufzuweisen (16, 19). Die Flavonoide Isorhamnetin und Rutin erhöhen signifikant die extrazelluläre Konzentration von Serotonin im präfrontalen Kortex und tragen so zur antidepressiven Wirkung des Gesamtextraktes bei. Diese Wirkung ist mit jener der SSRI vergleichbar. Hypericin und Pseudohypericin erwiesen sich in In-vitro-Versuchen als unwirksam, zeigten aber in vivo eine antidepressive Wirksamkeit durch Verbesserung der Bioverfügbarkeit. Zudem scheint Hypericin einzelne Stressparameter günstig zu beeinflussen. Diese Effekte sind am ehesten mit der positiven Wirkung niedrig dosierter Neuroleptika zu vergleichen (19). Johanniskrautextrakte, die alle diese Substanzen in ausreichender Konzentration enthalten, entfalten also eine Wirkungsbreite, die einzelne synthetische Antidepressiva nicht haben!
Wirknachweise Obwohl apothekenpflichtige Johanniskrautextraktpräparate vergleichbare Deklarationen aufweisen, unterscheiden sich die einzelnen Produkte deutlich im Spektrum der Inhaltsstoffe und in deren Freisetzungsverhalten, besonders im Hyperforingehalt. Gleiches gilt für den Nachweis der klinischen Wirksamkeit. Daraus folgt, dass die einzelnen Präparate nicht ohne Weiteres ausgetauscht werden können.
Die antidepressive Wirkung spezieller Johanniskrautextrakte konnte bisher in mehr als 40 kontrollierten Doppelblindstudien nachgewiesen werden. Dabei zeigte sich sowohl im Vergleich zu Plazebo (4, 6, 8, 9) als auch im Vergleich zu klassischen Antidepressiva wie Imipramin (11, 17, 18) bei leichten wie mittelschweren Depressionen eine gute Wirksamkeit des Phytopharmakons. Gleichzeitig lagen die Nebenwirkungsraten deutlich unter denen klassischer Antidepressiva. Auch gegenüber neueren synthetischen Antidepressiva wie Fluoxetin (13), Paroxetin (15), Sertralin (3) und Citalopram (4) konnte in zahlreichen kontrollierten Studien eine vergleichbar gute Wirksamkeit und bessere Verträglichkeit bei leichten und mittelschweren Depressionen belegt werden. Im Oktober 2008 erschien der neue Cochrane-Review, der Johannsiskrautextrakt eine Überlegenheit über Plazebo und eine gleich gute Wirksamkeit wie Standard-Antidepressiva bei weniger Nebenwirkungen bescheinigte (24).
Mögliche Nebenwirkungen Trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin und Imipramin verursachen bei 30 bis 60 Prozent der Patienten Sehstörungen, Mundtrockenheit, Obstipation und Kardiotoxizität. Und selbst bei modernen SSRI-Antidepressiva wie Fluoxetin, Citalopram, Paroxetin und Sertralin oder SSNRI wie Venlafaxin und Duloxetin kommt es bei 15 bis 30 Prozent der Patienten zu Übelkeit, Kopfschmerzen, Schwäche, Gewichtszunahme, Schlaf- oder Appetitlosigkeit. Bei Johanniskrautextrakten kommt es lediglich in 1 bis 3 Prozent der Fälle zu unerwünschten Wirkungen wie Magen-Darm-Beschwerden, allergischen Reaktionen (z.B. Hautrötung, Schwellung, Juckreiz), Müdigkeit oder Unruhe. Die oft befürchtete Fotosensibilisierung hellhäutiger Personen bei starker Sonnenbestrahlung tritt bei weniger als 0,01 Prozent der Patienten auf. Eine Metaanalyse klinischer Doppelblindstudien mit Johanniskraut zeigte sogar, dass die Nebenwirkungsrate unter Verum niedriger lag als unter Plazebo (12).
Wechselwirkungen von Johanniskrautextrakten Zu grosser Unsicherheit bei der Verordnung von Johanniskrautpräparaten haben Nachrichten über mögliche Wechselwirkungen geführt. Johanniskraut reduziert das hepatische Zytochrom P 3A4 (CYP3A4), was unter anderem dazu führen kann, dass die Wirksamkeit von Amiodaron oder Phenytoin abnimmt. Zudem kann die positiv inotrope Wirkung von Digoxin, die gerinnungshemmende Wirkung von Phenprocoumon und die immunsuppressive Wirkung von Ciclosporin verringert werden. Daher sind Johanniskrautextrakte bei Patienten mit Ciclosporin ebenso wie in der HIV-Behandlung mit Indinavir und anderen Protease-Hemmstoffen kontraindiziert. Bei Marcumarpatienten ist die Therapie unter engmaschiger Kontrolle möglich. Ebenso besteht eine Tendenz zur beschleunigten Elimination synthetischer Östrogene und Gestagene, sodass bei Patientinnen, die ein Johanniskrautpräparat und ein Kontrazeptivum einnehmen, keine «Mikropille», sondern ein klassisches Präparat empfohlen wird.
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FORTBILDUNG
Nach Abklingen des depressiven Syndroms sollte eine Erhaltungstherapie für drei bis sechs Monate ab Symptomfreiheit durchgeführt werden. Eine vorbeugende Langzeittherapie ist indiziert nach drei oder mehr depressiven Episoden oder nach zwei depressiven Episoden plus familiärer Belastung mit Affekterkrankungen, besonders schwer verlaufenden Krankheitsepisoden oder raschem Wiederauftreten der zweiten Episode.
Bei alledem wird jedoch meist vergessen, dass nicht nur Grapefruit, sondern viele Genuss- und Nahrungsmittel wie Honig, Rotwein, Coca-Cola, grüner und schwarzer Tee, Pfeffer oder auch Kohl zu deutlichen Steigerungen der Plasmaspiegel von Medikamenten führen können, deren Gefährdungspotenzial deutlich höher einzuschätzen ist. Insgesamt kann Johanniskraut jedenfalls als deutlich sicherer als synthetische Antidepressiva eingestuft werden (14).
Einsatz von Johanniskraut in der Praxis Die empfohlene Dosierung liegt bei 900 mg Extrakt pro Tag und kann auch als Einmalgabe verabreicht werden. Die Ansprechdauer beträgt in der Regel etwa zwei Wochen. Zu Therapiebeginn sollte der Patient deshalb mindestens zweimal wöchentlich kontaktiert werden. Spricht der Betroffene nach zwei bis vier Wochen nicht auf die Behandlung an, sollte auf ein klassisches Antidepressivum für mindestens vier Wochen umgestiegen oder der Patient zu einem Psychiater überwiesen werden. Bleibt auch die zweite Variante erfolglos, ist die Überweisung zum Spezialisten allemal angezeigt. Gleiches gilt bei unklarer psychiatrischer Diagnose, depressivem Stupor, akuter Manie oder Suizidgefahr.
Sonstige pflanzliche
Psychopharmaka
Obgleich kein Phytotherapeutikum bekannt
ist, das eine ähnlich gute antidepressive Wir-
kung besitzt wie das Johanniskraut, gibt
es einige Arzneipflanzen, die die Wirkung
dieses Mittels unterstützen. Passionsblume
kann dazu beitragen, die häufig begleitende
Angst zu lindern. Baldrian in geringerer
Dosierung wirkt beruhigend, ohne müde zu
machen, während Baldrian in hoher Dosie-
rung (500–600 mg) speziell bei Einschlaf-
störungen hilft. Lavendel zeigt synergistische Eigenschaften,
wenn man ihn mit Antidepressiva kombiniert. Auch Safran
besitzt antidepressive Eigenschaften; sein Preis schränkt aller-
dings den Gebrauch ein (21).
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Literatur unter www.allgemeinarzt-online.de/downloads
Prof. Dr. med. Peter W. Gündling Arzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren,
Chirotherapie, Sportmedizin Studiendekan Naturheilkunde und komplementäre
Medizin, Hochschule Fresenius Sebastian-Kneipp-Strasse 4 D-65520 Bad Camberg/Ts.
Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 2/2009. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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