Transkript
STUDIE REFERIERT
Hirntrauma birgt langfristig hohes Epilepsierisiko
Kohortenstudie bei Kindern und jungen Erwachsenen
Merksätze
■ Sowohl nach leichtem und schwerem Hirntrauma wie auch nach Schädelfraktur blieb das Epilepsierisiko in dieser Kohortenstudie auch nach zehn Jahren noch deutlich erhöht.
■ Bei familiärer Epilepsiebelastung ist das Risiko nach Hirntrauma besonders hoch.
Eine Hirnverletzung geht kurzfristig mit einem hohen Risiko für epileptische Anfälle einher. Ob die gesteigerte Krampfbereitschaft auch in den Jahren nach einem Trauma anhält, untersuchte diese Beobachtungsstudie aus Dänemark.
THE LANCET
Zwar ist bekannt, dass nach traumatischer Hirnverletzung das Epilepsierisiko steigt, die Dauer dieses Risikos oder die Faktoren, die es modifizieren, sind jedoch wenig erforscht. Aus Fallserien hospitalisierter Patienten weiss man, dass das Epilepsierisiko nach mittelschwerem oder schwerem Hirntrauma mit gewissen Computertomografieoder MRI-Befunden sowie der Notwendigkeit eines neurochirurgischen Eingriffs korreliert. Aus populationsbasierten Beobachtungsstudien ist ferner bekannt, dass ein Alter von 65 Jahren oder höher zum Zeitpunkt des Traumas ein signifikanter Epilepsierisikofaktor ist. Bei Kindern und Jugendlichen haben Studien bisher widersprüchliche Resultate ergeben. Bis anhin existiert keine effektive Prophylaxe der posttraumatischen Epilepsie, und Versuche mit medikamentöser Vorbeugung sind enttäuschend verlaufen. Vielleicht könnte sich dies ändern, wenn über prognostische Faktoren und die Dauer des erhöhten Epilepsierisikos mehr bekannt würde. Hierzu wollte diese Studie beitragen.
Methodik
Das umfangreiche Registrationssystem der Bürger in Dänemark erlaubt die Erfassung
aller dort geborenen oder neu dort wohnenden Menschen, bietet auch Informationen über die Verwandten und erlaubt so das Studium hereditärer Einflüsse. Das nationale Spitalregister enthält alle Entlassungsdiagnosen, also auch über die hier interessierenden verschiedenen Formen traumatischer Hirnschädigungen.
Ergebnisse
Die Autoren konnten 1,6 Millionen Menschen über insgesamt 19,5 Millionen Personenjahre nachverfolgen. Während dieser Zeit erlitten 78 572 Personen mindestens ein Hirntrauma, und 17 470 Menschen entwickelten eine Epilepsie, von denen 1017 zuvor eine traumatische Hirnschädigung erfahren hatten. Das Epilepsierisiko war nach leichter Hirnschädigung (z.B. Hirnerschütterung) verdoppelt (relatives Risiko [RR] = 2,2; 95%-Konfidenzintervall [KI] 2,07–2,38), massiv erhöht nach schwerem Hirntrauma (RR = 7,40; 95%-KI 6,16–8,89) sowie ebenfalls signifikant höher nach Schädelfraktur (RR = 2,17; 95%-KI 1,73– 2,71). Das Risiko blieb zudem auch zehn Jahre nach der zerebralen Schädigung jeweils signifikant erhöht: RR = 1,51 bei leichtem und RR = 4,29 bei schwerem Hirntrauma sowie RR = 2,06 nach Schädelfraktur. Das relative Risiko stieg mit dem Alter zur Zeit eines mittelschweren oder schweren Hirntraumas an und war besonders hoch bei über 15-Jährigen. Das Risiko war zudem für Frauen leicht höher als für Männer (RR = 2,49 vs. 2,01). Patienten mit einer positiven Familienanamnese für Epilepsie hatten nach leichtem Hirntrauma (RR = 5,75; 95%-KI 4,56– 7,27) und nach schwerem Hirntrauma (RR = 10,09; 95%-KI 4,20–24,26) ein besonders stark erhöhtes Anfallsrisiko.
Diskussion
Diese Studie bestätigt die Resultate früherer, kleinerer Untersuchungen, die eine Abhängigkeit des Epilepsierisikos von der Schwere des Hirntraumas sahen. Bemerkenswerterweise und im Gegensatz zu einer früheren Studie war hier das Epilepsierisiko selbst nach leichtem Trauma (Hirnerschütterung) für mehr als zehn Jahre erhöht. Dies könnte an anderen Diagnosekriterien oder einer nicht ausreichenden Fallzahl in älteren Studien gelegen haben. «Unsere Resultate legen den Schluss nahe, dass die Zeit zwischen Hirnschädigung und Auftreten erkennbarer klinischer Symptome (Krampfanfälle) mehrere Jahre umfassen kann, was Zeit lässt für eine klinische Intervention», schreiben die Autoren. Sie zitieren Tierexperimente, die darauf hindeuten, dass kurz nach der Hirnverletzung ein spezifisches Zeitfenster besteht, in dem geeignete Medikamente den epileptogenen Prozess stoppen könnten, erwähnen aber auch, dass Epilepsieverhinderungsstudien bei Menschen nach Hirntrauma negativ verliefen. Während des Studienzeitraums wurden in Dänemark nach Hirnverletzung Antiepileptika nicht routinemässig eingesetzt. Dennoch, so Christensen und Mitautoren, eröffne ihre Beobachtung, dass das Epilepsierisiko nach Hirntrauma langfristig erhöht bleibt und von erfassbaren Risikofaktoren wie einer familiären Epilepsiebelastung abhängt, die Aussicht auf potenzielle präventive Behandlungen bei Hochrisikopatienten. ■
Jakob Christensen (University of Aarhus, Aarhus, Denmark) et al.: Long-term risk of epilepsy after traumatic brain injury in children and young adults: a population-based cohort study. Lancet published online February 23, 2009; DOI: 10.1016/S01406736(09)60214-2.
Interessenkonflikte: keine deklariert
Halid Bas
464 ARS MEDICI 11 ■ 2009
STUDIE REFERIERT
KOMMENTAR
Dr. Rita Schaumann-von Stosch, Suva Versicherungsmedizin, Kompetenzzentrum, Luzern
Dr. Thomas Dorn, Schweizerisches Epilepsie-Zentrum Zürich
Die problematische Faszination der grossen Zahlen
Diese in einem international höchst anerkannten Journal publizierte Studie, deren Ergebnisse letztlich auf 1 605 216 Patienten mit 19 527 337 Patientenjahren fussen, beeindruckt zweifelsohne in einer Zeit, in der der «Impact» einer wissenschaftlichen Publikation vor allem von der Grösse der Studienpopulation abhängt und kasuistische Beiträge allenfalls zur Fortbildung taugen. Dieser positive Eindruck der grossen Zahlen schwindet auch nicht, wenn es im Ergebnisteil weiter heisst, dass die wichtigen Aussagen dieser Studie «nur» auf den Daten von 78 572 Patienten mit Hirnverletzung, 17 470 Patienten mit Epilepsie und 1017 mit Epilepsie nach vorangehender Hirnverletzung beruhen.
Neben solchen quantitativen Aspekten muss aber bei der Bewertung einer solchen Arbeit auch die Anwendbarkeit ihrer Ergebnisse im klinischen Alltag eine Rolle spielen. Hierauf geht der im gleichen Journal erschienene Kommentar (1) ein und nennt gleich zwei Fragestellungen, für die die Studie von Christensen et al. relevant ist, nämlich für die Entscheidung bezüglich einer antiepileptischen Therapie nach Hirnverletzungen und für gutachterliche Fragestellungen, ohne allerdings zu sagen, in welcher Weise. Diese Fragen sollen im Folgenden anhand von zwei kasuistischen Beispielen kurz erörtert werden.
Beispiel 1: Ein 45-jähriger bis anhin gesunder Patient zieht sich bei einem Fahrradunfall eine rechts-frontale Hirnkontusion ohne neurologische beziehungsweise psychometrisch erfassbare Folgen zu. Ohne dass jemals ein epileptischer Anfall aufgetreten ist, wird eine Dauertherapie mit Carbamazepin begonnen. Er bleibt anfallsfrei, ein EEG unter dieser Therapie mehrere Wochen nach dem Ereignis zeigt fraglich epilepsietypische Potenziale. Es wird die Frage nach der Möglichkeit des Absetzens des Carbamazepins gestellt, die zufolge der aktuell gültigen Empfehlungen ganz klar mit ja zu beantworten ist (2), weil eine wichtige Voraussetzung für die Aufnahme einer antiepileptischen Dauerbehandlung nicht erfüllt ist, nämlich das Auftreten eines epileptischen Anfalls. Ein «verdächtiges» EEG oder eine potenziell epileptogene Hirnpathologie ändern hieran nichts, einzig sollte bei deren Vorliegen schon nach einem einzelnen unprovozierten Anfall statt nach den sonst geforderten zwei unprovozierten Anfällen mit einer antiepileptischen Pharmakotherapie begonnen werden. An dieser Empfehlung sollte auch hoffentlich die vorliegende Studie nichts ändern, auch wenn sie für den oben erwähnten Patienten mit einem den Studienkriterien zufolge schweren Hirntrauma ein gegenüber einer nicht hirntraumatisierten Person ein 7,4-fach erhöhtes Risiko für eine Epilepsie beschreibt, da hierdurch die Mehrzahl von Patienten mit traumatisch bedingten, in der Bildgebung
nachweisbaren Hirnläsionen umsonst mit nebenwirkungsträchtigen Medikamenten behandelt würden. Sollten die Autoren des «Lancet»-Kommentars (1) mit ihrem unpräzise formulierten Hinweis zum Nutzen der Studie gar meinen, dass man zufolge des schon 2,22-fach erhöhten Risikos für eine Epilepsie nach leichter traumatischer Hirnverletzung auch nach einer Commotio cerebri mit einer antiepileptischen Therapie beginnen solle, wären die Studienergebnisse vollends unkritisch aufgenommen worden.
Beispiel 2: Ein 40-jähriger Patient erleidet im Rahmen eines Arbeitsunfalls eine Kopfverletzung. Die Echtzeitdokumentation ist bezüglich der Frage einer Bewusstlosigkeit beziehungweise einer retrograden Amnesie infolge des Unfalls ungenau. Der Patient entwickelt einen chronischen Kopfschmerz, einige Wochen nach dem Unfall treten auch Anfälle mit Bewusstlosigkeit auf, weswegen erfolglos Carbamazepin eingesetzt wird, dessen Indikation auch mit einem «auffälligen» EEG begründet wird. Nach mehr als einjähriger, aufgrund der beschriebenen Beschwerden attestierter Arbeitsunfähigkeit werden in einer Video-EEG-Langzeitregistrierung unter und nach Absetzen des Carbamazepins patiententypische Anfälle registriert, die ohne Anfallsmuster im EEG bleiben und als psychogene, nicht epileptische Anfälle zu diagnostizieren sind. Auf die Möglichkeit psychogener, nicht epileptischer Anfälle im Anschluss an Kopfverletzungen wurde unlängst in einer deutschsprachigen Arbeit hingewiesen (3), in der die diesbezügliche internationale Literatur sorgfältig berücksichtigt wurde. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass der Aspekt einer falschen Epilepsiediagnose beziehungsweise die Differenzialdiagnose posttraumatischer psychogener, nicht epileptischer Anfälle von den Autoren der Studie überhaupt nicht diskutiert wird. Dieser Aspekt ist aber bei Begutachtungen einzelner Patienten im Hinblick auf Leistungen von Sozialversicherungen, insbesondere der Beurteilung des kausalen Zusammenhangs zwischen einem Kopftrauma und danach aufgetretenen Anfällen, von grösster Bedeutung. Die unkritische Übernahme der Studienergebnisse in die Argumentation eines Gutachtens lässt also Fehlbeurteilungen erwarten. Die Studie beweist nämlich keinesfalls ein erhöhtes Epilepsierisiko nach leichtem Hirntrauma, zumal ihre Autoren immerhin selbst die Möglichkeit einräumen, dass strukturelle Hirnläsionen nach Kopfverletzungen übersehen und damit Patienten mit schweren Hirnverletzungen fälschlicherweise in die Gruppe mit leichten gerutscht sein und so das Ergebnis beeinflusst haben könnten.
Der Leser der Studie tut also gut daran, nicht der Faszination der grossen Zahlen und statistischen «Power» zu erliegen und signifikante relative Risiken mit Kausalzusammenhängen zu verwechseln. Die Analyse derselben auf diesem Gebiet sollte man der neurobiologischen Grundlagenforschung und sorgfältig geplanten prospektiven Studien überlassen.
Auch das in der Studie gesehene über zehn Jahre nach einem Hirntrauma
anhaltend signifikante relative Risiko für die Entwicklung einer posttrau-
matischen Epilepsie sollte man beim Design von prospektiven Studien zu
antiepileptogenen Therapien nicht für bare Münze nehmen. Auch hier liegt
es bei der «Nassforschung», Hypothesen zu möglichen «Targets» und Zeit-
fenstern solcher Therapien zu generieren (4).
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Literatur: 1. Shorvon S, Neligan A. Risk of Epilepsy after head trauma. Lancet 2009; 373: 28, 1060—1061. 2. Fisher RS, van Emde Boas W, Blume W, Elger C, Genton P, Lee P, Engel J Jr. Epileptic seizures and
epilepsy: definitions proposed by the International League Against Epilepsy (ILAE) and the International Bureau for Epilepsy (IBE). Epilepsia 2005; 46: 470—472. 3. Schauman-von Stosch, Schmidt H, Bathke KD. Anfälle nach Unfall — Versicherungsmedizinische Aspekte. Epileptologie 2008; 25: 191—197. 4. Prince DA, Parada I, Scalise K, Graber K, Jin X, Shen F. Epilepsy following cortical injury: cellular and molecular mechanisms as targets for potential prophylaxis. Epilepsia 2009; 50, Suppl 2: 30—40.
ARS MEDICI 11 ■ 2009 465