Transkript
FORTBILDUNG
Die Pille: Dichtung und Wahrheit
Verhütung bei Jugendlichen
Nach wie vor gibt es zu viele Teenagerschwanger-
schaften. Unsere ärztliche Aufgabe liegt in der sorg-
fältigen Aufklärung der Mädchen und in einer suffi-
zienten Verhütungsberatung. Was die Einnahme oraler
Kontrazeptiva angeht, so kursieren unter den Teen-
agern einige Vorbehalte. Die Pille hat Nebenwirkun-
gen, macht dick, ist nicht sicher genug und verur-
sacht Krebs, glauben viele.
SABINE ANTHUBER
Ein wesentlicher Aspekt beim Thema ungewollte Schwangerschaft ist das jüngere Alter beim ersten Geschlechtsverkehr. Heute sind fast zwei Drittel der 16-jährigen Mädchen und knapp 60 Prozent der Jungen koituserfahren. Das durchschnittliche Alter beim ersten Mal liegt sowohl für Mädchen als auch für Jungen bei etwa 15 Jahren (1). Eine Umfrage der deutschen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) aus dem Jahr 2006 hat gezeigt, dass vor allem in der Altersgruppe der unter 15-Jährigen der Anteil der Mädchen mit Koituserfahrung deutlich zunimmt. Insgesamt 14 Prozent der 14-jährigen Mädchen und 12 Prozent der gleichaltrigen Jungen haben in Deutschland bereits Sexualverkehrerfahrung (1). Obwohl sich der Geschlechtsverkehr ohne Verhütung bei minderjährigen Mädchen von 20 Prozent im Jahr 1980 auf 9 Prozent im Jahr 2005 reduziert hat und auch der Kondomgebrauch in dieser Altersgruppe von rund 30 auf über 70 Prozent angestiegen ist, kommt es nach wie vor häufig zu einem Versagen der Kontrazeption. Hauptgründe hierfür sind nach der BZgAUmfrage das Vergessen der Pille (25%) und Schwierigkeiten bei der Kondomanwendung (50%). Hinzu kommt, dass das «erste Mal» oft überraschend und nicht geplant stattfindet. Auch lückenhafte Informationen zu Kontrazeptiva führen zu Anwendungsfehlern. 74 Prozent der Mädchen und 65 Prozent der Jungen sind nach Meinung der Eltern über Verhütung gut informiert. Allerdings bejahten die Frage nach Aufklärung nur 57 Prozent der befragten Jungen und 72 Prozent der Mädchen dieser Eltern (3). Auch die Unkenntnis über die physiologischen Abläufe im Körper und den Empfängniszeitpunkt tragen
zu ungewollten Schwangerschaften bei: Nur 43 Prozent der Mädchen und 67 Prozent der Mütter von Mädchen können den Konzeptionszeitpunkt richtig angeben. Die deutliche Zunahme des Kohabitationswunsches bei den unter 15-Jährigen unterstreicht, dass die Aufklärung viel früher einsetzen, das Angebot an jugendgerechten Beratungsstellen verbreitert und der Zugang zu Kontrazeptiva vereinfacht werden muss.
Hormonale Kontrazeptiva Schätzungsweise 55 Prozent aller 14- bis 19-jährigen Frauen verwenden in Deutschland orale Kontrazeptiva. Niedrig dosierte Ovulationshemmer sind bei Abwägung aller Vor- und Nachteile die Mittel der ersten Wahl zur Verhütung bei den Jugendlichen. Orale Kontrazeptiva zeichnen sich durch eine hohe Sicherheit (Pearl-Index zwischen 0,04 und 1,2), eine gute Zykluskontrolle und ein geringes Risiko für entzündliche Erkrankungen im kleinen Becken aus. Die Fertilität ist auch nach jahrelanger Einnahme nicht eingeschränkt. Orale Kontrazeptiva haben zusätzliche positive Eigenschaften, die insbesondere bei jugendlichen Anwenderinnen von Vorteil sind. So werden Akne, Seborrhö, Hirsutismus und ein polyzystisches Ovarialsyndrom mit antiandrogenen Ovulationshemmern günstig beeinflusst. Gerade junge Mädchen klagen häufig über Dysmenorrhö und Zyklusunregelmässigkeiten. Ovulationshemmer wirken zyklusregulierend und verbessern endometriosetypische Beschwerden. Kommt es nach Absetzen zur Amenorrhö, so liegen ursächlich andere hormonelle Störungen vor, die durch die Einnahme der Pille nur überdeckt wurden (4). Die BZgA hat in ihrer oben genannten Umfrage
Merksätze
■ Niedrig dosierte Ovulationshemmer sind nach Abwägung aller Vorund Nachteile die Mittel der ersten Wahl zur Verhütung bei jungen Mädchen.
■ Vor der Verordnung eines hormonalen Kontrazeptivums sollte man nach Thromboembolien in der Eigen- und Familienanamnese fahnden.
■ Langzykluskontrazeptiva zeichnen sich durch eine höhere Sicherheit aus. Nachteilig sind Durchbruchsblutungen vor allem bei Erstanwendung.
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DIE PILLE: DICHTUNG UND WAHRHEIT
nachgewiesen, dass die Anwendung von Kontrazeptiva die Zahl der Koituspartner bei Jugendlichen nicht steigert (3). Trotz belegbar guter Eigenschaften oraler Kontrazeptiva haben viele Mädchen Angst vor Verhütungsmitteln. So glauben 78 Prozent einer Gruppe 14- bis 16-jähriger Mädchen, dass die Pille nicht verträglich ist, 67 Prozent, dass sie nicht sicher genug ist, 56 Prozent, dass sie dick macht, und 45 Prozent, dass sie Krebs verursacht (5).
Pille und Regelschmerzen Viele junge Mädchen leiden in den Jahren nach der Menarche unter einer primären oder sekundären Dysmenorrhö. Die Pathogenese ist vielschichtig. In den ersten Jahren nach der Menarche haben Jugendliche zum Teil anovulatorische Zyklen. Durch ein insuffizientes Corpus luteum resultiert ein relativer Progesteronmangel. Der dadurch entstehende Östrogenüberschuss bewirkt eine Freisetzung von Prostaglandinen. Die Freisetzung dieser vasoaktiven Substanzen wird als organisches Korrelat für die Dysmenorrhö verantwortlich gemacht. Aufklärende Gespräche über die physiologischen Abläufe und Zusammenhänge des Menstruationszyklus können bereits zu einer Reduzierung der Beschwerden beitragen. Eine sorgfältige Anamnese unter Einbeziehung des Zyklusverhaltens bei der Mutter und deren Einstellung zum Zyklusgeschehen sind ebenso wichtig wie eine orientierende gynäkologische Untersuchung und eine Sonografie. Eine Anwendungsbeobachtungsstudie aus dem Jahr 2005 (9) untersuchte den Einfluss eines oralen Kontrazeptivums mit 30 µg Ethinylestradiol und 2 mg Chlormadinonacetat (Belara®) auf die Dysmenorrhö bei 4084 jungen Frauen. Die Dysmenorrhöbeschwerdestärke bei Patientinnen, die neu eingestellt wurden, nahm deutlich ab. So hatten 91 Prozent keine oder nur noch sehr schwache Dysmenorrhöbeschwerden, im Gegensatz zu nur 25 Prozent zuvor.
Macht die Pille dick? Viele junge Frauen haben Angst, unter der Pille Gewicht zuzunehmen. Bei 2885 Probandinnen zwischen dem 14. und 24. Lebensjahr, die auf ein Kontrazeptivum neu ein- oder umgestellt wurden, konnte gezeigt werden, dass es mit und ohne Verhütungsmittel zu einer durchschnittlichen Gewichtszunahme von 5 kg in dem beobachteten Zeitraum kam.
Pille und Malignom Die Angst, durch die Anwendung hormonaler Kontrazeptiva an Krebs zu erkranken, existiert bei vielen Frauen. Nach wie vor wird das Risiko Brustkrebs kontrovers diskutiert. Eine Reanalyse von 54 epidemiologischen Studien zur Risikoevaluation ergab ein relatives Risiko von 1, 24 für Pillenanwenderinnen, an Brustkrebs zu erkranken (6). Eine Publikation aus dem Jahr 2007 zeigte, dass das Risiko, an einem Ovarialkarzinom zu erkranken, für Pillenanwenderinnen statistisch signifikant vermindert war. Der stärkste Effekt trat bei den niedrig dosierten, kombinierten oralen Kontrazeptiva auf (< 0,035 mg Ethinylestradiol) (7).
Pille und Thromboembolie Das Risiko für ein thromboembolisches Ereignis ist altersabhängig. Es liegt bei den unter 20-Jährigen bei 1/100 000, steigt aber zwischen dem 41. und 75. Lebensjahr auf 1/1000 an (8). Da hormonale Kontrazeptiva meist langfristig verordnet werden, muss der verordnende Arzt nach thromboembolischen Ereignissen in der Eigen- und Familienanamnese fragen. Bei belasteter Familie ist eine Thrombophiliediagnostik obligat. Wird bei einer jugendlichen Patientin eine homozygote FaktorV-Leiden-Mutation diagnostiziert, sollten nicht ethinylestradiolhaltige Kontrazeptiva ausgewählt werden. Hierzu stehen der rein gestagenhaltige Ovulationshemmer (Cerazette®), Langzeitkontrazeptiva (z.B. Implanon®) und Intrauterinpessare (z.B. Mirena®) zur Verfügung.
Ist die Pillenpause sinnvoll? Ängste und Zweifel bezüglich der Hormoneinnahme führen nicht selten dazu, dass die sogenannte «Pillenpause», insbesondere von den Müttern der Jugendlichen, gewünscht wird. Eine Pillenpause ist medizinisch jedoch nicht indiziert. Das Thromboserisiko reduziert sich erst nach dreimonatigem Absetzen auf den Ausgangswert. Die erneute Pilleneinnahme steigert jedoch wiederum das Risiko für eine Thromboembolie im Vergleich zur Dauereinnahme, vor allem in den ersten vier Monaten. Es ist erst etwa ab dem vierten Einnahmemonat konstant (8). Jede Schwangerschaft erhöht es um den Faktor 12 (9).
Pille und Amenorrhö Durch die langfristige Einnahme hormonaler Kontrazeptiva werden ursächliche Zyklusstörungen nicht registriert. Nach Michelmore haben 8 bis 26 Prozent und nach Strowitzki 33 Prozent aller Jugendlichen mit Zyklusstörungen ein PCOSyndrom (10, 11). Die Post-Pill-Amenorrhö dieser Patientinnen ist Ausdruck einer hormonellen Dysfunktion, die durch die Pille verschleiert, jedoch durch diese nicht verursacht wird.
Pille und Fertilität Eine Studie aus England mit 8497 Schwangerschaften nach Absetzen oraler Kontrazeptiva zeigte, dass 74 Prozent der Schwangerschaften innerhalb des ersten halben Jahres eintraten, weitere 14 Prozent nach sechs bis zwölf Monaten und noch 12 Prozent innerhalb des zweiten Jahres und danach. Diese Zahlen belegen, dass auch die langfristige Verhütung mit hormonalen Kontrazeptiva keinen negativen Einfluss auf die Fertilität hat.
Pille und Knochenstoffwechsel Untersuchungen zum Einfluss hormonaler Kontrazeptiva auf den Knochenstoffwechsel bei Jugendlichen sind schwierig durchzuführen. Unterschiedliche körperliche Reifungsprozesse, der Einfluss von Lebensgewohnheiten – wie zum Beispiel körperliche Betätigung, Rauchen und die Ernährung – führen zu unterschiedlichen Ausgangssituationen. Die Datenlage ist dürftig.
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FORTBILDUNG
Lloyd et al. (2000) fanden bei 28 Pillenanwenderinnen und 34 Frauen, die nie orale Kontrazeptiva eingenommen hatten, im Alter von 20 Jahren keinen Unterschied im Erreichen der Peak Bone Mass (12). Paoletti et al. (2000) fanden bei Einnahme von Präparaten mit 20 oder 30 µg Ethinylestradiol und einem identischen Gestagen (Gestoden 75 µg) eine geringere Knochenresorption (13). Die Frage, ob niedrig dosierte orale Kontrazeptiva mit 20 µg Ethinylestradiol und weniger eine ausreichende Wirkung auf den Knochenstoffwechsel und insbesondere auf das Erreichen der Peak Bone Mass haben, wurde mehrfach diskutiert (14–16). Nappi et al. zeigten in einer 2003 publizierten Studie, dass Präparate mit nur 20 µg beziehungsweise 15 µg einen positiven Einfluss auf den Knochenstoffwechsel hatten. Die Knochenmasse war nicht signifikant verändert. Kritisch anzumerken ist, dass alle Anwenderinnen älter als 18 Jahre waren (15). Prospektive Studien mit sehr jungen Anwenderinnen unter 18 Jahren sind schwer durchführbar. Hingegen ist bekannt, dass die Dreimonatsspritze mit Medroxyprogesteronacetat (MPA) die Knochendichte signifikant vermindert und deshalb bei Jugendlichen nur in Ausnahmefällen vertretbar ist.
Langzykluskontrazeptiva Die hormonale Langzykluskontrazeption (= Einnahme eines hormonhaltigen Kontrazeptivums ohne Einnahmepause über mehr als 3 Monate) mit niedrig dosierten monophasischen Ovulationshemmern wird derzeit intensiv diskutiert. Eine Emnid-Umfrage von 855 Frauen im Jahr 2000 ergab, dass 40 Prozent gerne auf die Monatsblutung verzichten würden. Eine echte medizinische Notwendigkeit gibt es für die Einhaltung einer Pillenpause alle vier Wochen nicht. Die kontrazeptive Sicherheit ist im Langzyklus sogar erhöht (4). Untersuchungen haben gezeigt, dass es bereits in der einnahmefreien Zeit eines oralen Kontrazeptivums im Normalzyklus zum Beginn einer Follikelreifung kommt. Eine Verkürzung der einnahmefreien Zeit verstärkt die ovarielle Suppression (4, 17). Das Risiko für eine ungewollte Schwangerschaft ist demnach bei Verlängerung des hormonfreien Intervalls erhöht. Dies ist insbesondere für Jugendliche relevant, deren Problem häufig die Einhaltung der regelmässigen Einnahme ist. Für Patientinnen, die längerfristig Medikamente einnehmen, die die pharmakologische Wirkung des oralen Kontrazeptivums beeinträchtigen (z.B. Barbiturate, Antibiotika, Antikonvulsiva), ist der Langzyklus deutlich zuverlässiger. Therapeutische Vorteile werden ausserdem bei der Behandlung der Endometriose, beim Uterus myomatosus, bei Patientinnen mit angeborenen Defekten des Gerinnungssystems (z.B. Faktor-XII-Mangel, Willebrand-Jürgens-Syndrom), bei Dysmenorrhö, beim prämenstruellen Syndrom, bei der Pillenpausenmigräne und bei Frauen mit PCO-Syndrom gesehen. Nachteilig kann eine verstärkte Neigung zu Durchbruchsblutungen vor allem bei Erstanwenderinnen sein. Die gefürchtete «Kumulation von Steroiden» über einen längeren Zeitraum liess sich bisher nicht belegen. Vielmehr zeigte eine Untersuchung, dass innerhalb von zehn Tagen ein Steady State für
Ethinylestradiol und Gestagene (z.B. Chlormadinonacetat) erreicht wird (18).
Alternative Kontrazeption
Mittel der ersten Wahl sind für Jugendliche orale Kontrazeptiva
in Kombination mit dem Kondom. Als Alternative können der
NuvaRing® und das kontrazeptiv wirkende Pflaster Evra® ver-
ordnet, Implanon® oder Mirena® eingesetzt werden.
Kupferhaltige Intrauterinpessare (IUD) sind Kontrazeptiva der
zweiten Wahl bei Jugendlichen. Auch wenn neuere Auswer-
tungen keine höhere Rate von Infektionen des kleinen Beckens
bei Nulliparae zeigen (19), so gibt es doch keine verlässlichen
Zahlen für die Anwendung bei Jugendlichen. Wechselnde Part-
nerschaften, vorausgegangene Adnexitiden, Uterusfehlbildun-
gen und Blutungsstörungen sind Kontraindikationen für ein
kupferhaltiges IUD bei Jugendlichen.
Das einzige Kontrazeptivum, das nachweislich zu einer Ab-
nahme der Knochendichte führt, ist die Dreimonatsspritze mit
MPA (19, 30). Gerade eingeschränkt bewegungsfähige Men-
schen, wie zum Beispiel junge Mädchen mit Spastik, sollten
deshalb eine andere Form der Kontrazeption erhalten.
Keine Alternative sind für Jugendliche Barrieremethoden.
Auch die natürliche Familienplanung (NFP) hat bei Jugendli-
chen keinen Stellenwert. Aufgrund gehäuft unregelmässiger
Zyklen und Lebensgewohnheiten kann diese Methode nicht
empfohlen werden. Die hierfür nötige Selbstbeobachtung des
Körpers erfordert ein hohes Mass an Disziplin und Reife und ist
deshalb nur im Ausnahmefall erfolgreich.
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Literatur unter www.allgemeinarzt-online.de/downloads/literaturliste.html
Dr. med. Sabine Anthuber Oberärztin der Klinik
Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe
Klinikum der Universität München-Grosshadern Marchioninistr. 15 D-81377 München
E-Mail: Sabine.Anthuber@med.uni-muenchen.de
Interessenkonflikte: keine deklariert
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 15/2008. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
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