Transkript
FORTBILDUNG
Chemotherapie-induzierte Übelkeit und Erbrechen
Antiemetika können meist Abhilfe schaffen
Übelkeit und Erbrechen gehören zu den unangenehms-
ten Begleiterscheinungen einer Chemotherapie. Durch
gezielte Auswahl geeigneter Antiemetika kann jedoch
sowohl eine akute als auch eine verzögerte Emese
verhindert werden.
NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE
Eine unzureichende Antiemese beeinträchtigt die funktionelle Aktivität und die Lebensqualität des Patienten und kann auch die Compliance beeinträchtigen. Die Wahrscheinlichkeit von Übelkeit und Erbrechen nach einer Chemotherapie hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zwei davon sind Alter und Geschlecht. Frauen und jüngere Menschen haben ein höheres Risiko. Aber auch die Erwartungshaltung spielt eine Rolle. Bei Patienten, die Übelkeit und Erbrechen befürchten, tritt beides auch häufiger auf. Dosis und Art des Zytostatikums sind ebenfalls relevant zur Einschätzung des Emese-Risikos. Von allen bekannten Prädiktoren ist die intrinsische Emetogenität des jeweiligen Chemotherapeutikums der dominante Faktor und sollte daher Hauptgesichtspunkt bei der Zusammenstellung der antiemetischen Therapie sein.
erreichen. Auf der Basis des Cisplatin-Modells wurde Erbrechen innerhalb von 24 Stunden nach einer Chemotherapie als akut und in grösserem zeitlichem Abstand als verzögert definiert. Zahlreiche weitere Substanzen, darunter Cyclophosphamid, Carboplatin und Anthrazykline, können ebenfalls eine verzögerte Emese verursachen. Bei manchen Patienten kommt es auch bereits vor der Gabe von Zytostatika zu Übelkeit und Erbrechen. Bei dieser antizipatorischen Emese handelt es sich um eine erlernte Reaktion bei Personen, die sich zuvor bereits nach einer Chemotherapie erbrechen mussten. Die Inzidenz der antizipatorischen Emese ist in den letzten Jahren aufgrund verbesserter emetischer Kontrollmöglichkeiten zurückgegangen.
Neurophysiologische Mechanismen Der Brechreflex ist bei vielen Tierarten vorhanden und dient als Schutzmechanismus gegen aufgenommene Toxine. Bei Menschen geht dem motorischen Reflex des Erbrechens häufig das unangenehme Gefühl der Übelkeit voraus. Das zentrale Nervensystem spielt eine wichtige Rolle in der Physiologie von Übelkeit und Erbrechen, da es als primäre Schaltstelle verschiedene emetische Stimuli empfängt und weiterleitet. Mittlerweile sind einige Mechanismen bekannt, die im Zusammenhang mit einer Chemotherapie zur Emese führen. Heute geht man davon aus, dass die Existenz eines anatomisch eigenständigen Brechzentrums im Gehirn eher unwahrscheinlich ist und stattdessen mehrere neuronale Bereiche in der Medulla zur Koordination des Brechreflexes interagieren. Die Nerven,
Emetogene Potenziale von Zytostatika Nach einem 2004 aktualisierten Schema werden Chemotherapeutika in vier emetogene Stufen, hoch, mittel, niedrig und minimal, klassifiziert. In der Tabelle sind gängige Substanzen entsprechend ihrem emetogenen Potenzial im Überblick aufgeführt.
Akute und verzögerte Emese Die erstmalige Unterscheidung akuter und verzögerter Übelkeit erfolgte mit der Einführung von Cisplatin. Ohne antiemetische Prophylaxe erleiden alle Patienten ein bis zwei Stunden nach Verabreichung des Medikaments Übelkeit und Erbrechen. Nach 18 bis 24 Stunden klingen die Symptome dann ab, um etwa 48 bis 72 Stunden später einen zweiten Höhepunkt zu
Merksätze
■ Die Emetogenität eines Chemotherapeutikums ist der wichtigste Prädiktor für Übelkeit und Erbrechen.
■ Bei der Auswahl geeigneter Antiemetika muss auch das Potenzial der Zytostatika zur Induzierung akuten oder verzögerten Erbrechens berücksichtigt werden.
■ Selektive 5-HT3-Antagonisten, Neurokinin-1-Antagonisten und Kortikosteroide sind derzeit die wirksamsten Antiemetika.
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CHEMOTHERAPIE-INDUZIERTE ÜBELKEIT UND ERBRECHEN
Tabelle: Emetogenes Potenzial intravenös verabreichter antineoplastischer Substanzen*
Stufe 1 minimales Risiko, < 10% Stufe 2 niedriges Risiko, 10–30% Stufe 3 mittleres Risiko, 31–90% Stufe 4 hohes Risiko, > 90%
■ Bevacizumab (Avastin®) ■ Bleomycin (Bleomycin®) ■ Busulfan (Busilvex®) ■ Cladribin (Leustatin®, Litak®) ■ Fludarabin (Fludara®
und Generikum) ■ Vinblastin (Velbe®) ■ Vincristin (Ocovin Liquid®
und Generika) ■ Vinorelbin (Navelbin®
und Generika)
■ Bortezomib (Velcade®)
■ Carboplatin (Paraplatin® und Generika)
■ Cetuximab (Erbitux®)
■ Cyclophosphamid (≤ 1,5 g/m2) (Endoxan®)
■ Cytarabin (≤ 100 mg/m2)
■ Cytarabin (> 1g/m2)
(Cytosar® und Generikum)
■ Daunorubicin (Cerubudine®)
■ Docetaxel (Taxotere®)
■ Doxorubicin (Adriblastin® und
■ Etoposid (Vepesid® und Generika) Generika)
■ Fluorouracil (Flouro-uracil
■ Epirubicin (Farmorubicin® und Generika)
Valeant® und Generika)
■ Idarubicin (Zavedos®)
■ Gemcitabin (Gemzar®)
■ Ifosfamid (Holoxan®)
■ Ixabepilone
■ Irinotecan (Campto®)
(nicht im AK der Schweiz)
■ Oxaliplatin (Eloxatin®)
■ Lapatinib (Tyverb®)
■ Methotrexat
(Methotrexat Wyeth® und Generika)
■ Mitomycin (Mitomycin-C Kyowa®)
■ Mitoxantron (Novanzton® und
Generikum)
■ Paclitaxel (Taxol® und Generika)
■ Pemetrexed (Alimta®)
■ Temsirolimus**
■ Topotecan (Hycamtin®)
■ Trastuzumab (Herceptin®)
■ Carmustin** ■ Cisplatin (Platinol® und Generika) ■ Cyclophosphamid (> 1,5 g/m2) ■ Dacarbazin (Dacin®) ■ Mechlorethamin** ■ Streptozocin (Zanosar®)
* Die Prozentzahlen geben das Risiko für Erbrechen ohne antiemetische Behandlung an ** In der Schweiz nicht erhältlich
die den Brechvorgang steuern, werden als zentraler Mustergenerator bezeichnet. Abdominelle vagale Afferenzen haben die grösste Bedeutung bei der Induzierung von Übelkeit und Erbrechen durch eine Chemotherapie. Auf den terminalen Enden der Afferenzen befinden sich der 5-Hydroxytryptamin-3- (5-HT3), der Neurokinin-1- und der Cholecystokinin-1-Rezeptor. Diese Rezeptoren liegen in unmittelbarer Nähe von enteroendokrinen Zellen des proximalen Dünndarms, die lokale Mediatoren wie 5-Hydroxytryptamin (5-HT), Substanz P und Cholecystokinin enthalten. Antineoplastische Substanzen stimulieren die enteroendokrinen Zellen zur Freisetzung der Mediatoren, die dann an die entsprechenden Rezeptoren auf den angrenzenden vagalen Fasern binden. Dies führt zu einem afferenten Stimulus, der im dorsalen Hirnstamm im Nucleus tractus solitarius endet und anschliessend den zentralen Mustergenerator aktiviert. Man nimmt an, dass dieser vagusabhängige Vorgang der Hauptmechanismus zur Auslösung der akuten Emese durch verschiedene Chemotherapeutika ist. Auch die Area postrema im vierten Ventrikel, die als Chemorezeptoren-Triggerzone bezeichnet wird, und Zentren des hö-
heren zentralen Nervensystems wie die Amygdala sind vermutlich an der Entstehung der Chemotherapie-induzierten Emese beteiligt.
Neurotransmitter Dopamin-2-Rezeptor-Antagonisten wie Phenothiazine und Butyrophenone waren die ersten Substanzen, die im Rahmen einer Chemotherapie antiemetische Wirksamkeit zeigten. Einer der wichtigsten Fortschritte in der Erforschung der Chemotherapie-induzierten Emese war jedoch die Entdeckung der besonderen Rolle des 5-Hydroxytryptophans. Der 5-HT3-Rezeptor scheint für die akute Phase der chemotherapieinduzierten Übelkeit der bedeutsamste zu sein. Selektive 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten sind daher derzeit die wirksamste Klasse der Antiemetika zur Prävention der akuten Emese. Weitere Neurotransmitter im Zusammenhang mit Chemotherapieinduziertem Erbrechen sind Substanz P (bindet an Neurokinin-1-Rezeptoren) und Endocannabinoide. Im Gegensatz zu Dopamin, 5-HT und Substanz P, die Übelkeit und Erbrechen hervorrufen, haben Endocannabinoide eine antiemetische Wirkung.
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FORTBILDUNG
Antiemetika mit hohem therapeutischem Wirksamkeits-Index Zur Prävention und Behandlung Chemotherapie-induzierter Übelkeit und Erbrechen stehen mittlerweile zahlreiche Substanzen zur Verfügung. Man unterscheidet Antiemetika mit hohem und niedrigem therapeutischem Wirksamkeits-Index. 5-HT3-Antagonisten haben in den Neunzigerjahren das Management von Chemotherapie-induzierter Übelkeit und Erbrechen revolutioniert und sind derzeit die wirksamsten Antiemetika zur Prävention der akuten Übelkeit. Gängige Medikamente dieser Gruppe sind Ondansetron (Zofran®/Zydis® und Generika), Granisetron (Kytril®), Dolasetron (Anzemet®), Tropiserton (Navoban®) und Palonosetron (Aloxi®). Palonosetron zeichnet sich im Vergleich zu den anderen Substanzen durch eine längere Halbwertszeit und eine signifikant höhere Bindungsaffinität zu 5-HT3 aus. Neurokinin-1-Rezeptorantagonisten wie Aprepitant (Emend®) repräsentieren die neueste Klasse der Antiemetika. Fosaprepitan (Emend®) ist ein wasserlösliches Prodrug, das 30 Minuten nach intravenöser Applikation in Aprepitant konvertiert wird. Aprepitant wird vorwiegend über Cytochrom P-450 3A4 verstoffwechselt. Dies muss bei gleichzeitiger Gabe von Kortikosteroiden oder in Verbindung mit zahlreichen Chemotherapeutika bedacht werden, die ebenfalls über diesen Weg metabolisiert werden. Kortikosteroide wie Dexamethason (Fortecortin® und Generika) oder Methylprednisolon (Medrol® und Generika) haben sich bereits vor mehr als 25 Jahren als wirksame Antiemetika erwiesen. In Kombination mit anderen Antiemetika, meist mit 5-HT3-Antagonisten, sind sie am effektivsten und wirken sowohl gegen akute als auch gegen verzögerte Emese.
Antiemetika mit niedrigem therapeutischem Index Zu den Antiemetika mit niedrigem therapeutischem Index gehören Metoclopramid (Primperan® und Generika), Butyrophenone, Phenothiazine, Cannabinoide und Olanzapin (Zyprexa®). Diese Medikamente haben im Vergleich zu den Substanzen mit hohem therapeutischem Index eine schlechtere Wirksamkeit und sind mit einem höheren Risiko für Nebenwirkungen verbunden.
Therapiemanagement Oberstes Ziel der Antiemese ist eine vollständige Verhinderung von Übelkeit und Erbrechen. Die optimale präventive Strategie gegen Chemotherapie-induzierte Übelkeit und Erbrechen basiert auf der Kenntnis der Emetogenität eines Chemotherapeutikums und seines Potenzials zur Induzierung einer akuten oder verzögerten Emese.
Eintages-Chemotherapie Chemotherapeutika zur Behandlung nicht hämatologischer und mancher hämatologischer Krebsarten werden meist intravenös im Verlauf eines Tages zugeführt.
Bei hohem emetischem Risiko, wie bei einer Cisplatin-basierten Chemotherapie, wird in aktuellen Richtlinien eine Kombination aus einem 5-HT3-Antagonisten, Dexamethason und Aprepitant vor der Gabe des Zytostatikums empfohlen. Bei der Behandlung mit einem Anthrazyklin und Cyclophosphamid besteht ein mittleres emetisches Risiko. Hier wird ebenfalls eine Kombination aus einem 5-HT3-Antagonisten, Dexamethason und Aprepitant vor der Chemotherapie empfohlen. Da jedoch zusätzlich ein Risiko für verzögerte Übelkeit besteht, wird Aprepitant auch an den Tagen 2 und 3 gegeben. Auch bei anderen Zytostatika mit mittlerem emetogenem Potenzial wird eine Kombination aus einem 5-HT3-Antagonisten und Dexamethason vor Beginn der Chemotherapie zugeführt. Eines der beiden Medikamente wird zusätzlich am zweiten und dritten Tag appliziert. Wird eine Chemotherapie mit geringem emetischem Risiko durchgeführt, empfehlen Richtlinien eine Einzeldosis Dexamethason oder eines Dopaminantagonisten vor Beginn der Behandlung. Bei einem minimalen emetischen Risiko ist keine routinemässige Emeseprophylaxe erforderlich.
Weitere Chemotherapieschemata
Manche Zytostatika werden an mehreren aufeinanderfolgen-
den Tagen zugeführt. Dabei wird das Medikament mit der
höchsten Emetogenität häufig am ersten Tag gegeben. Bei die-
sen Regimen ist eine eintägige antiemetische Behandlung aus-
reichend.
Bei konsekutiver Administration von Cisplatin oder hoch do-
sierten Substanzen im Zusammenhang mit einer hämatopoeti-
schen Stammzelltransplantation sind andere Strategien erfor-
derlich. Limitierte prospektive Daten weisen darauf hin, dass
eine tägliche Gabe von 5-HT3-Antagonisten und Dexamethason bei mehrtägigen Behandlungen mit hoch emetogenen Che-
motherapeutika am geeignetsten sind.
In den letzten Jahren werden immer häufiger orale antineo-
plastische Substanzen angewendet, meist in einem mehrtägi-
gen Therapieschema. Bislang gibt es dazu kaum prospektive
Daten, daher erfolgt die antiemetische Therapie weitgehend
empirisch.
Da standardisierte Methoden zur Erfassung einer Durch-
bruchemese fehlen, konnten bisher keine klinischen Studien
dazu durchgeführt werden. Auch hier erfolgt die Therapie vor-
wiegend empirisch, häufig mit Phenothiazinen oder Ben-
zodiazepinen.
Bei der antiemetischen Therapie steht meist das Erbrechen im
Vordergrund. Neue Strategien sind erforderlich, um auch die
Übelkeit ausreichend zu kontrollieren.
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Quelle: Hesketh Paul J: Chemotherapy-Induced Nausea and Vomiting, N Engl J Med, 358, 2008, 2482—2494.
Interessenkonflikte: Dr. Hesketh hat Beratungs- und Vortragshonorare von mehreren Pharmakonzernen erhalten.
Petra Stölting
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