Transkript
FORTBILDUNG
Vorurteile gegen Hörgeräte
Beratung bei Altersschwerhörigkeit
«Ein Hörgerät sieht hässlich aus, drückt, pfeift und
ist zudem noch teuer. Ausserdem hat das noch Zeit,
noch komme ich ja einigermassen zurecht!»
Bekommen Sie auch solche Antworten, wenn Sie ihren
altersschwerhörigen Patienten eine Hörhilfe ans
Herz legen wollen? Dann kann Ihnen dieser Artikel
gute Argumente liefern.
FRITZ MEYER
Die fast 70-jährige Ursula D. ist der Prototyp einer sportlichen und aktiven Seniorin. Ihr grösstes Handicap beim Golfspiel ist das Gehör. «Meine jüngere Spielpartnerin spricht immer so leise und ich verstehe sie dann nicht. Und mein Mann beschwert sich, dass ich den Fernseher immer lauter stelle. Andererseits sind mir sehr laute und schrille Töne oft unangenehm. Brauche ich vielleicht ein Hörgerät? Meine Mutter ist damit aber nie richtig klargekommen und hat es auch selten getragen. Doch vielleicht hat sie auch zu spät damit angefangen – diesen Fehler möchte ich nicht machen.» Bei der klinischen Untersuchung der Ohren finden sich keine Besonderheiten. Die im Sprechzimmer orientierend durchgeführte Sprachabstandsprüfung deckt das Problem auf: Umgangssprache wird auch in 4 m Entfernung gut gehört, doch die geflüsterten Zahlen versteht die Patientin erst bei einem Sprachabstand von 50 cm. Wie schon die Symptome vermuten liessen, leidet Ursula D. unter einer behandlungsbedürftigen, beidseitigen Schwerhörigkeit im Alter (Presbyakusis). Sie möchte rechtzeitig ein Hörgerät und ist damit eine absolute Ausnahme. Die Mehrzahl der betroffenen Patienten reagiert auf den Vorschlag einer Hörgeräteverordnung mit brüsker Ablehnung und die Vorurteile sind nahezu deckungsgleich.
Vorurteil 1: Moderne Hörgeräte sind viel zu teuer. Zugegeben, Hörgeräte sind nicht billig, doch die modernen Geräte leisten auch einiges. Der Geräuschalltag eines Menschen ist nämlich komplexer, als von Laien vermutet wird.
Schon ein einfacher Klang wird unter anderem durch Tonhöhe (Frequenz der Grundschwingung), Lautstärke und Klangfarbe (Anzahl und Amplitudenverhältnisse der Teilfrequenzen) charakterisiert, noch schwieriger ist es bei Sprache und Geräuschen, die sich aus vielen Klängen zusammensetzen. Tiefe Töne werden bei gleicher Lautstärke als subjektiv angenehmer wahrgenommen als sehr hohe Töne. Töne differenter Frequenz verlangen also unterschiedliche Verstärkungen. Wie die Wahrnehmung eines Klangs stattfindet und ob Umgebungsgeräusche verstärkt oder abgeschwächt werden müssen, hängt auch von dem individuellen Hörverlust des Betroffenen ab. Häufig klagen Presbyakusispatienten über eine erhebliche Lärmempfindlichkeit bei bestimmten Geräuschen. Dies hängt damit zusammen, dass in den hauptsächlich betroffenen Frequenzen der Abstand zwischen dem eben noch hörbaren und dem schon schmerzhaft lauten Ton (Dynamikbreite) deutlich verkleinert ist. Eine zu laute Verstärkung in der vom Hörverlust betroffenen Frequenz wird als unangenehm empfunden, was in der Folge zu einem weiteren Verständnisrückgang führt. Andererseits müssen durch das Hörgerät Störgeräusche unterdrückt werden, die eine noch nutzbare Resthörfläche des Betroffenen vertäuben: Der Nutzschall muss vom Störschall getrennt werden. Diese Aspekte skizzieren nur einige Probleme, die von einem Hörgerät in Sekundenbruchteilen anwenderbezogen bearbeitet werden müssen. Verständlicherweise können dies nur hoch entwickelte Regel- und Rechnersysteme leisten, die mit den Transistorhörgeräten früherer Provenienz (Abbildung 1) ausser dem Namen keinerlei Gemeinsamkeiten mehr haben.
Merksätze
■ Eine Presbyakusis nehmen Patienten erst im fortgeschrittenen Stadium wahr, weil am Anfang Umgangssprache noch gut verstanden wird.
■ Moderne Hörgeräte können unter anderem die Lärmempfindlichkeit bei bestimmten Frequenzen berücksichtigen und Störgeräusche unterdrücken.
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FORTBILDUNG
Moderne digitale Hörsysteme können bis zu 150 Millionen Rechenoperationen pro Sekunde ausführen. Doch dieser Fortschritt hat auch seinen Preis. Während einfachere Geräte bei beidseitiger Versorgung schon für etwa 800 Euro zu haben sind, gibt es für leistungsfähigere Systeme nach oben hin kaum Grenzen. In der Anpassungsphase erhält der Patient jedoch mehrere Geräte leihweise zur Erprobung, sodass er selbst feststellen kann, womit er in seinem Lebensumfeld am besten hört und zurechtkommt. Zusammen mit einem verständnisvollen Hörgeräteakustiker sollte sich dann immer eine Lösung erarbeiten lassen, die auch die finanziellen Grenzen des Patienten nicht überfordert.
Vorurteil 2: Ein Hörgerät will ich erst, wenn ich fast taub bin. Eine Innenohrschwerhörigkeit vom Typ der Presbyakusis entwickelt sich in der Regel über Jahre schleichend. Sie wird erst im fortgeschrittenen Stadium wahrgenommen, weil anfangs überwiegend die hohen Frequenzen betroffen sind. Da diese aber in erster Linie für die hohen Konsonanten (Flüstersprache) lautbildend sind, Umgangssprache aber überwiegend aus den mittel- und niederfrequenten Hauptkonsonanten und Vokal-
formanten gebildet wird, ist der Alltag eines Altersschwerhörigen anfangs nur in Teilbereichen gestört. Allerdings wird die Fähigkeit zur Sprachwahrnehmung und -verarbeitung im Gehirn fortschreitend verringert, wenn die zentrale Hörbahn über viele Monate oder sogar Jahre nicht adäquat stimuliert wurde. Praktische Folgerung: Hörgeräte sollten nicht nur ständig getragen, sondern auch rechtzeitig verordnet werden.
Vorurteil 3: Ein Hörgerät für ein Ohr reicht doch. Bei Senioren in der Hausarztpraxis geht es in der Regel um das Problem der meist nahezu symmetrischen Presbyakusis (1), die praktisch immer binaural versorgt werden sollte. Richtungs- und räumliches Hören sind tragende Elemente der menschlichen Orientierung, sodass Schwerhörige hinsichtlich Lokalisation und Diskriminierung akustischer Informationen vor allem in lauter Umgebung stark eingeschränkt sind. Bei einer hochwertigen binauralen Hörgeräteversorgung stimmen sich die Geräte durch Datenaustausch untereinander ab, können Störschall unterdrücken und dadurch natürliches Hören simulieren. Aufgrund dieser Fakten ist eine beidohrige Versorgung logisch, wenn beide Gehörorgane von Schwerhörigkeit betroffen sind.
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chronischen Ekzemen des Gehörgangs oder
einer verstärkten Ohrschmalzbildung leidet,
sollte eine HdO-Versorgung bevorzugen. Denn
IO-Geräte dichten den Gehörgang relativ stark
ab (Abbildung 2). Weil sie Schallaufnahme und
Schallabgabe in einem Gerät vereinen, müssen
sie bündig im Gehörgang platziert werden, um
eine akustische Rückkopplung zu verhindern.
Bei HdO-Geräten kann das Ohrpassstück (Oto-
plastik) offener und damit gehörgangsfreund-
licher gestaltet werden, da «Rückkopplungsma-
nager» im Gerät eine drohende Rückkopplung
erkennen und eliminieren können. Das von Pa-
tienten früher häufig als stigmatisierend emp-
fundene Rückkopplungspfeifen der Geräte ist
damit weitgehend unterbunden.
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Dr. med. Fritz Meyer
Abbildung 1: Ein Klassiker — Patient mit Transistorhörgerät.
Abbildung 2: Im Gehörgang platziertes Hörgerät.
Facharzt für Allgemeinmedizin – Sportmedizin
Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde
Vorurteil 4: Hörgeräte sind auffällig, drücken im
Zwinger 6
Ohr und pfeifen gerne!
D-86732 Oettingen
Moderne Hörsysteme gibt es als Hinter-dem-Ohr- (Hd0) und
E-Mail: praxis.dres.meyer@gmx.de
Im-Ohr-Systeme (IO). HdO-Geräte stehen in der Regel für
leichte, mittlere und starke Hörverluste zur Verfügung. IO-Geräte sind eher für leichte bis mittlere Hörminderungen geeignet und können in drei Variationen getragen werden: kaum sichtbar im Gehörgang, am Eingang des Gehörgangs oder in der
Hesse G, Laubert A: Hörminderung im Alter — Ausprägung und Lokalisation. Dtsch Ärztebl 2005, 102: A2864—2868 (Heft 42).
Interessenkonflikte: keine
Ohrmuschel. Bei IO-Geräten ist die Handhabung für Senioren deutlich schwieriger als bei HdO-Geräten. Auch wer unter
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 1/2009. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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