Transkript
FORTBILDUNG
Schmerztherapie
Besonderheiten beim alten Patienten
Eine adäquate schmerztherapeutische Versorgung von geriatrischen Patienten stellt in der täglichen Praxis oft eine besondere Herausforderung dar. Dabei sind gerade bei diesem Patientenkollektiv sehr gute Behandlungserfolge mit ausgesprochen hoher Patientenzufriedenheit zu erreichen, wenn man die Grundregeln der Schmerzdiagnostik und -therapie konsequent beachtet und anwendet.
Auswahl der jeweiligen Behandlungsoption nicht nur die wissenschaftliche Evidenz und die Kosten bei vergleichbarer Wirksamkeit zu berücksichtigen, sondern auch die Einstellung des Patienten und von dessen sozialem Umfeld zum Therapieverfahren.
Schmerzdiagnostik Nozizeptorschmerzen Durch mechanische, thermische, chemische oder elektrische Stimulation an den Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) vermittelte Empfindungen nennt man Nozizeptorschmerzen. Er ist somit Folge eines akuten Schmerzreizes und in nahezu allen Geweben auslösbar. Nozizeptorschmerzen sind gut lokalisierbar und werden oft als dumpf-bohrend bis stechend-spitz beschrieben.
MARCUS SCHLEY UND CHRISTOPH KONRAD
Grundlage einer effizienten Schmerztherapie bei geriatrischen Patienten ist die Diagnostik der auslösenden Ursache beziehungsweise des schmerzauslösenden Mechanismus. Was die Therapie angeht, so sollte diese aus einer Kombination von medikamentösen Therapien mit Krankengymnastik und physikalischen Massnahmen (z.B. Wärme- oder Kryotherapie) bestehen (Tabelle 1). Bei dauerhaften Ruheschmerzen ist die Etablierung eines lang wirksamen Analgetikums (z.B. retardierte Opioide) als dauerhafte Basismedikation angezeigt. Bei sogenannten Durchbruchschmerzen sollte dem Patienten zusätzlich ein schnell wirksames Analgetikum mit kurzer Wirkdauer zur Verfügung gestellt werden (Bedarfsmedikation). Insbesondere zu Beginn einer umfassenden schmerztherapeutischen Versorgung sollten alle Behandlungsmöglichkeiten und die Themen Sucht und Abhängigkeit mit dem Patienten und dessen Familie besprochen werden (Compliance).
Neuropathische Schmerzen Sie entstehen als Folge der Schädigung (traumatisch, thermisch, chemisch, humoral, viral) von peripheren oder zentralen Strukturen des Nervensystems. Im Formenkreis der degenerativen Erkrankungen steht als Ursache im fortgeschrittenen Patientenalter oft die Spinalkanalstenose an erster Stelle. In der Onkologie finden sich oft neuropathische Schmerzen aufgrund von Nervenkompression oder Nerveninfiltration durch den Tumor selbst. Diese Schmerzen werden subjektiv häufig als brennend, einschiessend oder lanzinierend beschrieben. Werden Nerven aufgrund der Tumorinfiltration oder bei einer Amputation von Teilen der oberen oder unteren Extremität komplett durchtrennt, spricht man von einem Deafferenzierungsbeziehungsweise Phantom- und/oder Stumpfschmerz.
Merksätze
Besonderheiten der geriatrischen Schmerztherapie Eine bestehende Multimorbidität und die möglichen Medikamenteninteraktionen beziehungsweise -wechselwirkungen verhindern nicht selten eine ausreichende Dosierung der Analgetika. Als Grundprinzip für die Pharmakotherapie im Alter gilt «start low, go slow». Dies trifft auf alle gebräuchlichen Analgetika in der Schmerztherapie zu. Ausserdem sind bei der
■ Bei ständig vorhandenen Ruheschmerzen sollte ein lang wirksames Analgetikum als dauerhafte Basismedikation verabreicht werden.
■ Bei der medikamentösen Schmerztherapie sollte man bei geriatrischen Patienten mit 50 Prozent der normalen Erwachsenendosis starten.
380 ARS MEDICI 9 ■ 2009
FORTBILDUNG
Abbildung 1: Ätiologie tumorunabhängiger und therapiebedingter Schmerzen.
Abbildung 2: Ätiologie des Tumorschmerzes.
Mixed-Pain-Syndrom Klassisches Beispiel für ein Mixed-Pain-Syndrom ist das Postnukleotomiesyndrom. Etwa 10 Prozent der Patienten leiden nach dem Eingriff unter dumpfen Schmerzen im Bereich des Operationsgebiets (nozizeptiv) und gleichzeitig unter brennenden und/oder elektrisierenden, in die Extremitäten ausstrahlenden Schmerzen (neuropathisch).
Allgemeine Richtlinien der Schmerztherapie Die Leitsymptomatik sowie anatomische und neurophysiologische Befunde weisen in vielen Fällen schon auf die Ursache der Schmerzen hin. Hilfreich kann es zudem sein, wenn man sich unter Zuhilfenahme der «T4-Regel» die häufigsten Kategorien der Schmerzätiologie vergegenwärtigt: tumorunabhängig, tumorabhängig, therapiebedingt, tumorassoziiert (Abbildungen 1 und 2). Das erstmals im Jahr 1986 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedete Konzept zur Behandlung von chronischen Schmerzen hat in seinen Kernaussagen bis heute Gültigkeit (Abbildung 3). Insbesondere soll derjenigen Applikationsform von Analgetika der Vorzug gegeben werden, die die grösstmögliche Unabhängigkeit des geriatrischen Patienten darstellt und die wenigsten Einschränkungen verursacht. Das Prinzip «Analgetikagabe erst bei Schmerz» ist abzulehnen und sollte durch eine «Dauermedikation als Basistherapie zuzüglich Bedarfsmedikation bei Durchbruchschmerzen» ersetzt werden. Es sollte nicht nur dem spezialisierten Schmerztherapeuten überlassen werden, hochpotente Analgetika rechtzeitig und in ausreichender Dosierung vorurteilsfrei einzusetzen. Für eine nicht optimale, schmerztherapeutische Versorgung lassen sich unterschiedliche Ursachen feststellen (Tabelle 2).
Bedarfsmedikation Symptomkontrolle
Adjuvanzien supportiv/integrativ
Opioide stark
Stufe 3
Morphin Oxycodon Hydromorphon Fentanyl Bupenorphin Methadon
p.o. s.c. i.v. intrathekal epidural rektal
Opioide mittelstark
Stufe 2
Tramadol Tilidin
Dihydrocodein Codein
Stufe 1
Paracetamol Metamizol Ibuprofen Naproxen
NichtOpioide
Grundversorgung
Koanalgetika
p.o. i.v. rektal
p.o. i.v.
p.o. i.v. rektal
medizinisch-psychologische Führung
Abbildung 3: WHO-Stufenplan
Schmerztherapie im Alter Die Grundlage jeder schmerztherapeutischen Strategie bildet fast ausschliesslich die pharmakologische Intervention. Als Faustregel empfiehlt es sich, mit 50 Prozent der normalen Erwachsenendosis zu beginnen. Bei nicht ausreichender Wirksamkeit sollte die Dosis erst nach der Einnahme von drei bis fünf Einzeldosen erhöht werden. Bei guter primärer Verträglichkeit kann man zügig und regelmässig eine Dosisanpassung in kleinen Schritten vornehmen (Tabelle 3).
Nichtopioide Metamizol (Novalgin® oder Generikum) bis 4 g/Tag; Vorteile: gute Verträglichkeit bei oraler Gabe, keine gastrointestinale Blutung; Nachteil: Blutbildkontrollen erforderlich (Agranulozytose).
ARS MEDICI 9 ■ 2009 381
FORTBILDUNG
Tabelle 1: Grundregeln der Schmerztherapie
■ Differenzialdiagnostik: Progress der Grunderkrankung oder Zweiterkrankung (neue Symptome)
■ Behandlung auf Grundlage des Pathomechanismus der schmerzverursachenden Erkrankung
■ Analgetikadauermedikation immer nach einem Basis-/Bedarfsschema
■ maximal mögliche Ausreizung nicht sedierender Koanalgetika (Nichtopioide)
■ Einsatz niedrig dosierter Antidepressiva zur Schmerzdistanzierung ■ Behandlung von Begleitsymptomen der Grunderkrankung
(Erbrechen, Obstipation, Angst, Unruhe) ■ Opioidrotation bei Opioidunverträglichkeit
Tabelle 2: Ursachen der schmerztherapeutischen Tabelle 2: Minderversorgung
■ Schmerzdiagnose unkorrekt ■ Schmerzintensität unterschätzt ■ Schmerzqualität unberücksichtigt ■ Dosierungsintervall zu lang ■ Dosierung zu niedrig ■ Ablehnung starker Opioide ■ Angst vor Abhängigkeit, Toleranz und Entzug der Opioide ■ Betäubungsmittelverordnung zu aufwendig ■ Verzicht auf ein Koanalgetikum ■ Verzicht auf die Kombination von synergistisch wirkenden
Analgetika ■ spezielles Verfahren nicht bedacht
Paracetamol (Dafalgan® u.v.a.) bis 4 g/Tag; Vorteil: keine Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz. Ibuprofen bis 1200 mg/Tag; Vorteil: antiphlogistischer Effekt; Nachteil: gastrointestinale NW sind dosisabhängig! Naproxen, Diclofenac, Indometacin und Meloxicam erst nach kritischer Würdigung des Nebenwirkungsprofils (Magenulzera, Leber- und Niereninsuffizienz). Amitriptylin (Saroten® retard, Tryptizol®, bis 150 mg/Tag); Vorteile: schmerzdistanzierend, sedierende Wirkung ist schlafanstossend; Nachteile: EKG-Kontrolle (AV-Block), Glaukombildung, Gewichtszunahme, Miktionsstörungen. Dexamethason (Fortecortin® oder Generika) bei Nerveninfiltration (12 mg/Tag), Leberkapselspannung (8 mg/Tag), Hirndrucksymptomatik (100 mg/Tag) für 14 Tage, dann schrittweise Reduktion um 2 mg/Tag bis Erhaltungsdosis von 4 mg/Tag
erreicht ist; Vorteile: dämpft zentrales und medikamentös bedingtes Erbrechen, Appetitanregung, Stimmungsaufhellung; Nachteile: Gastroduodenalulzera, Immunsuppression (Infekte), Blutzuckerspiegelerhöhung, Induktion von Osteoporose. Tetrahydrocannabinol (z.B. Dronabinol® bis 15 mg/Tag [nicht im Schweizer «Arzneimittel-Kompendium»]), Vorteile: antiemetisch bei chemotherapieinduzierter Übelkeit und Erbrechen, synergistischer Effekt mit Opioiden; Nachteile: Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Stimmungsveränderungen (sehr häufig), Halluzinationen, Paranoia (häufig).
Opioide Hydromorphon (Palladon® retard, Jurnista®); Vorteile: geringe Plasmaproteinbindung, Metabolisierung ist Zytochrom-P-450unabhängig, Hauptmetabolit wird mit dem Harn ausgeschieden, Übelkeit, Sedierung und Obstipation bei Hydromorphon zwei- bis dreimal seltener als bei unretardiertem Morphin (grössere therapeutische Breite), keine Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz; Nachteile: Wirkungseintritt erst nach Stunden zu erwarten, Obstipationsprophylaxe notwendig. Tilidin/Naloxon (z.B. Valoron® N retard bis 600 mg/Tag [diese Kombination ist nicht im Kompendium]); Vorteil: keine spasmogene Wirkung auf Magen-, Galle-, Darmtrakt; Nachteile: Metabolisierung in der Leber zum analgetisch wirksamen Metaboliten, keine Kombination mit anderen Opioiden sinnvoll (Naloxon). Oxycodon/Naloxon (z.B. Targin® [diese Kombination ist nicht im Kompendium]); Vorteil: Naloxonanteil in der fixen Kombination mit Oxycodon als Prophylaxe einer opioidinduzierten Obstipation; Nachteile: derzeit nur bis maximal in 20-mg/ 10-mg-Dosierungen verfügbar, bei höheren Dosierungen Ausweichen auf Oxycontin® (Oxycodon) notwendig, dann Obstipationsprophylaxe zwingend notwendig. Tramadol (Tramal® oder Generika) bis 400 mg/Tag; Vorteil: geringe spasmogene Wirkung auf Magen-, Galle-, Darmtrakt; Nachteile: sehr häufig Übelkeit, Erbrechen, selten Sedierung.
Transdermale Systeme Sie sind bei Patienten mit chronischen Schmerzen indiziert, die nicht in der Lage sind, oral Medikamente einzunehmen (z.B. HNO-Tumor, reaktives Erbrechen), und bei denen Opioidspit-
Tabelle 3: Schmerztherapeutisches Vorgehen Tabelle 3: im Alter
■ Grundprinzip beachten: «start low, go slow» ■ Anfangsdosierung: mit 50 Prozent der Erwachsenendosis beginnen ■ Dosiserhöhung erst nach drei bis fünf Einzeldosen ■ bei guter Verträglichkeit: Dosisanpassung regelmässig und in
kleinen Schritten ■ multimodale Schmerztherapie anstreben
382 ARS MEDICI 9 ■ 2009
FORTBILDUNG
zenkonzentrationen vermieden beziehungsweise der FirstPass-Effekt der Leber umgangen werden soll. Buprenorphin (Transtec®) bis 4 mg/Tag; Vorteile: Matrixpflastersystem ermöglicht Zerschneiden des Pflasters, überwiegende Ausscheidung über Leber und Galle, daher besonders geeignet für Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion, Sucht- und Abhängigkeitspotenzial wegen langer Rezeptorbindung sehr gering; Nachteile: Obstipationsprophylaxe notwendig, sehr lange Anschlagszeit, Ceilingeffekt bei Dosierungen über 4 mg/ Tag. Fentanyl-TTS (Durogesic® Matrix oder Generkika); Vorteil: lipophile Eigenschaft des Fentanyls ermöglicht die transdermale Resorption, Nachteil: Metabolisierung über die Leber zu Morphin-3-Glucuronid (Übelkeit und Erbrechen) und Morphin-6Glucuronid (selbst analgetisch), häufige und gefürchtete Nebenwirkungen (dosis- und stoffwechselabhängig): Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Blasenentleerungsstörungen, Atemdepression, Mundtrockenheit, Spasmen der Gallengänge, orthostatische Regulationsstörungen, Pruritus, Cave: Pflasterallergie.
Dosisanpassung bei eingeschränkter Nierenfunktion notwendig (besonders bei Patienten über 65 Jahre). Amitriptylin: siehe oben. Antikonvulsiva (z.B. Carbamazepin und Phenytoin) sind weitgehend von Pregabalin/Gabapentin wegen des günstigeren Nebenwirkungsprofils abgelöst worden.
Phytotherapie
Weidenrinde (Assalix® Dragees bis 787 mg/Tag): Cave: Über-
empfindlichkeit gegen Salicylate.
Teufelskralle (HarpagoMed® bis 960 mg/Tag).
■
Literatur über www.allgemeinarzt-online.de/downloads/literaturliste.html
Dr. med. Marcus Schley Klinik für Anästhesiologie und
Operative Intensivmedizin Universität Heidelberg, D-68167 Mannheim
Neuropathische Schmerztherapie Gabapentin (Neurontin® oder Generika bis 3600 mg/Tag ), Vorteil: kaum Interaktionen; Nachteil: lange Eindosierungszeit bis Wirkungseintritt. Pregabalin (Lyrica® bis 600 mg/Tag); Vorteil: schnellerer Wirkungseintritt (im Vergleich zu Gabapentin), Nachteile: Benommenheit und Konzentrationsdefizite nicht selten, Cave: Schläfrigkeit, Reduktion des Reaktionsvermögens (Sturzgefahr),
Prof. Dr. med. Christoph J. Konrad Institut für Anästhesie, chir. Intensivmedizin und
Schmerzmedizin Kantonsspital Luzern, CH-6000 Luzern 16
Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 10/2008. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
BEKANNTMACHUNG
Offizieller Weiter- und Fortbildungskurs der SGIM vom 18.—19. Juni 2009
Schnittstellen in der Gerinnungshemmung — Drehscheibe Internist
18 interaktive Workshops
zum Beispiel: ■ Stroke — wie weiter: ASS, Clopidrogel, Dipyridamol oder
OAK? Hakan Sarikaya, Zürich ■ Niereninsuffizienz und niedermolekulare Heparine —
ein Problem? Denes Kiss, Liestal ■ Plavix® – Operieren ein Problem? Rolf Schüpbach, Zürich ■ Interaktionen, die ich in der Praxis wissen muss bei OAK
Natascia Corti, Zürich ■ Tumor und Thrombose: was ist zu beachten?
Christian Taverna, Münsterlingen ■ Thrombozytopenie in der Praxis: woran muss ich denken?
Jeroen Goede, Zürich ■ Blutungen im Alltag: was muss der Praktiker wissen?
Brigitte Brand, Zürich
5 State of the Art Lectures
■ Thrombozytenaggregation, Jürg Beer, Baden ■ Neue Medikamente, Esther Bächli, Uster ■ Orale Antikoagulation, Karin Fattinger, Bern ■ Die Rolle der D-Dimere in der Klinik, Vladimir Kaplan, Zürich ■ Plavix® und Aspirin®: wie gehe ich vor bei einer nicht kardia-
len Operation? Franz Eberli, Zürich
Anerkennung: 10 Credits SGIM / volle Fortbildungsdauer anrechenbar SGAM Tagungspräsidentin: PD Dr. med. Esther Bächli, Uster Tagungsort: Seedamm Plaza, Pfäffikon SZ Informationen und Anmeldung: www.congress-info.ch/sgimfbk2009
384 ARS MEDICI 9 ■ 2009