Transkript
FORTBILDUNG
Jodmangelstörungen und Jodzufuhr
Wie gefährlich ist die Jodierung?
Weltweit haben zwei Milliarden Menschen eine unge-
nügende Jodaufnahme, die individuell schädliche,
aber auch auf Bevölkerungsebene sozial und wirt-
schaftlich ungünstige Auswirkungen hat. Die Salz-
jodierung erscheint unverändert als bester Weg,
dem entgegenzuwirken, da die Vorteile die Nachteile
bei Weitem überwiegen.
THE LANCET
Jodversorgung und -bedarf Jod ist ein essenzieller Bestandteil der Schilddrüsenhormone. Das Element kommt weltweit zwar verbreitet vor, ist aber ungleich verteilt. Am meisten Jod ist in den Weltmeeren enthalten, die Jodidionen oxidieren im Wasser zu elementarem Jod, das in die Atmosphäre verdampft und mit dem Regen zur Erdoberfläche gelangt. Gegenden mit geringem Jodgehalt im Boden und daher auch in der Nahrung liegen vor allem im Innern von Kontinenten, in Berg- oder Überschwemmungsgebieten, aber auch in einigen Küstenregionen. In den USA und Europa sind Milch und Brot die grössten «natürlichen» Jodquellen in der Ernährung. Mit jodiertem Salz hergestellte Nahrungsmittel verlieren durch Kochen, Backen oder Konservierung kaum an Jod. Zusätzliche Jodquellen sind auch jodhaltige Verbindungen, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Nach Messungen in direkter Nahrungsmittelanalyse liegt die tägliche Jodaufnahme in der Schweiz bei etwa 140 µg pro Tag und bei 100 bis 180 µg pro Tag in Libyen, schreiben Michael B. Zimmermann vom Labor für Human-Ernährung am Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften der ETH Zürich und Mitautoren in einer Übersicht in «The Lancet», die hier auszugsweise referiert werden soll. Jod wird zu über 90 Prozent in Magen und Duodenum resorbiert. Jodat (JO3-), das verbreitet zur Kochsalzjodierung eingesetzt wird, wird im Darm zu Jodid (J-) reduziert und in dieser Form aufgenommen. Die Jodaufnahme in die Schilddrüse
ist abhängig vom Jodangebot: Bei adäquater Zufuhr werden 10 Prozent oder weniger aufgenommen, bei chronischem Jodmangel sind es hingegen bis über 80 Prozent. Während der Stillzeit erfolgt in den Milchdrüsen eine Anreicherung von Jod zur Sicherstellung der Versorgung des Säuglings über die Muttermilch. Der Körper eines Erwachsenen enthält 15 bis 20 Milligramm Jod, wovon 70 bis 80 Prozent in den Schilddrüsen enthalten sind und dort etwa zwei Drittel des Gewichts von Thyroxin (T4) beziehungsweise Trijodthyronin (T3) ausmachen. Der Turnover der Schilddrüsenhormone ist langsam und liegt für T4 bei 5 Tagen, für T3 bei 1,5 bis 3 Tagen. Das in den Hormonen eingebaute Jod kann nach der Sekretion ins Blut wieder in den Plasmapool gelangen und erneut von der Schilddrüse aufgenommen werden, mehr als 90 Prozent des exogen zugeführten Jods werden schliesslich mit dem Urin ausgeschieden. Ein Jodmangel ist die Hauptursache für endemische Strumen, aber es sind auch weitere Faktoren bekannt, welche den Schilddrüsenmetabolismus beeinflussen und einen Jodmangel verstärken können (Tabelle 1).
Merksätze
■ Die Jodaufnahme in die Schilddrüse ist abhängig vom Jodangebot: Bei adäquater Zufuhr werden 10 Prozent oder weniger aufgenommen, bei chronischem Jodmangel sind es hingegen bis über 80 Prozent.
■ In Ländern mit mangelhafter Jodversorgung sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene durch teilweise versteckte Defizite bei Schulungs- und Arbeitsfähigkeit betroffen, was sich zu ernsthaften Störungen bei der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung summieren kann.
■ In fast allen Gegenden, die von einem natürlichen Jodmangel betroffen sind, ist die Salzjodierung die effektivste Massnahme.
■ Insgesamt überwiegen die substanziellen Risiken eines Jodmangels wie Schwangerschaftsverluste, Strumen und geistige Behinderung die kleinen Risiken einer überschiessenden Jodzufuhr durch Salzjodierung bei Weitem.
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Tabelle 1: Strumafördernde Faktoren und ihre Mechanismen
Nahrungsmittel Kassava, Lima-Bohnen, Leinsamen, Sorghum, Süsskartoffeln Kreuzblütler-Gemüse (z.B. alle Kohlsorten, Rüben, Raps) Soja, Hirse Industrielle Schadstoffe Perchlorat
Andere (z.B. Disulfide aus Kohleprozessen) Rauchen
Ernährungsbestandteile Selen-Defizit
Eisenmangel
Vitamin-A-Mangel
Enthalten zyanogene Glukoside. Diese werden zu Thiozyanaten metabolisiert, die mit der Jodaufnahme in die Schilddrüse konkurrieren. Enthalten Glukosinolate, deren Metaboliten mit der Jodaufnahme in die Schilddrüse konkurrieren. Flavonoide beeinträchtigen die thyreoidale Peroxidaseaktivität.
Kompetitiver Inhibitor des Natrium/Jodid-Symporters. Vermindert den Jodtransport in die Schilddrüse. Vermindern die thyreoidale Jodaufnahme. Wichtiger Strumaverursacher. Rauchen während des Stillens ist assoziiert mit einer geringeren Jodkonzentration in der Muttermilch.
Anreicherung von Peroxiden könnte die Schilddrüse schädigen. Dejodinasemangel beeinträchtigt die Schilddrüsenhormonsynthese. Vermindert die hämabhängige Thyreoperoxidaseaktivität und könnte die Wirksamkeit der Jodprophylaxe beeinträchtigen. Erhöht die TSH-Stimulation und Kropfbildung durch verminderte Vitamin-A-vermittelte Unterdrückung des TSH-beta-Gens in der Hypophyse.
Für die tägliche Jodaufnahme bestehen Empfehlungen aus verschiedenen Quellen (Tabelle 2). Während der Schwangerschaft ist der Bedarf erhöht, da die mütterliche T4-Produktion gesteigert ist und Hormone sowie Jod zum Fetus transferiert werden müssen und vermutlich auch die renale Jodclearance gesteigert ist.
Jodmangel und seine Folgen Ein Jodmangel hat mannigfache ungünstige Auswirkungen auf Wachstum und Entwicklung von Menschen und Tieren (Kasten). Häufigstes Zeichen einer ungenügenden Jodversorgung ist die Ausbildung einer Struma. Mit irreversiblen Schäden in der Hirnentwicklung ist besonders der Fetus gefährdet. In Ländern mit mangelhafter Jodversorgung sind aber auch Kinder, Jugendliche und Erwachsene durch teilweise versteckte Defizite bei Schulungs- und Arbeitsfähigkeit betroffen, was sich zu ernsthaften Störungen bei der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung summieren kann. Zusammen mit wenigen anderen Ländern in Skandinavien, mit Australien und den USA war die Schweiz schon vor 1990 ausreichend mit Jod versorgt. Inzwischen ist aber auch in vielen weiteren Gegenden durch Einführung von jodiertem Salz die Jodunterversorgung sehr deutlich zurückgegegangen. Immer noch gibt es jedoch 47 Länder mit nicht adäquater Jodversorgung, vor allem in Südasien und im subsaharischen Afrika. Messungen der Jodausscheidung im Urin ergeben sehr uneinheitliche Bilder, zeigen aber auch, dass einmal Erreichtes
auch wieder zurückfallen kann. Ferner muss durch wiederholte Bestimmungen überwacht werden, dass von der Bevölkerung nicht zu viel Jod aufgenommen wird. Zur Abschätzung der Jodversorgung werden vier Messwerte empfohlen, die sich ergänzen: Jodkonzentration im Urin, Strumahäufigkeit, Serumspiegel des thyreoidastimulierenden Hormons (TSH) sowie Serum-Thyreoglobulin. In fast allen Gegenden, die von einem natürlichen Jodmangel betroffen sind, ist die Salzjodierung die effektivste Massnahme, schreiben Michael B. Zimmermann und Mitautoren. Salz hat den Vorteil, wirklich von allen konsumiert zu werden, und diese Aufnahme unterliegt keinen saisonalen Schwankungen. Zudem ist sie technisch einfach durchzuführen und verändert die Speisen nicht wahrnehmbar. Verwendung finden vor allem Kaliumjodat und Kaliumjodid, wobei Ersteres eine bessere Stabilität und Lagerungsfähigkeit aufweist. Im Rahmen von Salzjodierungsprogrammen wird die universelle Jodierung, das heisst die Anreicherung von Kochsalz sowie in der Nahrungsmittelindustrie und Viehzucht verwendetem Salz angestrebt. Weltweit werden die jährlichen Kosten der Salzjodierung auf 0,02 bis 0,05 US-Dollar pro Kind geschätzt. Die Kosten für die Verhinderung eines Kindstodes sollen bei 1000 US-Dollar liegen sowie diejenigen für den Gewinn eines behinderungsadjustierten Lebensjahrs 34 bis 36 US-Dollar betragen. In der Schweiz und auch in den USA ist auch jodhaltige Milch eine zusätzliche Quelle, da jodhaltige Desinfizienzien in der Milchindustrie Anwendung finden.
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Tabelle 2: Empfohlene Jodaufnahme in Mikrogramm pro Tag für verschiedene Alters- oder Bevölkerungsgruppen
US Institute of Medicine Säuglinge 10—12 Monate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110—130 Kinder 1—8 Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Kinder 9—13 Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Kinder ≥ 14 Jahre und Erwachsene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Schwangere Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Stillende Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
WHO-Empfehlungen Kinder 0—5 Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Kinder 6—12 Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Kinder ≥ 12 Jahre und Erwachsene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Schwangere Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Stillende Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
abgegeben (Tabelle 3), warnen aber gleichzeitig, dass Individuen mit mangelhafter Jodversorgung auf geringere Mengen ungünstig reagieren können. Eine Steigerung der Jodzufuhr kann in Bevölkerungen mit chronischer Unterversorgung zur Provokation einer jodinduzierten Hyperthyreose führen. Dies wurde in verschiedenen Ländern mit universellen Salzjodierungsprogrammen, etwa in Simbabwe oder in der Demokratischen Republik Kongo, beobachtet. Betroffen sind vor allem ältere Erwachsene mit seit Langem bestehender knotiger Struma, bei denen autonome Knoten unter rascher Steigerung der Jodeinnahme Schilddrüsenhormone im Übermass sezernieren. Die Symptome der jodinduzierten Hyperthyreose sind fast immer vorübergehend. Dennoch können solche Schilddrüsenüberfunktionen bei vorbestehender Herzerkrankung gefährlich, ja sogar tödlich sein. In verschiedenen Ländern sind die Effekte einer gesteigerten Jodzufuhr eingehender untersucht worden. In China führte hohe Jodzufuhr (gemessen an gesteigerter Jodausscheidung im Urin) unter prospektiver Beobachtung nicht zu höheren Raten von klinisch manifester Hypo- oder Hyperthyreose, liess aber die kumulative Inzidenz von subklinischer Hypothyreose und Autoimmunthyreoiditis ansteigen. Während der ersten
Tabelle 3: Tolerierbare Obergrenzen für die Jodaufnahme in Mikrogramm pro Tag für verschiedene Altersgruppen
Europäische Kommission/ Wissenschaftliches Komitee für Ernährung (EC/SCF), 2002
1—3 Jahre
200
4—6 Jahre
250
7—10 Jahre
300
11—14 Jahre
450
15—17 Jahre
500
Erwachsene
600
Schwangere > 19 Jahre
600
US Institute of Medicine, 2001
200 300 300 300 900 1100 1100
Toxizität bei übermässiger Jodzufuhr Die meisten Menschen mit nicht ausreichendem Jodstatus sind gegenüber hohen Jodzufuhren mit der Ernährung erstaunlich tolerant. Die meisten Erwachsenen vertragen eine Jodzufuhr von bis zu 1000 µg pro Tag, da sich die Schilddrüse entsprechend anpasst. Bei Kindern ist eine Jodzufuhr von 500 µg oder mehr pro Tag mit einer Vergrösserung des Schilddrüsenvolumens als frühem Zeichen einer Schilddrüsendysfunktion assoziiert. Europäische und US-amerikanische Gremien haben Empfehlungen für die Obergrenze des täglichen Jodverzehrs
Gesundheitliche Konsequenzen von Jodmangel
Alle Altersgruppen: ■ Struma inkl. toxisches Adenom ■ gehäuft Hypothyreose bei mässigem bis schwerem Jodmangel ■ seltener Hypothyreosen bei leichtem bis mittlerem Jodmangel ■ erhöhte Strahlensensibilität der Schilddrüse
Fetus: ■ Abort ■ Totgeburt ■ angeborene Missbildungen ■ erhöhte perinatale Mortalität
Neugeborene: ■ Säuglingssterblichkeit erhöht ■ endemischer Kretinismus
Kinder und Adoleszente: ■ beeinträchtigte geistige Funktion ■ verzögerte körperliche Entwicklung
Erwachsene: ■ beeinträchtigte geistige Funktion ■ Insgesamt verursacht ein mässiger bis schwerer Jodmangel
infolge Hypothyreose subtile, aber weit gestreute ungünstige Effekte auf Bevölkerungsebene wie schlechtere Schulbarkeit, Apathie, reduzierte Arbeitsproduktivität, was zu beeinträchtigter sozialer und ökonomischer Entwicklung führt.
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Was Ihre Patienten im Internet vielleicht lesen (Auswahl):
www.krank-durch-jod.ch: «Der Selbsthilfeverein KdJ setzt sich seit Jahren für die inzwischen gesetzlich vorgeschriebene korrekte Deklaration von jodiertem und fluoriertem Salz ein.»
www.jod-kritik.de: «Ich will essen, ohne tot umzufallen.» Die Jodlüge. Das Märchen vom gesunden Jod.
www.ktipp.ch und www.gesundheitstip.ch: «Jodiertes Salz macht mich fertig.»
www.symptome.ch/vbboard/allergie/12199-jodallergie.html: «Jod reizt das durch Umweltgifte und Fremdsubstanzen ohnehin schon belastetete Immunsystem und kann daher zu allergischen Reaktionen führen, ohne dass direkt eine Jodallergie besteht», etc.
6 bis 7 Jahre nach der Einführung von jodiertem Salz nahm
in Dänemark die Inzidenzrate klinischer Hypothyreosen
leicht zu (relatives Risiko 1,35, 95%-Konfidenzintervall
1,11–1,66). Dies betraf vor allem junge und Erwachsene
mittleren Alters mit vorher mässigem Jodmangel. Auch
Hyperthyreosen nahmen von 102,8 auf 138,7/100 000 Ein-
wohner pro Jahr zu. Unterschiede in der Jodversorgung
ganzer Bevölkerungen haben auf die Häufigkeit von Schild-
drüsenkarzinomen und auf die Verteilung der Subtypen
dieser Tumoren keinen Einfluss. Insgesamt, so die «Lan-
cet»-Autoren ausdrücklich, überwiegen die substanziellen
Risiken eines Jodmangels wie Schwangerschaftsverluste,
Strumen und geistige Behinderung die kleinen Risiken
einer überschiessenden Jodzufuhr bei Weitem. Die Auf-
rechterhaltung entsprechender Massnahmen zur stabilen
Jodversorgung der Bevölkerung bleibt weltweit eine wich-
tige Aufgabe.
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Michael B. Zimmermann (Labor für Human-Ernährung am Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften der ETH Zürich) et al.: Iodine-deficiency disorders. Lancet 2008; 372: 1251—1262.
Interessenlage: Die Autoren deklarieren, keine Interessenkonflikte zu haben.
Halid Bas