Transkript
INTERVIEW
«Der Begriff Andropause ist wenig hilfreich»
Ein Interview mit Professor Christoph A. Meier
Die Testosteronsubstitution als Anti-Aging-Mass-
nahme erfreut sich vor allem in den USA steigender
Beliebtheit. Analog zur Menopause der Frau geistert
der Begriff der Andropause durch die Medien, verbun-
den mit dem Versprechen, dass man mit dem richtigen
Hormonpräparat dem Alter ein Schnippchen schlagen
kann. Doch was ist gesicherte Erkenntnis, was reine
PR? Wir sprachen darüber mit Professor Christoph A.
Meier, dem Präsidenten der Schweizerischen Gesell-
schaft für Endokrinologie und Diabetologie.
Ars Medici: Herr Professor Meier, von der Testosteronsubstitution versprechen sich viele ältere Männer eine Art ewiger Jugend. Wie sieht es in der Realität aus? Prof. Dr. med. Christoph A. Meier: Wir müssen bei der Frage der Testosteronsubstitution zwei Szenarien unterscheiden: Zum einen gibt es Männer mit Erkrankungen der Hypophyse oder Störung der Hodenfunktion. Diese Patienten haben einen echten Hypogonadismus, und es steht ausser Frage, dass sie eine Hormonsubstitution brauchen. Ihre Frage zielt aber auf Männer über 50 ab, die keine bekannte Hypophysen- oder Hodenfunktionsstörung aufweisen, sondern eine altersabhängige Abnahme des Testosteronspiegels. Aus retrospektiven Auswertungen von Laborbefunden und Sterberegistern weiss man, dass Männer mit einem tiefen Testosteronspiegel früher sterben. Das Problem ist nun, diese Daten zu interpretieren, denn die Assoziation eines tiefen Testosteronspiegels mit einer erhöhten Mortalität impliziert in keiner Weise eine Kausalität! Jede systemische Erkrankung führt zu einem niedrigen Testosteronspiegel. Somit ist dieser zwar ein Marker für eine Erkrankung, aber überhaupt nicht zwingend deren Ursache. Wie absurd es sein kann, von einer Assoziation auf eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zu schliessen, verdeutlicht ein einfaches Beispiel: Die Fusslänge und die sprachliche Kompetenz von Kindern sind ganz klar assoziiert, das heisst je län-
ger der Fuss, umso höher die Sprachkompetenz. Doch niemand würde auf die Idee kommen, die Füsse seines Kindes chirurgisch verlängern zu lassen, um dessen Sprachkompetenz zu steigern.
Ars Medici: Was sagen prospektive, randomisierte Studien zum Anti-Aging-Effekt einer Testosteronsubstitution? Meier: Es gibt etwa ein halbes Dutzend randomisierte, kontrollierte Studien mit bis zu 100 Teilnehmern und einem Follow-up von typischerweise 6 bis 12 Monaten, nur bei einer Studie waren es 3 Jahre. Die Resultate sind enttäuschend. Die Männer mit Substitution haben weder eine bessere Lebensqualität noch eine bessere Physis. Zwar sieht man in ganz speziellen Tests eine Verbesserung, beispielsweise bei der Kraft, mit der man zupacken kann, dem sogenannten Hand-gripTest. Aber das ist klinisch nicht relevant, und für wichtige Alltagsfunktionen sind keine Effekte nachweisbar. So führt das Hormon eben nicht dazu, dass die Männer besser Treppen steigen können, autonomer sind und so weiter. Sie leben übrigens auch nicht länger, aber diese Studien waren natürlich zu klein, um die Mortalität zuverlässig anzuschauen. Wir stehen also leider vor der enttäuschenden Datenlage, dass wir eigentlich keine relevanten Vorteile einer Testosteronsubstitution bei älteren Männern haben. Wir wissen aber, dass mögliche Risiken bestehen. Zum Beispiel wurde eine Erhöhung des Hämatokrits in einigen Studien beschrieben. Das ist möglicherweise mit einem kardiovaskulären, thromboembolischen Risiko assoziiert. Zwar war das Prostatakarzinomrisiko in den genannten Studien bei Männern mit Testosteronsubstitution nicht erhöht, aber 12 Monate reichen natürlich nicht aus, um zu beweisen, dass es wirklich sicher ist. Es ist hingegen sehr wohl denkbar, dass eine Erhöhung des Testosteronspiegels – auch innerhalb des Normbereichs – das Wachstum eines vorbestehenden Prostatakarzinoms fördern kann.
Ars Medici: Trotzdem steigen die Verschreibungszahlen, zumindest in den USA. Wie sieht es damit in der Schweiz aus? Meier: Es gibt für die Schweiz keine Zahlen zur Testosteronsubstitution bei an und für sich gesunden Männern über 50. Ich habe aber das Gefühl, dass wir nicht so einen Boom wie in den USA erleben. Man kann natürlich zu Recht fragen, warum man Testosteron zunehmend verschreibt, obwohl die Daten nicht dafür sprechen. Es gibt nun einmal diese retrospektiven
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Meier: Wir haben momentan keine Schweizer Richtlinien. Unsere Fachgesellschaft ist daran, diese zu erarbeiten, und sie werden voraussichtlich nicht viel anders lauten als bereits vorliegende internationale Richtlinien. Die Fachgesellschaften in den USA sind hier meiner Meinung nach allerdings zu liberal. Die Krankenkassen zahlen natürlich keine Anti-AgingIndikation, aber die Definition, wer jetzt wirklich einen Hypogonadismus hat, ist fliessend, und es gibt eine erhebliche Grauzone. Wenn Sie bei den fraglichen Werten als Arzt sagen, der Mann habe einen Hypogonadismus, dann dürfen Sie ihm Testosteron verschreiben.
Zur Person Professor Christoph A. Meier, Chefarzt Innere Medizin am Stadtspital Triemli in Zürich und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie.
Studien, wonach tiefes Testosteron mit erhöhter Mortalität assoziiert ist, und die darauf folgende Hypothese, dass die Substitution etwas bringen könnte. Die Studien haben das bisher zwar nicht bestätigt, waren aber meist zu klein und zu kurz. Was machen Sie nun in dieser Situation? Es gibt die Optimisten unter den Ärzten und Patienten, die sich in einer solchen Situation sagen: Auch wenn wir noch nicht wissen, ob es nützt, tun wir es trotzdem, sonst würden wir uns eine möglicherweise wirksame Therapie vorenthalten. Ich aber stehe wie viele meiner Kollegen auf dem Standpunkt: Wenn wir nicht wissen, was wir tun, dann sollen wir es lieber lassen! Wir sollten Therapien erst beginnen, wenn wir die Daten haben.
Ars Medici: Was halten Sie eigentlich vom Begriff der Andropause? Meier: Ich finde den Begriff schlecht. Bei Frauen und Männern gehen viele Hormonspiegel mit dem Alter allmählich zurück, und ganz normale, altersabhängige Veränderungen der Körperfunktionen treten auf. Der Begriff Andropause ist da wenig hilfreich und weckt falsche Begehrlichkeiten aufseiten der Patienten. Sie bekommen dadurch nur das Gefühl, es gebe ein neues Krankheitsbild, das abgeklärt und therapiert werden müsse.
Ars Medici: Es werden noch andere Hormone als Anti-AgingMittel angepriesen, zum Beispiel das Wachstumshormon DHEA. Davon halten Sie vermutlich auch nichts? Meier: Stimmt. Beim DHEA gibt es ja kaum qualitativ gut definierte Produkte und schon gar keine positiven Studien. Im Gegenteil: Es gibt gute Gründe zu vermuten, dass eine Langzeittherapie nicht unerhebliche Nebenwirkungen haben könnte.
Ars Medici: Zurück zum Testosteron, wem darf man das hierzulande verschreiben?
Ars Medici: Wo liegt diese Grauzone? Meier: Die liegt bei einem Gesamttestosteronspiegel zwischen 7 und 11 nM.
Ars Medici: Wie soll man sich bei Werten zwischen 7 und 11 nM für oder gegen eine Substitution entscheiden? Meier: Symptome eines Hypogonadismus sprechen für die Substitution. Wenn eine Erkrankung vorliegt, die das Risiko für einen Hypogonadismus erfüllt, zum Beispiel eine Hypophysenoperation, eine Steroidtherapie, eine Hämochromatose, eine Hodeninfektion oder ein Hodentrauma, dann spricht das eher für eine Subsitution. Es kann nicht nur aufgrund des Testosteronspiegels entschieden werden, ob jemand eine Substitution benötigt. Die Entscheidung beruht auf einer Kombination der A-priori-Wahrscheinlichkeit, dass ein Hypogonadismus vorliegt, den klinischen Symptomen und dem Hormonwert.
Ars Medici: Sehr viele ältere Männer liegen mit ihrem Testosteronwert in diesem Graubereich. Wo man die Grenze zur Krankheit zieht, bestimmt den Umfang des Markts für Testosteronprodukte. Wer hat die Definitionshoheit über den «Cutoff»? Meier: Wer sie hat, kann ich Ihnen auch nicht sagen, wer sie sich anmasst, schon: Ich glaube, wir leben in einer Zeit, in der sich gewisse medizinische Fachgesellschaften anmassen, einen signifikanten Prozentsatz der Population als krank zu bezeichnen. Wenn die amerikanischen Endokrinologen sagen, der Cut-off sei bei 11 nM, dann definieren sie, dass 30 Prozent der über 70-Jährigen krank sind. Diese Sicht der Medizin teile ich nicht.
Ars Medici: Wo setzt denn die schweizerische Fachgesellschaft den Cut-off? Meier: Wir haben im Moment noch keinen Grenzwert definiert. Ich glaube auch nicht, dass es sinnvoll wäre, dies angesichts der heutigen Datenlage zu tun. Es ist eine andere Situation als beispielsweise beim Blutdruck oder beim Cholesterin. Dort haben wir grosse Studien und kennen die Risikofaktoren sowie das damit assoziierte absolute Erkrankungsrisiko. Beim Testosteron fehlen schlicht die Daten. Wenn irgendeine Fachgesellschaft zurzeit einen spezifischen «Cutoff» für den Testosteronspiegel beim älteren Mann festlegt,
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kann das nicht datenbasiert sein, weil valable Daten einfach nicht existieren. Somit bleibt die Substitution eine therapeutische Entscheidung, die Klinik und Laborwerte integrieren muss.
Ars Medici: So weit die Theorie. Wie aber handelt man in der Praxis, wenn ein Mann über 50 einen Testosterontest verlangt? Meier: Ich verwende dann zuerst einmal eine halbe Stunde für eine ausführliche Anamnese und die klinische Untersuchung, vor allem auch, um die Hauptmotive für die Konsultation herauszufinden. Hat er Symptome für einen Hypogonadismus, und sprechen klinische Zeichen dafür? Oder trifft das nicht zu, und ist es vielleicht die Midlife-Crisis? Ohne anamnestische und klinische Anhaltspunkte für einen Hypogonadismus messe ich den Testosteronspiegel nicht. Ich erkläre diesem Mann, dass bei ihm wegen des Alters a priori eine Wahrscheinlichkeit von 10 bis 15 Prozent besteht, dass der Wert ausserhalb der Norm liegt. Testosteron würde man trotzdem nicht verschreiben, weil ja keine relevanten Symptome bestehen. Also schlage ich vor, dass wir den Wert gar nicht messen, weil er sonst vielleicht mit einem abnormalen Blutwert leben müsste, der zwar in seinem Fall nichts bedeutet, ihn aber trotzdem beunruhigen könnte. Viele Patienten können das absolut akzeptieren.
Ars Medici: Die gehen dann einfach zu einem anderen Arzt ... Meier: Das ist sehr gut möglich, aber meine Erfahrung ist, dass viele Leute es schätzen, wenn man sie ernst nimmt. Man muss den Wunsch nach einer Testosteronbestimmung seriös diskutieren, denn die Männer sind verunsichert durch all das, was sie aus den Medien erfahren. Trotzdem schätzen sie es sehr wohl, wenn man ihnen die Vor- und Nachteile erläutert, die Datenlage erklärt und dann gar keine Blutentnahme durchführt. Sobald eine Zahl in der Krankengeschichte steht, die nicht im Normbereich liegt, sind Ärzte und Patienten verunsichert. Dann wird es schwierig, einer Intervention zu widerstehen, und sei sie noch so überflüssig.
Ars Medici: Welche Rolle spielt das Alter bei der Entscheidung für oder gegen einen Testosterontest und eine allfällige Substitution? Meier: Das Alter ist ein heikler Punkt. Die potenziellen Risiken einer Testosterontherapie, das heisst Prostatahyperplasie und vielleicht auch eine wachstumsfördernde Wirkung für ein Prostatakarzinom sowie mögliche thromboembolische Komplikationen, steigen natürlich mit dem Alter. Darum bin ich bei einer Testosteronsubstitution für ältere Männer noch restriktiver. Wenn ich schon nicht weiss, ob ich etwas Gutes damit bewirke, und die Risiken mit dem Alter noch steigen, handle ich noch vorsichtiger. Das Alter spielt in diesem Sinn eine Rolle, aber nicht mit einer absoluten Limite.
Messung ist methodologisch robust, und der Normbereich beziehungsweise die Grauzone sind gut etabliert. Der Blutspiegel des totalen Testosterons wird natürlich durch die Bindungsproteine beeinflusst, sodass beispielsweise bei Patienten mit Leberkrankheiten oder auch bei adipösen Patienten Verfälschungen auftreten können. Idealerweise würde man das freie Testosteron messen, aber diese Messung ist sehr heikel, und die allermeisten kommerziell angewendeten Methoden sind nicht zuverlässig genug, um in der Klinik nützlich eingesetzt werden zu können. Das bioverfügbare Testosteron* ist ein interessanter Parameter, aber ich glaube, dass dieser bei den meisten Patienten nicht nötig ist, da die Normbereiche und die Cut-offs für eine Behandlung noch schlechter definiert sind. Wir wollen die Patienten identifizieren, die einen klaren und schweren Testosteronmangel haben, und diese findet man allermeistens mit der Bestimmung des Totaltestosterons. Nur wenn man gute klinische Gründe dafür hat, ist die Bestimmung des bioverfügbaren Testosterons interessant.
Ars Medici: Angenommen, der Wert bei einem 80-jährigen Mann liegt nun unter 7 nM, und man muss behandeln ... Meier: Bei einem jüngeren Patienten bestimmt.
Ars Medici: ... also gut, nehmen wir an, er wäre 60. Was würde man am besten verordnen? Meier: Es muss ein Präparat sein, das möglichst konstante Serumspiegel ergibt. Günstig ist die Testosteroninjektion alle drei Monate. Orales Testosteron erzeugt enorme zirkadiane Schwankungen, und die Serumspiegel zum Ausschluss einer Über- oder Untersubstitution können daher nur schwer interpretiert werden. Darum verwende ich dieses Präparat wirklich nur in ganz speziellen Situationen, etwa bei Patienten, die antikoaguliert sind. Testosterongel ist eine gute Option, die gute, konstante Blutspiegel erzeugt. Allerdings finden es die Patienten häufig mühsam, sich einzureiben, und man muss sehr darauf achten, dass Partner und Kinder nicht damit in Kontakt kommen. Testosteronpatchs wurden nie sehr populär, da sie häufig zu Hautreaktionen geführt haben.
Ars Medici: Welchen Zielwert strebt man in der Therapie an?
Meier: Das ist altersabhängig. Bei jüngeren Patienten mit
einem klaren Hypogonadismus zielt man in den mittleren
Normbereich, zum Beispiel zwischen 12 und 25 nM, bei älte-
ren Patienten in die untere Hälfte des Normbereichs, das
heisst 10 bis 15 nM.
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Herr Professor Meier, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Renate Bonifer.
Ars Medici: Wenn man sich nun für eine Messung entschieden hat, welchen Wert sollte man vom Labor anfordern? Meier: Wenn man einen Hypogonadismus abklärt, ist sicher die Messung des totalen Testosterons das Wichtigste. Diese
* Bei dem Gesamttestosteronspiegel im Blut liegen 1 bis 2 Prozent frei vor, zirka 30 Prozent sind locker an Albumin und der Rest fester an das sexualhormonbindende Globulin (SHBG) gebunden. Der freie und der an Albumin gebundene Anteil des Testosterons gelten als «bioverfügbares Testosteron».
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