Transkript
Frühlingsgefühle
arsenicum
M eine wetterfühligen Patienten fühlen immer nur das Schlechte – das Reissen in den Gliedern bei Kälte und Kopfweh bei Föhn. Im Frühling leiden sie unter Frühlingsmüdigkeit, im Winter unter Winterdepression, und zwar bereits im September. Der Unternehmer flucht über die Frühlingsmesse, obwohl er dort seine Auftragsbücher füllt, den Modedesigner stresst die Frühlingsmodenschau, obwohl er dort seine hinreissendsten Kreationen zeigt. Die Hausfrauen stöhnen über die Frühlingsputzete, obwohl ihr Haus danach ein Juwel ist. Die Bauern klagen im Vorfrühling über die Aussaat des Sommergetreides, im Erstfrühling über die Aussaat von Kartoffeln und Futterrüben, im Vollfrühling über die mickrig aufgegangene Wintergetreidesaat. Aber Bauern jammern immer, sie werden im Frühsommer über die Heuernte meckern und im Hochsommer über die Getreideernte. Und wenn sie schliesslich im Herbst eine Rekordernte von Rüben, Kartoffeln und Obst eingefahren haben, werden sie reklamieren, dass dies die Preise fallen lässt … Patient K. studiert die im Jahresablauf wiederkehrenden Erscheinungen in der Natur und befasst sich mit Ökologie und Biogeografie. Ihn fasziniert das «phänologische Jahr». Es besteht aus zehn Jahreszeiten, die man an den Entwicklungsstadien von «Zeigerpflanzen» erkennt. Zurzeit sind dies Aruncus sylvestri und Alopecurus pratensis. Zwar kenne ich die Pflanzen nicht, aber sie hören sich gut an. Mein Apothekerfreund klärt mich auf: Waldgeissbart und Wiesenfuchsschwanz. Am phänologischen Jahr gefällt mir besonders, dass es nur einen Winter kennt, aber je drei Arten von Frühling, Sommer und Herbst. Einmal Winter ist doch genug, finden Sie das nicht auch? Hingegen «Hochsommer», «Vollherbst» – klingt das nicht wunderbar? Auf jeden Fall sinnlicher als die astronomische Definition des Frühlingsbeginns, die etwas mit Ekliptik und Koordinatensystemen zu tun hat: Am Äquinoktium, an der Tagundnachtgleiche ist der Lenz da. Kalendarisch auf der Nordhalbkugel am 20. oder 21., in seltenen Fällen bereits am 19. März. Standardisiert lassen ihn die Meteorologen hingegen schon am 1. März beginnen – egal, ob die Schneeglöckchen blühen. Sehr vernünftig – der Frühling kann gar nicht früh genug beginnen.
Längst hat der Kommerz das erkannt: In den Läden ist ab Februar alles rosa, zitronengelb und lindgrün, Spezialangebote für Frühlingsputzete-Material und Valentinstag sind da. Kaum ist der letzte Weihnachtsmann verkauft, kommt die Fastnacht mit pastellfarbigem Konfettideko, dicht gefolgt von bunten Eiern und dem Aufmarsch der Hasen und Küken. Inzwischen schmücken künstliche Kirschblüten die Auslagen, die ersten Mohn- und Kornblumenattrappen blühen bereits auf. In der Natur hat das Blühen leider Nebenwirkungen: das Immunsystem meiner Patienten zeigt an, dass die Pollen fliegen. Schluss mit Kurzzeitdesensibilisierungen. Unmengen von Antihistaminika rezeptieren. Niesend, mit tränenden Augen und verstopfter Nase kommt die pensionierte Biochemikerin. Sie ist 1968 aus der Slowakei emigriert. Wir plaudern über den Prager Frühling, ihre Pollinosis und Hormone. Sie kichert: «Es ist zwar von der Wissenschaft noch nicht eindeutig bewiesen, was die Hormone im Frühling machen, aber ich habe Frühlingsgefühle. Zudem bin ich in einem Alter, in dem man sich einen zweiten Frühling gönnen darf.» Ihr Mann, ein Gentleman der alten Schule, mit einem zirbeldrüsigen Glitzern in den Augen, tigert im Wartezimmer umher. Als die beiden Arm in Arm die Praxis verlassen, ist das Romantik pur. Genau wie das herrlich kitschige Bild, das der Automechanikerlehrling mit dem Bänderriss von seiner Freundin auf seinen Gips gemalt bekam. Ich lese Goethes «Frühling über’s Jahr», das klassische Gärntergedicht, und Heines erotisches «Es kommt der Lenz mit dem Hochzeitgeschenk». Ich alter Hausarzt geniesse den Spaziergang durch eine Lindenallee, freue mich auf die Gartensaison, nehme alles lockerer. Hölderlins «Frühling» schliesst mit den Zeilen: «Der Menschen Tätigkeit beginnt mit neuem Ziele, so sind die Zeichen in der Welt, der Wunder viele.» Bei einem Festessen im Grünen (Bärlauchsüppchen, Spargel, junge Kartoffeln und Schinken, Erdbeeren mit Rahm, Maibowle) wünsche ich mir, dass alle meine Patienten das «blaue Band» von Mörike sehen und durch die Lüfte flattern spüren, dass sie den «leisen Harfenton» des Frühlings vernehmen.
358 ARS MEDICI 9 ■ 2009