Transkript
FORTBILDUNG
Nicht jeder Gelenkschmerz ist Arthrose
Fahnden Sie nach verkürzten Muskeln!
Nicht alles, was auf den ersten Blick so aussieht,
ist eine Arthrose. Ruheschmerzen in Gelenken oder
Rücken- beziehungsweise Nackenschmerzen, die bei
Bewegung besser werden, sind typische Symptome
bei verkürzten Muskeln. Wie die Teilnehmer meines
Kurses am eigenen Leib erfahren konnten, lassen
sich durch Dehnübungen rasch gute Erfolge erzielen.
DIETHARD STURM
«… Und jetzt ziehen, ganz gleichmässig ziehen, ein bis zwei Minuten lang, nicht zu sehr, aber doch stetig. Allmählich kommt Bewegung auf, der Muskel gibt nach ...» Wieder haben sich in Bad Orb 30 Hausärztinnen und Hausärzte stundenlang gegenseitig und selbst die Glieder lang gezogen, genauer: die Muskeln, noch genauer: die verkürzten Muskeln (Abbildung 1). Und ein guter Grund dafür liess sich bei den meisten Kursteilnehmern finden. Über Schmerzen in Rücken, Schulter oder Nacken, immer wenn der Körper zur Ruhe kommt, wurde geklagt. Und – oh Wunder: Die Dehnübungen halfen!
Fast schon ein «Normalbefund» Beim Versuch, bei gestreckten Kniegelenken mit den Fingerspitzen den Boden zu berühren, fehlen noch 10 cm. Beim Lasègue-Test kann das Hüftgelenk nur bis 70 Grad gebeugt werden. Solche Befunde sind keine Seltenheit, haben sie überhaupt Krankheitswert? Und was ist mit der schmerzenden Schulter, die den Patienten nachts plagt, nach dem Aufstehen aber kaum noch Beschwerden macht? Einbildung? Hinter allen diesen Symptomen können Muskelverkürzungen stecken, die sich leicht behandeln lassen. Schmerzende Gelenke in Ruhe sind das typische Beschwerdebild bei Muskelverkürzung. Bewegung bessert ganz allmählich den Schmerz, aber sehr starke Belastung verursacht auch Schmerzen. Der Arthrose werden die Beschwerden angelastet, und oft genug findet sich ein passender Befund im Röntgenbild. Es sind jedoch Dehnungsschmerzen aus verkürzten
Muskeln. Tückischerweise projizieren sich Schmerzen in Ruhe aus der verkürzten Muskulatur in die Ansatzstellen, und die sind immer gelenknah.
Muskeldehnung nach JANDA Statische Muskeln (Haltemuskeln) verkürzen sich, wenn sie wenig beansprucht werden. Hier setzt die einzig effektive Behandlungsform an: die Muskeldehnung nach JANDA (Abbildung 2). Dazu wird der Muskel in der schmerzfrei erreichbaren Länge vorgedehnt und aktiv maximal angespannt für die Dauer von wenigstens sieben Sekunden, der Behandler muss entsprechend gegenhalten. Während der Anspannung soll keine Bewegung erfolgen (isometrische Anspannung). Unmittelbar an diese Anspannungsphase schliesst sich die zweite Dehnungsphase an, das heisst, der Behandler dehnt den Muskel jetzt passiv, gleichzeitig lässt allmählich der Patient mit seiner Anspannung nach, sodass nach wenigen Sekunden eine gefühlvolle Dehnung durch den Behandler ohne Gegenspannung erreicht wird. Bei der Dehnung entsteht ein Dehnungsschmerz, der so gering wie möglich gehalten werden sollte. Ein stärkerer Schmerz führt zur Gegenspannung und damit zur Aufhebung des Effekts. Nachbeschwerden dieser Behandlung beruhen immer auf Gegenspannung des Patienten oder zu grobem Vorgehen. Es ist also eine ständige Abstimmung zwischen Patient und Behandler notwendig. Deshalb ist die Selbstbehandlung das ideale Vorgehen. Die Dehnung sollte ein bis zwei Minuten lang erfolgen. Massstab ist der noch erfolgende Längenzuwachs.
Merksätze
■ Schmerzende Gelenke in Ruhe sind das typische Beschwerdebild bei Muskelverkürzung.
■ Bei der Dehnung entsteht ein Dehnungsschmerz, der so gering wie möglich gehalten werden sollte. Ein stärkerer Schmerz führt zur Gegenspannung und damit zur Aufhebung des Effekts.
■ Bei jungen Muskelverkürzungen kann eine einmalige Dehnbehandlung ausreichen. Bei seit Jahrzehnten bestehenden Befunden sind mehrere Sitzungen nötig.
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FORTBILDUNG
Abbildung 1: Kursteilnehmer in der passiven Zuhörphase, kurz vor Beginn der praktischen Übungen
Wenn keine weitere Verlängerung des Muskels mehr eintritt, ist die Behandlung für diese Sitzung abgeschlossen.
Eindrucksvolle Ergebnisse Bei einer noch relativ jungen Verkürzung kann die einmalige Behandlung für die Behebung der Störung ausreichen. Bei langzeitigen, das heisst über Jahrzehnte bestehenden Verkürzungen werden mehrere Sitzungen notwendig sein. Der Effekt hält dann aber auch wenigstens ein Vierteljahr vor. Die Verkürzung setzt langsam ein. Die Muskeldehnung kann auch verordnet werden: 6 × KG Muskeldehnung nach JANDA und Übungsanleitung zur Muskelkräftigung. Es empfiehlt sich, die Behandlung in der Praxis zu beginnen, um dem Patienten die Wirksamkeit zu demonstrieren und ihn damit für eine Fortsetzung zu motivieren. Im Allgemeinen sind
die Ergebnisse hinsichtlich besserer Bewegungsfähigkeit und Schmerzbefreiung für die Patienten ausserordentlich eindrucksvoll. Sie schildern das Gefühl mit «leicht» oder «frei».
Muskelverkürzung vs. Verspannung Nicht zu verwechseln ist die Muskelverkürzung mit der Verspannung (siehe Tabelle). Die Muskelverspannung ist bei allen Muskeln möglich, stets im Zusammenhang mit einer Blockierung von Wirbelsegmenten. Verspannte Muskeln kann man tasten, der Schmerz ist ohne Weiteres als zum Muskel gehörend erkennbar. Entsprechend sind auch viele Behandlungsoptionen entwickelt worden, von Wärme über Massagen und Muskelrelaxanzien bis hin zu Reflextherapien und therapeutischer Lokalanästhesie. All das hilft bei der Muskelverkürzung nicht.
Tabelle: Vergleich der Beschwerdebilder von Arthrose und Muskelverkürzung
Beschwerden bei Arthrose Keine Schmerzen in Ruhe, nur bei Entzündung (bei aktivierter Arthrosearthritis) gleichermassen in Ruhe und bei Belastung Kurzer Anlaufschmerz bei Bewegungsbeginn (wenige Schritte) Schmerz bei längerer Belastung zunehmend, je nach Ausprägung des Knorpelschadens Bei sehr starker Belastung Schmerz im Gelenk selbst
Analgetika einschliesslich NSAR wirksam
Beschwerden bei Muskelverkürzung Schmerz entwickelt sich in Ruhe, bessert nicht bei Lagewechsel
Schmerzbesserung erst nach längerer Bewegung Schmerz nimmt bei Bewegung allmählich ab, auch bei längerer mässiger Belastung Bei sehr starker Belastung Muskeldehnungsschmerz im verkürzten Muskel Analgetika schlecht oder nicht wirksam
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FORTBILDUNG
Untersuchungskurse auf DVD
Die practica-Kurse von Dr. Sturm zur «Hausärztlichen Diagnostik und Therapie bei Schmerzen im Bewegungsapparat» stehen auch als DVD zur Verfügung, inklusive Beiheft mit allen Erläuterungen. Eine Kostprobe finden Sie unter www.allgemeinarztonline.de/service/video/sturm.html. Bezug über HBF — unabhängiges Institut für hausärztliche Bildung und Forschung, Dr. Sturm GmbH, E-Mail: hbfgmbh@aol.com
Abbildung 2: Aktiv dehnen, anspannen, passiv dehnen — so werden verkürzte Muskeln wieder länger.
Leistenschmerzen Am Hüftgelenksschmerz sind vor allem die kurzen Adduktoren beteiligt, aber vom Rectus femoris können Schmerzen in die Leiste einstrahlen. Chronischer «Ischias» wird oft durch die verkürzte ischiokrurale Muskulatur vorgetäuscht.
Krankheitsbilder bei verkürzten Muskeln Manch rätselhaftes bis frustrierendes Krankheitsbild ist auf die Verkürzung statischer Muskeln zurückzuführen und durch die Dehnung erfolgreich und nachhaltig zu behandeln. Hier einige Beispiele:
Rückenschmerzen «Morgens kann ich mich kaum über das Waschbecken beugen, so weh tut mein Rücken, erst nach einigen Stunden wird das besser», so lautet die typische Klage bei Verkürzung der Lumbalmuskulatur.
Knieschmerzen Am Knie setzen zahlreiche statische, also zur Verkürzung neigende Muskeln an. Am mehr dorsal empfundenen Knieschmerz beteiligen sich die Wadenmuskulatur und die ischiokrurale Muskulatur, während sich die im Bereich der Patella empfundenen Schmerzen mehr auf den Rectus femoris, den Iliopsoas und den Tensor fasciae latae zurückführen lassen. Eine Verkürzung des Tensor fasciae latae löst die von Orthopäden oft beschriebene Lateralisation der Patella aus. Deren Therapiekonzept ist die Durchtrennung der Faszie. Aber die Dehnung des Muskels schafft es besser – kausal, physiologisch, ohne Verstümmelung und mit geringstem Aufwand.
Schulterschmerzen
... können unter anderem durch die Verkürzung des Trapezius –
deutlich sichtbar bei Seitneigung des Kopfes – oder des Pecto-
ralis ausgelöst sein.
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Dr. med. Diethard Sturm Facharzt für Allgemeinmedizin D-09337 Hohenstein-Ernstthal
Interessenkonflikte: keine deklariert
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 20/2008. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
BEKANNTMACHUNG
77. Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Innere Medizin (SGIM)
13. bis 15. Mai 2009, Congress Center Basel
Thema: Medizin und Gesellschaft
Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. med. Werner Zimmerli, Kantonsspital Liestal, Medizinische Universitätsklinik, Rheinstrasse 26, 4410 Liestal
Kongresssprachen: französisch, deutsch, englisch Organisation: Dr. Schlegel Healthworld AG, Sennweidstrasse 46, 6312 Steinhausen, Tel. 041-748 76 00, Fax 041-748 76 11
E-Mail: h.fuchs@schlegelhealth.ch, Internet: www.congress-info.ch/sgim2009
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