Transkript
Mehr Zeit für Thrombolyse nach Schlaganfall
Studie gilt als eine der weltweit wichtigsten medizinischen Publikationen
STUDIE REFERIERT
Die Herausgeber der Zeitschrift
«The Lancet» kürten die europä-
ische Schlaganfall-Studie ECASS III
zur weltweit wichtigsten medizini-
schen Veröffentlichung des Jahres
2008. Sie eröffnet neue Chancen
in der Akuttherapie nach einem
Schlaganfall, weil nun die Wirk-
samkeit von Alteplase noch bis zu
4,5 Stunden nach dem Hirnschlag
nachgewiesen ist. Bislang galten
drei Stunden als Obergrenze.
RENATE BONIFER
Die Studie ECASS III (European Cooperative Acute Stroke Study) beweist, dass die Therapie des akuten Schlaganfalls durch den Verschluss einer Gehirnarterie mit dem biotechnologisch hergestellten Enzym Alteplase (Actilyse®) auch noch 3 bis 4,5 Stunden nach Auftreten der ersten Symptome wirksam und sicher ist. Damit erhöht sich die Anzahl potenziell behandelbarer Patienten beträchtlich: «Von diesem Studienergebnis könnten alleine in Deutschland mehrere tausend Patienten jährlich profitieren», sagte Studienleiter Professor Werner Hacke vom Universitätsklinikum Heidelberg. ECASS
III habe aber nicht nur das Zeitfenster für die Thrombolyse erweitert, sondern den behandelnden Ärztinnen und Ärzten auch neues Vertrauen vermittelt, die Folgen eines Schlaganfalls tatsächlich bekämpfen zu können.
Studiendesign und Resultate 821 Hirnschlagpatienten wurden in die Studie eingeschlossen. Einschlusskriterien waren ein Alter von 18 bis 80 Jahren und die klinische Diagnose akuter ischämischer Hirnschlag innert drei bis vier Stunden nach Beginn der Symptome, sodass die intravenöse Lyse spätestens bis 4,5 Stunden nach den ersten Symptomen möglich war. Bei allen Patienten erfolgte der Ausschluss intrakranieller Blutungen vor der Intervention mittels Computertomografie (n = 771) oder MRI (n = 50). Die lange Liste der Ausschlusskriterien umfasste intrakranielle Blutung, Zeitpunkt des Hirnschlags unbekannt, sich rasch verbessernde oder nur minimale Symptome, schwerer Hirnschlag (klinischer NIHSS*-Wert >25 oder in der Bildgebung mehr als ein Drittel der mittleren Zerebralarterienregion betroffen), epileptischer Anfall am Beginn des Hirnschlags, Hirnschlag oder schweres Kopftrauma in den letzten drei Monaten, vorheriger Hirnschlag und Diabetes, Heparingabe 48 Stunden vor dem Hirnschlag, Thrombozytenzahl unter 100 000/ml, Blutglukose unter 50 oder über 400 mg/dl, Symptome, die trotz normalem CT-Befund für eine subarachnoidale Blutung
*NIHSS: National Institutes of Health Stroke Scale; die Skala reicht von 0 bis 42, wobei höhere Zahlen für schwerere zerebrale Infarkte stehen.
Professor Werner Hacke, Leiter der preisgekrönten ECASS-IIIStudie
sprechen, orale Antikoagulanzien, grösserer chirurgischer Eingriff oder schweres Trauma innerhalb der letzten drei Monate sowie andere Erkrankung mit erhöhtem Blutungsrisiko. Die Patienten wurden in zwei Gruppen randomisiert und erhielten intravenös Alteplase (rt-PA) oder Plazebo. Der Hirnschlagsschweregrad (NIHSS) betrug durchschnittlich 10,7 in der Alteplaseund 11,5 in der Plazebogruppe. Die mittlere Dauer bis zur Infusion betrug vier Stunden. Wie zu erwarten, gab es in der Alteplase-Gruppe mehr intrakranielle Blutungen als in der Plazebogruppe (27 vs. 17,6%). Als symptomatisch beurteilt wurden gemäss der ECASS-III-Definition aber nur 2,4 Prozent mit Alteplase und 0,2 Prozent mit Plazebo. Die Studienautoren geben zum Vergleich auch die Prozentwerte an, die sich bei
Merksätze
■ Die Thrombolyse mit Alteplase ist bis zu 4,5 Stunden nach einem ischämischen Hirnschlag noch nützlich, um das Risiko anhaltender Behinderungen zu mindern.
■ Trotz längerem Zeitfenster bleibt es dabei: Jede Minute zählt!
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STUDIE REFERIERT
der Anwendung der Kriterien früherer Studien ergeben hätten, nämlich ECASS II (5,3 vs. 2,2%), SITS-MOST (1,9% vs 0,2%) oder NINDS (7,9 vs. 3,5%). Mit Alteplase zeigte sich bei 52,4 Prozent der Patienten in der Folge ein günstiger Verlauf gegenüber 45,2 Prozent mit Plazebo. Um einen Patienten vor einer Behinderung zu bewahren, müssen 14 Patienten eine Alteplase-Infusion erhalten (number needed to treat); das Blutungsrisiko ist hierbei bereits berücksichtigt. Die Mortalität betrug mit oder ohne Alteplase um die 8 Prozent.
Trotz grösserem Zeitfenster: Jede Minute zählt! «Viereinhalb Stunden Zeit zu haben heisst nicht, viereinhalb Stunden bis zur Behandlung brauchen zu müssen», erinnerte Professor Heinrich Mattle von der
Universitätsklinik für Neurologie am Inselspital Bern in einem Kommentar zur ECASS-III-Studie. Schliesslich sterben bei einem Hirnschlagpatienten ohne Behandlung pro Minute 1,9 Millionen Neurone ab, sodass die Chance auf ein späteres Leben ohne Behinderung rasch abnimmt. Beginnt die Therapie 1,5 Stunden nach Symptombeginn, ist diese Chance 2,8-mal höher als ohne Behandlung, nach drei Stunden nur noch 1,5mal und nach 4,5 Stunden 1,4-mal höher. Insofern dürfte trotz des nun grösseren Zeitfensters für die Thrombolyse die Verzögerung bis zum Eintritt ins Spital weiterhin der bedeutendste Risikofaktor bleiben. Hier gibt es noch viel zu verbessern. Wenn Hirnschlagpatienten in ein Schweizer Spital kommen, weiss man bei jedem Dritten nichts über den Beginn
der Symptome und somit den Zeitpunkt
des Hirnschlags; die Thrombolyse kommt
bei ihnen von vorneherein nicht infrage.
Von den restlichen zwei Dritteln kom-
men 60 Prozent innert sechs Stunden ins
Spital, die anderen erst später. Nur
Patienten mit grossen ischämischen
Infarkten kommen zunehmend rascher
ins Spital; hier ist die Aufmerksamkeit
in der Bevölkerung offenbar etwas ge-
wachsen.
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Quelle: Hacke W. et al.: Thrombolysis with Alteplase 3 to 4,5 Hours after Acute Ischemic Stroke. N Engl J Med 2008; 359: 1317—1329.
Interessenlage: Die Studie wurde von Boehringer Ingelheim finanziert. Die Studienautoren geben eine Reihe von Berateroder Vortragshonoraren, Forschungsgeldern etc. von dieser und mehreren anderen pharmazeutischen Firmen an.
Renate Bonifer
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