Transkript
FORTBILDUNG
Reizdarmsyndrom
Neue NICE-Richtlinien für Diagnose und Behandlung in der Hausarztpraxis
In seinen neuen Richtlinien zum Reizdarmsyndrom
setzt das britische National Institute for Health and
Clinical Excellence (NICE) auf eine positive Diagnose
des Reizdarmsyndroms anhand bestimmter Kriterien
anstelle der weitverbreiteten Ausschlusstrategie,
wonach am Ende nur noch das Etikett «Reizdarm-
syndrom» übrig bleibt, wenn man gar nichts anderes
finden kann, was die Symptome zu erklären vermag.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Die Diagnose Reizdarmsyndrom steht erst oft am Ende einer langen Reihe von Labortests und Untersuchungen, könnte aber viel einfacher und rascher gestellt werden, heisst es in den NICE-Richtlinien. Die Angst, eine möglicherweise bedrohliche Erkrankung zu übersehen, sei zwar verständlich, die meisten Untersuchungen seien aber trotzdem überflüssig, schreiben James Dalrymple und Ian Bullock in einer Zusammenfassung der NICE-Richtlinien im «British Medical Journal». So findet sich bei Reizdarmpatienten im Vergleich mit der normalen Bevölkerung keine erhöhte Rate der Kolonkarzinome, entzündlichen Darmerkrankungen, Schilddrüsenerkrankungen oder Laktoseunverträglichkeit. Nur Zöliakie ist bei ihnen etwas häufiger.
Typische Symptome und Alarmzeichen Ein Verdacht auf Reizdarmsyndrom besteht prinzipiell bei jedem Patienten, der von abdominellen Schmerzen oder Missempfindungen, Blähungen oder einer Veränderung des Stuhlgangs berichtet, die seit mindestens sechs Monaten bestehen. Falls eines oder mehrere der folgenden Alarmzeichen für schwerwiegende Erkrankungen vorliegen, soll der Patient rasch zur weiteren Abklärung an einen Spezialisten überwiesen werden. Die Alarmsymptome gemäss NICE sind: ■ ungewollter, unerklärlicher Gewichtsverlust ■ rektale Blutung ■ eine kürzliche Veränderung des Stuhlgangs (breiiger und/
oder häufiger) für länger als sechs Wochen bei einem Patienten über 60 Jahre ■ Darm- oder Ovarialkarzinom bei Familienmitgliedern.
KOMMENTAR
PD Dr. med. Stephan Vavricka, Universitätsspital Zürich
Was bedeuten die neuen NICERichtlinien für die Praxis?
Das Reizdarmsyndrom ist eine Ausschlussdiagnose, und die neuen NICE-Richtlinien helfen den behandelnden Ärzten, mithilfe bestimmter Kriterien die Diagnose zu stellen. Leider weist die Publikation von Dalrymple und Bullock aus gastroenterologischer Sicht einen entscheidenden Schwachpunkt auf. Die NICE-Richtlinien suggerieren dem Leser, dass eine Koloskopie eine überflüssige Untersuchung sei und lediglich eine Veränderung des Stuhlganges für länger als sechs Wochen bei Patienten über 60 Jahre eine Indikation für eine weiterführende Abklärung sei. Eine solche Annahme steht aber in einem erheblichen Gegensatz zu den in der Schweiz üblichen Empfehlungen: Screening als Prävention und Früherkennung des kolorektalen Karzinoms. Basierend auf zahlreichen Studien, wird in der Schweiz allen Personen mit einem Durchschnittsrisiko ab dem 50. Lebensjahr ein Screening bezüglich kolorektalen Karzinoms empfohlen (zum Beispiel mittels Koloskopie). Ein solches Screening darf selbstverständlich nicht zugunsten der NICE-Kriterien vernachlässigt werden! ■
Diagnosekriterien Die Diagnose Reizdarmsyndrom kommt nur dann infrage, wenn die abdominellen Schmerzen/Missempfindungen entweder durch Defäkation gelindert werden oder mit einer veränderten Stuhlfrequenz oder -konsistenz einhergehen. Die Schmerzen/Missempfindungen müssen ausserdem mit mindestens zwei der folgenden Symptome assoziiert sein: ■ veränderte Stuhlpassage (anstrengend, vermehrter Stuhl-
drang, Gefühl der inkompletten Evakuation) ■ abdominelle Blähung, Dehnung, Spannung oder Verhärtung ■ Verschlechterung der Symptome durch Essen ■ Schleim im Stuhl.
Notwendige und überflüssige Untersuchungen Sofern die Patienten die oben genannten Diagnoskriterien für das Reizdarmsyndrom erfüllen, sind folgende Untersuchungen überflüssig: Ultraschall, Sigmoidoskopie, Kolonoskopie, Barium-Kontrast-Untersuchung, Schilddrüsenfunktionstest, mikroskopische und bakterielle Stuhluntersuchung, Test of okkultes Blut im Stuhl, H2-Atemtest auf Laktoseintoleranz oder
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FORTBILDUNG
bakterielle Fehlbesiedelung. Ausreichend und empfehlenswert für den Ausschluss anderer Erkrankungen sind vielmehr: Blutbild, Blutsenkung oder Plasmaviskosität, C-reaktives Protein und Antikörpertest auf Zöliakie.
Ballaststoffe: Weniger kann mehr sein Am Anfang jeder Behandlung von Reizdarmsyndrom-Patienten stehen Ernährung und Lebensstil auf dem Prüfstand. Ratschläge für eine sinnvolle Ernährung und ausreichend Bewegung sind eine Selbstverständlichkeit, aber was bedeutet «sinnvolle Ernährung» in diesem Zusammenhang? Die Ernährung von Reizdarmsyndrom-Patienten sei oft zu ballaststoffreich, was mit einer Verstärkung der Symptome einhergehen kann, schreiben Dalrymple und Bullock. Darum sollte der Ballaststoffkonsum erfragt und gegebenfalls verringert werden. Hierbei gelten 18 Gramm pro Tag bereits als zu viel, wünschenswert seien für Reizdarmpatienten nur zirka 12 Gramm pro Tag*. Für viele mag dieser NICE-Ratschlag schwer verdaulich sein. Schliesslich wird allenthalben eine segensreiche Wirkung der Ballaststoffe gepredigt. Die entsprechende Kritik lässt nicht auf sich warten: In einem Kommentar in der gleichen «BMJ»-Ausgabe schreibt Nicholas J. Talley, dass man in Studien positive Wirkungen für Ballaststoffsupplemente bei Reizdarmpatienten gefunden habe, aber zu wenige Beweise dafür, dass die Ballaststoffe die Reizdarmsymptomatik verstärkten. Letztlich wisse niemand, wie viel Ballaststoffe ein Mensch wirklich benötigt, so Talley, weswegen er die NICE-Empfehlung von 12 Gramm pro Tag infrage stellt. Gemäss den NICE-Richtlinien sollten Reizdarmpatienten jedenfalls keine Frühstücksflocken oder Kleie essen, sondern lieber auf Nahrungsmittel mit einem hohen Gehalt an löslichen Ballaststoffen (z.B. Haferflocken) oder gegebenenfalls auf Präparate mit löslichen Ballaststoffen zurückgreifen (Quelllaxanzien wie z.B. Isphagula). Wer versuchen möchte, seinen Darm mithilfe von Probiotika zu therapieren, darf dies nach Ansicht der NICE-Autoren übrigens gerne – aber mindestens vier Wochen lang – tun. Aloe vera, Reflexzonenmassage und Akupunktur brächten bei Reizdarmsyndrom hingegen nichts und werden darum nicht empfohlen.
Medikamente und Psychotherapie Gegebenfalls sind Laxanzien beziehungsweise Loperamid sinnvoll. Die Patienten sollten dazu angehalten werden, die Dosis ihrer Medikamente der Stuhlkonsistenz anzupassen, bis wieder ein weicher, gut geformter Stuhl erreicht ist. Wenn die Beschwerden trotz Laxanzien, Loperamid oder Spasmolytika nicht zurückgehen, können trizyklische Antidepressiva als Zweitlinientherapie erwogen werden. Als Anfangsdosis empfehlen die NICE-Autoren 5 bis 10 mg Amitriptylin (bzw. ein Äquivalent) vor dem Schlafengehen und regelmässiges Einbestellen des Patienten zur Überprüfung der Wirksamkeit.
* Ein Esslöffel Müesli hat zirka 5 Gramm Ballaststoffe, 1 Scheibe Vollkornbrot 3 bis 4 Gramm, 1 weisses Weizenmehlbrötchen zirka 1,5 Gramm. Für Gesunde wird zurzeit meist ein Richtwert von 20 bis 25 Gramm genannt.
Die Dosis kann bis auf 30 mg steigen. Falls auch das nichts bringt, kann man ein niedrig dosiertes SSRI-Antidepressivum erwägen. Der Kommentator Talley ist auch hier anderer Meinung und gibt den SSRI in einer Standarddosis den Vorzug. Möglicherweise sei es sinnvoll, bei diarrhöbetontem Reizdarmsyndrom Trizyklika (anticholinerge Wirkung) zu verschreiben und SSRI, wenn Obstipation das dominierende Symptom ist, so Talley. Bringen alle oben genannten Behandlungsversuche innert eines Jahres keine Verbesserung der Reizdarmsymptomatik, empfehlen die NICE-Richtlinien psychotherapeutische Massnahmen wie beispielsweise kognitive Verhaltenstherapie oder Hypnose.
Reichen die Kriterien aus?
James Dalrymple und Ian Bullock lassen keinen Zweifel daran
aufkommen, dass eine positive Reizdarmdiagnose mithilfe der
neu formulierten diagnostischen Kriterien sowie wenigen
Labortests sinnvoll und machbar sei. Überflüssige Untersu-
chungen würden dadurch vermieden und das Verpassen
schwerwiegender Erkrankungen mithilfe der Alarmzeichen
ausgeschlossen – alles in allem sehen sie in den neuen NICE-
Richtlinien einen grossen Fortschritt für Ärzte wie Patienten.
Kommentator Nicholas J. Talley ist sich da nicht so sicher. Er
bemängelt, dass die Richtlinien eher auf Expertenmeinungen
als auf Studiendaten beruhen, und befürchtet Fehldiagnosen,
insbesondere das Verpassen funktioneller Dyspepsie oder pep-
tischer Ulzera. Auch gäben die sogenannten Alarmzeichen
keine sicheren Hinweise auf eine organische Erkrankung.
Talley erwähnt eine Studie, in welcher 84 Prozent der Reiz-
darmpatienten Alarmzeichen für eine organische Erkrankung
aufwiesen, diese bei den wenigsten aber bestätigt wurde (po-
sitiver prädiktiver Wert 7–9%). Überdies hält er die Blutunter-
suchungen bis auf den Zöliakietest für überflüssig. Als Beispiel
führt er eine britische Studie mit 300 Reizdarmpatienten an,
von denen nur 1 Prozent abnorme Werte für Blutsenkung und
C-reaktives Protein aufwiesen.
So gesehen, scheint Nicholas Talley bezüglich der Anwendung
der NICE-Richtlinien in der Praxis zwar Fehldiagnosen zu be-
fürchten, aber sogar noch weniger Tests für die Diagnose des
Reizdarmsyndroms für nötig zu halten.
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Interessenlage: James Dalrymple und Ian Bullock deklarieren keine Interessenkonflikte; Nicholas J. Talley hat in den vergangenen fünf Jahren von 9 Pharmaunternehmen Forschungsgelder erhalten und war als Berater für insgesamt 15 Unternehmen tätig.
Quellen: Dalrymple J, Bullock I: Diagnosis and management of irritable bowel syndrome in adults in primary care: summary of NICE guidance. BMJ 2008; 336: 556–558. Talley NJ: Commentary: Controversies in NICE guidance on irritable bowel syndrome. BMJ 2008; 336: 558–559.
Renate Bonifer
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