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STUDIE REFERIERT
Antipsychotika der ersten und zweiten Generation: die Unterschiede
Auch die Atypika erfordern eine differenzierte Indikation
Eine Metaanalyse randomisierter
kontrollierter Studien hat den
Anspruch der neueren («atypi-
schen») Neuroleptika, in der Be-
handlung schizophrener Patienten
besser zu sein, überprüft.
THE LANCET
Die vergleichsweise hohen Kosten der Neuroleptika der zweiten Generation haben zu einer fortdauernden Debatte über ihren höheren Behandlungsnutzen im Vergleich zu den Neuroleptika der ersten Generation geführt. Frühere Reviews hatten den Nachteil, dass sie jeweils nur auf einen Parameter, die globale Wirksamkeit, abstellten, obwohl die Antipsychotika der zweiten Generation doch gerade für sich in Anspruch nehmen, ein besonders breites Wirksamkeitsspektrum aufzuweisen. Als besondere Vorteile werden die im Vergleich zu konventionellen Neuroleptika geringeren extrapyramidalen Nebenwirkungen sowie die besseren Wirkungen auf Negativsymptome, auf Depression und auf die Lebensqualität von Schizophreniepatienten herausgestrichen. Die Autoren, Psychiater von der Technischen und der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Koautoren aus Schanghai und Baltimore, wollten mit dieser neuen Metaanalyse möglichst viele der für die Vorteilsdiskussion ausschlaggebenden Aspekte abbilden.
Methodik Die Autoren suchten für ihre vom US-amerikanischen Institute of Mental Health finanzierte Analyse randomisierte kontrollierte Studien zu neuen oral verabreichbaren und zu verschiedenen Zeitpunkten in die Therapie eingeführten «atypischen» Neuroleptika, nämlich Amisulprid (Solian®), Aripiprazol (Abilify®), Clozapin (Leponex®, Clopin® eco 25/100), Olanzapin (Zyprexa®), Quetiapin (Seroquel®), Risperidon (Risperdal®), Sertindol (Serdolect®) sowie die in der Schweiz bisher nicht eingeführten Ziprasidon und Zotepin. In den Studien waren diese jeweils mit Neuroleptika der ersten Generation in der Behandlung von Schizophrenien oder verwandten Störungen (schizoaffektiv, schizophreniform, wahnhaft, unabhängig von den benützten diagnostischen Kriterien) verglichen worden. Die Autoren verwendeten akzeptierte Qualitätskriterien und schlossen auch nur Studien ein, bei denen die Neuroleptika der zweiten Generation in optimaler Dosierung eingesetzt worden waren.
Resultate In die Analyse eingeschlossen wurden 239 Publikationen von 150 doppelblinden Studien mit insgesamt 21 533 Teilnehmenden. Vergleichsmedikation aus der Gruppe der «alten» Neuroleptika war in 95 Studien Haloperidol (Haldol®) und in 28 Studien Chlorpromazin (Chlorazin®); in jeweils wenigen weiteren Studien war der Vergleich mit Perphenazin (Trilafon®), Fluphenazin (Dapotum®), Flupentixol (Fluanxol®), Perazin, Tiothixen oder Levomepromazin (Nozinan®) erfolgt. Tabelle 1 zeigt die Wirksamkeit der neun berücksichtigten Neuroleptika der zweiten
Merksätze
■ In dieser Metaanalyse waren bei der Einschätzung der Gesamtwirksamkeit Aripiprazol, Quetiapin, Sertindol, Ziprasidon und Zotepin nicht signifikant von den Neuroleptika der ersten Generation verschieden.
■ Vier Atypika — Amisulprid, Clozapin, Olanzapin und Risperidon — erwiesen sich als wirksamer.
■ Die «number needed to treat» (NNT) für einen zusätzlichen Responder beträgt für Amisulprid 6, Clozapin 7, Olanzapin 11 und für Risperidon 15.
■ Amisulprid, Clozapin, Olanzapin und Risperidon waren bei gesonderter Aufschlüsselung auch in der Behandlung von Positivund Negativsymptomen bei Schizophrenie wirksamer.
■ Obwohl sie ebenfalls als «atypische» Neuroleptika gelten, waren Aripiprazol, Quetiapin, Sertindol, Ziprasidon und Zotepin in der Therapie der Negativsymptome nicht überlegen.
■ In der Analyse waren alle Neuroleptika der zweiten Generation mit viel weniger extrapyramidalen Nebenwirkungen assoziiert. Mit Ausnahme von Clozapin, Olanzapin und Risperidon waren die Atypika den niederpotenten Neuroleptika der ersten Generation in dieser Hinsicht aber nicht überlegen, eine robuste Überlegenheit war nur bei Clozapin zu erkennen.
■ Mit Ausnahme von Aripiprazol und Ziprasidon führten alle Antipsychotika der zweiten Generation im Vergleich mit Haloperidol zu einer signifikant höheren Gewichtszunahme; im Vergleich zu niederpotenten Neuroleptika der ersten Generation bestand jedoch kein Unterschied.
■ Im Vergleich mit Haloperidol waren Clozapin und Quetiapin signifikant stärker, Aripiprazol signifikant schwächer sedierend. Gegenüber niederpotenten Neuroleptika der ersten Generation kam es jedoch nur unter Clozapin zu einer signifikant ausgeprägteren Sedation.
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STUDIE REFERIERT
KOMMENTAR
Prof. Henning Wormstall Psychiatrische Dienste, Spitäler
Schaffhausen
In den therapeutischen Alltag umsetzen!
Von Zeit zu Zeit stellt sich der klinisch tätige Arzt die Frage, wie der schon lange gespeicherte Wissensstoff (semantisches Gedächtnis) konkret überprüft oder aktualisiert (episodisches Gedächtnis) werden kann. Als eine Möglichkeit, am «Puls der Zeit» zu bleiben, können Kongressbesuche, Qualitätszirkel oder das Studium von neueren Studien und Metaanalysen dienen. Die hier besprochene «Lancet»-Metaanalyse zeichnet sich auf dem Boden einer robusten Datenbasis (150 Doppelblindstudien mit über 20 000 Patienten) durch ihre grosse Praxisrelevanz aus, die ein direktes Umsetzen in den therapeutischen Alltag ermöglicht. Als roter Faden dient der Vergleich der sogenannten atypischen Neuroleptika aus der zweiten Generation (SGA) mit den neuroleptischen Klassikern (insbesondere Haloperidol und niederpotente Neuro-
leptika). Deutlich wurde, dass die atypischen Neuroleptika in keiner Weise eine homogene Medikamentengruppe bilden, sondern sich bezüglich Nebenwirkungen, Zusatzeffekten oder in ihrer Hauptwirkung von älteren Präparaten differenziert abgrenzen, aber gelegentlich auch nicht unterscheiden. So verursachten alle SGA zwar weniger «typische» extrapyramidale Nebenwirkungen (EPS), jedoch waren nur Amisulprid, Clozapin, Olanzapin und Risperidon in Bezug auf die Behandlung von positiven oder negativen Symptomen (Hauptwirkung) überlegen. Antidepressiv waren (ausser Risperidon) die untersuchten SGA wirksamer, bezüglich Gewichtsneutralität hingegen nur Aripiprazol besser als das altbekannte Haloperidol. Auf den heutzutage wichtigen Zusammenhang zwischen Studiendesign, Pharmasponsoring und Studienresultat sind die Autoren fundiert eingegangen. Wünschenswert wäre es, wenn dem Thema Lebensqualität in zukünftigen wissenschaftlichen Untersuchungen mehr Bedeutung beigemessen würde. Erstaunlich ist, dass auch nach einem halben Jahrhundert Haloperidol dessen optimale Dosierung (innerhalb der gängigen Eckpunkte von 5—20 mg) immer noch nicht schärfer definiert werden konnte. ■
Generation im Vergleich zu älteren Neuroleptika hinsichtlich der Gesamt-, der Negativ- und der Positivsymptomatik sowie auf Depression und Lebensqualität der Patientinnen und Patienten. Offene und einfach verblindete Studien erzielten sowohl für verschiedene Bereiche der klinischen Wirksamkeit als auch für die kolportierte Verträglichkeit signifikant höhere Effektgrössen als die doppelblinden Untersuchungen, sie wurden deshalb von der Analyse ausgeschlossen. Bei der Einschätzung der Gesamtwirksamkeit waren fünf Antipsychotika der zweiten Generation – Aripiprazol, Quetiapin, Sertindol, Ziprasidon und Zotepin – nicht signifikant verschieden zu Neuroleptika der ersten Generation. Vier – Amisulprid, Clozapin, Olanzapin und Risperidon – erwiesen sich als wirksamer. Die «number needed to treat» (NNT) für einen zusätzlichen Responder beträgt – soweit berechenbar – für Amisulprid 6 (95%-Konfidenzintervall 4–10), Cloza-
pin 7 (5–13), Olanzapin 11 (7–24) und für Risperidon 15 (9–36). Diese vier Atypika waren auch in der Behandlung von Positiv- und Negativsymptomen bei Schizophrenie wirksamer. Obwohl sie ebenfalls als «atypische» Neuroleptika gelten, waren Aripiprazol, Quetiapin, Sertindol, Ziprasidon und Zotepin in der Therapie der Negativsymptome nicht überlegen. Bei den Positivsymptomen ergab sich ebenfalls keine Überlegenheit, Quetiapin war sogar weniger wirksam (Tabelle 1). Anders war das Muster bei der Beeinflussung von Depression: Hier wirkten Amisulprid, Clozapin, Olanzapin, Aripiprazol und Quetiapin besser als Neuroleptika der ersten Generation, während die Wirkung von Risperidon nicht signifikant war. Nur 14 Langzeitstudien berichteten über Rückfallraten. In dieser Hinsicht signifikant besser waren demnach Olanzapin (relatives Risiko [RR] 0,67 [0,49–0,92]; NNT 17 [8–100]), Risperidon (RR 0,74 [0,63–0,87], 11 [7–33]), und Sertindol
(RR 0,17 [0,04–0,73], 14 [8–50]). Für Amisulprid, Aripiprazol und Clozapin bestand keine Überlegenheit. Daten zur Lebensqualität lieferten lediglich 17 Studien. Nur Amisulprid, Clozapin und Sertindol waren hier besser als Neuroleptika der ersten Generation. 3 Studien mit Olanzapin fanden keinen Unterschied in der Patienteneinstellung gegenüber der Therapie als indirekten Hinweis auf die Beeinflussung der Lebensqualität. Lehrbücher unterscheiden bei den Neuroleptika der ersten Generation zwischen hochpotenten (z.B. Haloperidol) und niederpotenten Wirkstoffen, die zwar ähnlich wirksam, aber in den Nebenwirkungen unterschiedlich sind. In der Analyse waren alle Neuroleptika der zweiten Generation mit viel weniger extrapyramidalen Nebenwirkungen assoziiert (Tabelle 2). Mit Ausnahme von Clozapin, Olanzapin und Risperidon waren die Atypika den niederpotenten Neuroleptika der ersten Generation aber nicht überlegen; eine robuste Überlegenheit, basierend auf zwei Studien, war nur bei Clozapin zu erkennen. Mit Ausnahme von Aripiprazol und Ziprasidon führten alle Antipsychotika der zweiten Generation im Vergleich mit Haloperidol zu einer signifikant höheren Gewichtszunahme. Im Vergleich zu niederpotenten Neuroleptika der ersten Generation bestand jedoch kein Unterschied. Im Vergleich mit Haloperidol waren Clozapin und Quetiapin signifikant stärker, Aripiprazol signifikant schwächer sedierend. Gegenüber niederpotenten Neuroleptika der ersten Generation kam es jedoch nur unter Clozapin zu einer signifikant ausgeprägteren Sedation. Die Autoren konnten für verschiedene modifizierende Faktoren wie Studienfinanzierung durch die Pharmaindustrie, Wahl der Vergleichsdosierungen oder prophylaktische Medikation von AntiParkinson-Mitteln keinen konsistenten Einfluss dokumentieren.
Diskussion In der Wertung ihrer Analyseergebnisse widmen die Autoren dem Anspruch vieler Pharmafirmen, dass ihre «atypischen»
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STUDIE REFERIERT
Tabelle 1: Wirksamkeit von neun Antipsychotika der zweiten Generation im Vergleich zu Neuroleptika Tabelle 1: der ersten Generation
Wirkstoff Amisulprid (Solian®) Aripiprazol (Abilify®) Clozapin (Leponex®, Clopin® eco 25/100) Olanzapin (Zyprexa®) Quetiapin (Seroquel®) Risperidon (Risperdal®) Sertindol (Serdolect®) Ziprasidon (in CH nicht eingeführt) Zotepin (in CH nicht eingeführt)
Gesamtsymptomatik besser n.s. besser
besser n.s. besser n.s. n.s.
n.s.
Positivsymptome besser n.s. besser
besser n.s. besser n.s. n.s.
n.s.
Negativsymptome besser n.s. besser
besser n.s. besser n.s. n.s.
n.s.
Depression besser besser besser
Lebensqualität besser n.s. besser
besser besser n.s. n.s. n.s.
n.s. n.s. n.s. besser n.s.
n.s. n.s.
besser = Hedges’ g -0,13—0,52, entsprechend einer geringen bis mittleren Effektstärke; n.s. = Effektstärke nicht signifikant
Tabelle 2: Nebenwirkungen von neun Antipsychotika der zweiten Generation im Vergleich zu Neuroleptika Tabelle 2: der ersten Generation
Wirkstoff
Amisulprid (Solian®) Aripiprazol (Abilify®) Clozapin (Leponex®, Clopin® eco 25/100) Olanzapin (Zyprexa®) Quetiapin (Seroquel®) Risperidon (Risperdal®) Sertindol (Serdolect®) Ziprasidon (in CH nicht eingeführt) Zotepin (in CH nicht eingeführt)
Extrapyramidale Nebenwirkungen
im Vergleich zu Haloperidol*
im Vergleich zu niederpotenten Neuroleptika** der ersten Generation
geringer
n.s.
geringer
k.D.
geringer
geringer
geringer geringer geringer geringer geringer
geringer n.s. geringer k. D. geringer
geringer
geringer
Gewichtszunahme
im Vergleich zu Haloperidol*
im Vergleich zu niederpotenten Neuroleptika** der ersten Gen.
mehr n.s.
n.s. k.D.
mehr n.s.
mehr k.D. mehr n.s. mehr k.D. mehr k.D. n.s. n.s.
mehr n.s.
Sedation
im Vergleich zu Haloperidol*
n.s. seltener häufiger
im Vergleich zu niederpotenten Neuroleptika** der ersten Gen.
k.D.
k.D.
seltener
n.s. seltener n.s. n.s. n.s.
n.s. n.s. n.s. k.D. n.s.
n.s. n.s.
geringer = relatives Risiko (RR); mehr = Differenz in Kilogramm; seltener/häufiger = Anzahl der Pat.; n.s. = nicht signifikant; k.D. = keine Daten * Anti-Parkinson-Medikamente notwendig; ** mind. 1 extrapyramidale Nebenwirkung
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STUDIE REFERIERT
Gesamtsymptomatik
Positivsymptome
Negativsymptome SGA schlechter SGA besser
SGA schlechter SGA besser SGA schlechter SGA besser
Hedges’ g
–0,7 –0,6 –0,5 –0,4 –0,3 –0,2 –0,1
0 0,1 0,2
–0,7 –0,6 –0,5 –0,4 –0,3 –0,2 –0,1
0 0,1 0,2 0,3 0,4
–0,6 –0,5 –0,4 –0,3 –0,2 –0,1
0 0,1 0,2 0,3 0,4
–0,9 –0,8 –0,7 –0,6 –0,5 –0,4 –0,3 –0,2 –0,1
0 0,1 0,2 0,3
Abbildung: Antipsychotika der zweiten Generation im Vergleich zu Antipsychotika der ersten Generation — Wirksamkeit in verschiedenen Bereichen. Daten als Hedge’s g (95%-Konfidenzintervall [KI]). NB: Resultate sind mit p < 0,05 signifikant, wenn die 95%-KI nicht mit der x-Achse überlappen. SGA = Antipsychotika der zweiten Generation (second-generation antipsychotic drugs). Neuroleptika die Negativsymptome wirksamer bekämpfen, einigen Raum: «Unsere Metaanalyse bestätigt diese verbreitete Vorstellung nicht, da die Wirkungen einiger Antipsychotika der zweiten Generation sich von den Neuroleptika der ersten Generation nicht signifikant unterschieden. Die wirksamsten Medikamente schnitten in allen Wirksamkeitsbereichen besser ab, während die anderen nur so wirksam waren wie Neuroleptika der ersten Generation, obwohl die Effekt- grössen für Negativsymptome oft höher waren als für Positivsymptome.» Anders waren die Ergebnisse für den Outcome Depression. Hier scheint Risperidon den Neuroleptika der ersten Generation nicht überlegen, während Aripiprazol und Quetiapin besser wirken, was auch mit der Evidenz ihrer Effektivität bei Major Depression übereinstimmt. Zum Ausmass der berechneten Effekt- grössen bemerken die Autoren, dass sie für die Atypika nach gängiger Klassifika- tion nur gering bis mittelstark waren, halten aber auch fest, dass Schizophre- nien die Patienten gewöhnlich ein Leben lang betreffen, weshalb auch kleine Nut- zen wichtig sein können. Als wichtige Botschaft betonen die Auto- ren Unterschiede zwischen den ein- zelnen Wirkstoffen der Antipsychotika der zweiten Generation. Sie sind keine homogene Medikamentenklasse, ebenso wenig wie die Neuroleptika der ersten Generation. Vielmehr gibt es wichtige Unterschiede bei den Eigenschaften Wirksamkeit, Nebenwirkungen, Kosten und Pharmakologie (z.B. ist Amisulprid kein Serotoninhemmer): «Eine unzutref- fende Verallgemeinerung schafft Verwir- rung, und deshalb dürfte die Klassifizie- rung aufgegeben werden.» ■ Stefan Leucht et al.: Second-generation versus first-generation antipsychotic drugs for schizophrenia: a meta-analysis. Lancet 2009; 373: 31—41. Nachdruck der übersetzten Abbildung mit Genehmigung von Elsevier. Interessenlage: Der Erstautor deklariert Vortrags- und Beratungshonorare der Antipsychotika anbietenden Firmen SanofiAventis, Bristol-Myers Squibb, Lilly, Janssen, Lundbeck und Pfizer. Halid Bas Depression SGA schlechter SGA besser Amisulprid Aripiprazol Clozapin Olanzapin Quetiapin Risperidon Sertindol Ziprasidon Zotepin LESERZUSCHRIFT Entlisberg — zu den Vorfällen im Zürcher Pflegeheim Die Neuigkeiten vom Entlisberg lassen kaum Zweifel offen: Hier waren Sadisten und nicht Überforderte am Werk. Führungsetage und Fachleute bemühten sich schnellstens, die Pflegenden als bestens qualifizierte, aber überforderte Schafe der schwarzen Sorte hinzustellen. Das ist eine gefährliche Fehldiagnose. Überforderungen sind im Medizinalbereich häufig. Psychisch integre Menschen, die dabei Fehler begehen, reagieren mit Scham und Schrecken und bemühen sich meist um Wiedergutmachung. Sie verstecken sich, weinen sich bei Vertrauten aus, versinken in Depression, aber sie starten keinen voyeuristischen Karneval. Eine sorgfältige Beobachtung der Menschen, wozu insbesondere die ärztliche Warte Gelegenheit bietet, zeigt, dass das Sadistische vielerorts schlummert und leicht hervorbrechen kann. Diesbezüglich naive Führungsleute sind fehl am Platz, da sie dessen Auftreten begünstigen. Grausamkeiten werden durch Befehle, Disziplin und Kontrollen behindert. Das eigentliche, hintergründige Klima gründet aber in Werten wie Ehre und Pflicht, die wiederum von Kultur zu Kultur anders sind. Solche Dinge müssen der Führungsetage vertraut sein. Kurz, die Reduktion auf Überforderung verkennt die Gefahr, macht die falsche Kategorie zu den Tätern und lenkt von der Inkompetenz der medizinischen, pflegerischen, administrativen und politischen Führung ab. ■ Max Kälin MD, Dr. med. Dr. sc. nat., Badenerstrasse 334, 8004 Zürich 250 ARS MEDICI 6 ■ 2009