Transkript
arsenicum
E s lebe die Routine! Speziell jetzt, wenn der Hausarzt selbst kränker ist als seine Patienten, weil er seit Wochen eine Grippe ausbrütet. Mit verklebten Augen, verhocktem Husten und verstopfter Nase schleppt er sich in die Praxis, schaut mit Grauen in die übervolle Agenda und hört mit Schaudern von der MPA, dass er heute auch noch Dienst hat. Er schaltet den Autopilot ein als der erste Patient das Sprechzimmer betritt. Jetzt wird nur noch in fest eingefrästen differenzialdiagnostischen Schemata gedacht. Heute ist der Hausarzt weder gescheit, noch kreativ und wenn er ehrlich wäre – was er sich in seinem momentanen Zustand jedoch untersagt – dann könnten ihn alle kreuzweise. Die körperlichen Untersuchungen führt der Grundversorger heute durch wie jeder andere Handwerker. Tarmed gibt den Takt vor: Grundversorger klein, Grundversorger umfassend, Rheuma klein ... Mit der Präzision eines japanischen Quarzuhrwerks spricht der Hausarzt die Anweisungen aus: «Tief ein- und ausatmen, mit offenem Mund, jaaa, guuut, tiiiiiief, und jetzt husten bitte ...» Seit Jahrzehnten weiss man, wie man bei älteren Menschen einen Ganzkörperstatus macht, ohne dass sie sich öfters drehen oder gar aufstehen und wieder hinlegen müssen. Das flutscht nur so: vom schütteren Scheitel mit seborrhoischen Schuppen über den Arcus lipoides gleitet der klinische Blick des Hausarztes zur Septumdeviation und den sanierten Zähnen, das beidseitige Cerumen obturans wird inspiziert und extrahiert. Der Instrumentenwechsel zum Stethoskop erfolgt reibungslos. Ein bisschen so tun, als ob man trotz Presbyakusis und grippebedingten Paukenergüssen beidseits etwas hören würde, ein bisschen am Abdomen des Adipösen herumdrücken und schon werden die Reflexe geklopft. Den Scherz «Keine Angst, ich mache gar nichts Böses, ausser mit dem Reflexhammer zuzuschlagen!», macht man heute schon zum vierten Mal. Genau wie die Aussage: «Machen Sie sich keine Sorgen, das kommt gut!» Und schon betritt ein weiterer Harnwegsinfekt das Sprechzimmer. Pardon, natürlich eine Patientin mit Harnwegsinfekt. Das Endlosband tönt aus dem Kehlkopf des Hausarztes, erklärt die Pathogenese von Harnwegsinfekten und wie man sie verhindert. Als man Medizin studierte, meinte man, dass man nach dem Staatsexamen Leben retten würde. Man
realisierte damals nicht, dass man dies als Grundversorger eher selten tut, aber dafür täglich Menschen erklärt, in welcher Richtung sie nach dem Stuhlgang wischen sollten. Es folgt die übliche zirka zweiminütige Diskussion über Antibiotika, und schon geleitet man die Patientin mit «Machen Sie sich keine Sorgen, das kommt gut!» hinaus. Dann folgt viermal Rückenschmerz, drei männliche, ein weiblicher, alle um die Vierzig. Ganganalyse, Hackengang, Zehenspitzengang, Schober gross und klein, Fingerbodenabstand, «Macht es weh, wenn ich hier drücke?», und wieder Reflexeklopfen mit dem Hammerscherz. Hahaha. Nachmittags, nach dem 15. Rückenschmerz, braucht man etwas Abwechslung. Man macht völlig unindiziert ein konventionelles Röntgenbild und geniesst das Gefühl, dem Krankenversicherer etwas nicht Zweckmässiges, Unwirtschaftliches anzutun. LWS in zwei Ebenen. Ein «Amortogramm», wie die MPA spottet. Doch plötzlich schreckt der Hausarzt aus seiner grippalen Verdumpftheit hoch, denn hier ist ein Bambusphänomen zu sehen. Ein Bechterew, wie er im Lehrbuch steht. Nun misst man auch den Thoraxumfang in In- und Expiration, fragt genauer, nimmt Blut für die Bestimmung von HLA B 27 ab. «Machen Sie sich keine Sorgen!», sagt man aufmunternd. «Das kommt gut!», lässt man aus. Denn es kommt wahrscheinlich nicht gut. Genau wie beim alten Patienten mit Prostatakrebs, der zur Besprechung des Szintigrafiebefunds kommt. Überall neue Metastasen, jetzt nicht nur in Becken und Femora, sondern auch in Wirbelsäule, Rippen und Sternum. Routiniert beschönigt, vernütigt, bagatellisiert man, wie man das seit Jahrzehnten tut. Die Wahrheit möchte dieser Patient häppchenweise – mehr wäre unverdaulich. Irgendwann kommt dann doch noch der Feierabend. Der letzte Patient ist ein Kollege. Er stöhnt über den Alltagstrott. «Heute 12 Endoskopien, kannst du dir vorstellen, wie tödlich langweilig das ist?», jammert er. «Von morgens um acht Uhr an haben sie mich angefurzt.» Empathisch nickt der Grundversorger. Immerhin hatte er die Auswahl zwischen Grippe, Rückenschmerz, HWI und «irgendwie fühle ich mich nicht so ganz Hundert».
Business as usual
134 ARS MEDICI 4 ■ 2009