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FORTBILDUNG
ADHS: Diagnose und Therapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
Zusammenfassung der NICE-Empfehlungen
ADHS-Kinder fallen durch Unaufmerksamkeit, Hyper-
aktivität und Impulsivität auf. Manchmal bestehen
die Symptome in unterschiedlicher Ausprägung bis
ins Erwachsenenalter. Für die Behandlung stehen ver-
schiedene Medikamente und symptomatische Mass-
nahmen wie Elterntraining, psychoedukative Verfah-
ren, Verhaltens- und Psychotherapie zur Verfügung.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) ist eine im Kindesalter häufige Erkrankung, die verschiedene Lebensbereiche des Kindes betrifft und seine Lernleistung, die Beziehung zu Gleichaltrigen sowie sein Selbstwertgefühl ernsthaft beeinträchtigt. Viele betroffene Kinder geraten in soziale Isolation und lassen sich schlecht lenken. Etwa 15 Prozent der ADHS-Kinder sind auch im Erwachsenenalter noch von der Erkrankung betroffen, und ein noch höherer Prozentsatz entwickelt eine Persönlichkeitsstörung und/oder tendiert zu Substanzmissbrauch. Während der vergangenen zehn Jahre wurde in England die Diagnose ADHS zunehmend häufig gestellt, parallel dazu nahm die Verordnung von Stimulanzien zu. Der Einsatz von Stimulanzien (bei denen die Gefahr des Missbrauchs besteht) bei Kindern wird kontrovers diskutiert: einerseits wegen der Sicherheit dieser Medikamente, andererseits wegen des Missbrauchsrisikos. T. Kendall und Kollegen fassen im «British Medical Journal» die aktuellen evidenzbasierten Empfehlungen des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) zu Diagnose und Management des ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zusammen.
Diagnose Ein ADHS kann diagnostiziert werden, wenn die folgenden drei Punkte erfüllt sind: ■ Die Symptome Hyperaktivität, Impulsivität und Unauf-
merksamkeit erfüllen die ADHS-Kriterien des DSM-IV
(Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, fourth edition) oder die Kriterien der hyperkinetischen Störung der ICD-10 (international classification of diseases, 10th revision). ■ Die Störung ist zumindest von mässiger klinischer und/ oder psychosozialer Bedeutung. Dies trifft zu, wenn das Kind in verschiedenen Bereichen nicht den Stand erreicht hat, der seinem chronologischen und mentalen Alter entspricht (z.B. entsprechende Leistungen in der Schule oder bei den Hausaufgaben, Geschicklichkeit, Vermeidung üblicher Gefahren, Aufbau positiver Beziehungen in der Familie und mit Gleichaltrigen, Entwicklung eines positiven Selbstbildes und Vermeidung krimineller Aktivitäten). Vergleichbare Störungen können auch bei Erwachsenen beobachtet werden. ■ Die ADHS-Symptome liegen konsistent in verschiedenen Umgebungen vor (d.h. sie werden in zwei oder mehr Bezugssystemen beobachtet, beispielsweise zu Hause und in der Schule oder am Arbeitsplatz).
Bei der Untersuchung des Patienten müssen folgende Aspekte berücksichtigt werden: Bedürfnisse des Patienten, begleitende psychiatrische Erkrankungen, soziale, familiäre, schulische und/oder berufliche Verhältnisse, körperliche Gesundheit. Bei Kindern und Jugendlichen muss ausserdem die psychische Gesundheit der Eltern oder Betreuer beachtet werden.
Merksätze
■ Bei ADHS-Kindern im Vorschulalter besteht die Therapie insbesondere aus Elterntraining oder einem psychoedukativen Programm. Eine medikamentöse Behandlung wird für diese Altersgruppe nicht empfohlen.
■ Liegt ein mässig ausgeprägtes ADHS bei Schulkindern oder Jugendlichen vor, empfiehlt das NICE zunächst Elterntraining und eine Gruppentherapie für das Kind/den Jugendlichen.
■ Für Schulkinder und Jugendliche mit schwerem ADHS ist eine Pharmakotherapie mit Methylphenidat oder Atomoxetin die Behandlung erster Wahl.
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ADHS: DIAGNOSE UND THERAPIE BEI KINDERN, JUGENDLICHEN UND ERWACHSENEN
KOMMENTAR
nungspunkte, für unerwünschtes Verhalten Punktabzug. Auch für spezifisches ausgeprägt aufsässiges Verhalten werden Punkte abgezogen.
Prof. Dr. Dr. Andreas Maercker, Psychologisches Institut, Universität Zürich
Stufenweises Vorgehen
Die NICE-Empfehlungen zeichnen sich wieder einmal durch besondere Ausgewogenheit aus. Denn evidenzbasierte Metaanalysen und Empfehlungen sind ja durchaus oft sehr verschieden, je nachdem wie ausgewogen die Ein- und Ausschlusskriterien für den Studienüberblick gehandhabt werden.
Das stufenweise Vorgehen der NICE-Empfehlungen schliesst ein, Kindern vor Schuleintritt keine einschlägigen Psychopharmaka zu geben und bei den meisten Schulkindern und Jugendlichen als Methode der ersten Wahl pädagogisch-psychologische Programme durchzuführen. Solche Programme beziehungsweise Verhaltenstherapien werden in der Schweiz an vielen Orten angeboten (z.B. www.schulpsychologie.ch).
Wenn nur Schulkindern und Jugendlichen mit schwerem ADHS als erste Wahl Methylphenidat oder Atomexetin — und gleichzeitig auch Eltern-, Schultraining oder Therapie — angeboten werden sollte, bleibt natürlich die Frage, ob die Diagnose eines schweren ADHS immer sachgerecht gestellt wird. Leider variieren hier die Diagnosegewohnheiten in der Praxis sehr stark, obwohl recht einfach handhabbare Kriterien für die Diagnose und Differenzialdiagnose vorliegen. Wegen der möglichen Nebenwirkungen ist die kinderpsychiatrische Führung dieser Patienten ein absolutes Muss.
Einzig die NICE-Empfehlungen für Erwachsene mit ADHS sind nicht so ausgewogen: Hier ist die Kombination von Pharmakotherapie und Psychotherapie weiterhin der beste Standard, und Monotherapien sollten nur in absoluten Ausnahmefällen indiziert sein. ■
Behandlung von Kindern und Jugendlichen Kinder im Vorschulalter Eltern oder Betreuern von Vorschulkindern sollte ein Elterntraining oder ein psychoedukatives Programm als Behandlung erster Wahl angeboten werden. Eine medikamentöse Behandlung wird bei ADHS-Kindern im Vorschulalter nicht empfohlen.
Was Lehrer von Schulkindern tun können Lehrer, die eine Ausbildung zu ADHS und dessen Management absolviert haben, können in der Schule verhaltenstherapeutische Methoden einsetzen, um ADHS-Kindern zu helfen. Beispielsweise kann der Lehrer mit einem Belohnungssystem arbeiten. Hierzu listet er die Pflichten des Kindes auf und ordnet jeder Verpflichtung einen bestimmten Wert zu. Für erwünschtes Verhalten und Emotionskontrolle erhält das Kind Beloh-
Schulkinder und Jugendliche mit mässig ausgeprägtem ADHS Den Eltern oder Betreuern sollte die Teilnahme an einem Elterntraining oder an einem psychoedukativen Programm angeboten werden, entweder als alleinige Massnahme oder in Kombination mit einer Gruppentherapie für das Kind oder den Jugendlichen (kognitive Verhaltenstherapie und/oder soziales Kompetenztraining). Elterntraining kombiniert meist Elemente der beiden wichtigsten Ansätze: verhaltenstherapeutische Programme, in denen Eltern lernen, mit dem problematischen Verhalten des Kindes umzugehen und dieses zu reduzieren, sowie Beziehungstrainings, in denen Eltern vermittelt wird, wie sie ihre eigenen Gefühle und ihr Verhalten sowie Gefühle und Verhalten ihres Kindes besser verstehen und die Kommunikation mit ihrem Kind verbessern können. Wenn Eltern oder Betreuer an einem Elterntraining oder psychoedukativen Programm teilnehmen, kann es günstig sein, wenn der Kursleiter dem Lehrer des Kindes schriftliches Informationsmaterial über die in den Sitzungen vermittelten verhaltenstherapeutischen Massnahmen zukommen lässt. Eine Pharmakotherapie sollte Patienten angeboten werden, die nichtmedikamentöse Massnahmen ablehnen sowie denjenigen, deren Symptome sich nicht ausreichend bessern, nachdem die Eltern entsprechende Trainings absolviert haben oder nachdem der Betroffene selbst an einer Gruppenpsychotherapie teilgenommen hat. Je nach eventuellen Begleiterkrankungen, möglichen Nebenwirkungen und Patientenpräferenz kann dem Kind oder Jugendlichen Methylphenidat, Atomoxetin oder Dexamfetamin angeboten werden. Die medikamentöse Behandlung sollte nur von einem entsprechend qualifizierten Therapeuten mit ADHS-Erfahrung begonnen werden und auf einer umfassenden Untersuchung basieren. Im Rahmen der interdisziplinären Betreuung des ADHS-Patienten kann der Haus- oder Kinderarzt Folgerezepte ausstellen und die medikamentöse Behandlung überwachen.
Schulkinder und Jugendliche mit schwer ausgeprägtem ADHS Patienten mit schwerem ADHS sollte eine medikamentöse Therapie mit Methylphenidat oder Atomoxetin angeboten werden, denn für diese Patientengruppe ist die Pharmakotherapie Mittel erster Wahl. Gleichzeitig sollte den Familien die Teilnahme an einem Elterntraining oder an einem psychoedukativen Programm empfohlen werden. Die Pharmakotherapie sollte immer von einem entsprechend qualifizierten, in der ADHS-Behandlung erfahrenen Therapeuten eingeleitet werden und auf einer umfassenden Untersuchung basieren. Die medikamentöse Therapie sollte immer Teil eines umfassenden Behandlungskonzepts sein, zu dem auch eine psychologische, verhaltenstherapeutische und pädagogische Beratung sowie entsprechende Interventionen gehören.
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Ernährungsberatung Die Elimination von künstlichen Lebensmittelfarben und Zusatzstoffen aus der Ernährung wird nicht als generelle Massnahme für alle ADHS-Kinder empfohlen.
Die medikamentöse Behandlung sollte stets Teil eines umfas-
senden Therapiekonzepts sein, das auch die psychologischen,
verhaltenstherapeutischen, schulischen und/oder beruflichen
Bedürfnisse des Patienten berücksichtigt.
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Behandlung von Erwachsenen Erwachsenen ADHS-Patienten sollte eine medikamentöse Therapie mit Methylphenidat als Mittel erster Wahl angeboten werden, es sei denn, der Patient bevorzugt einen psychologischen Ansatz. Die Pharmakotherapie sollte immer von einem entsprechend qualifizierten, in der ADHS-Behandlung erfahrenen Therapeuten eingeleitet werden und auf einer umfassenden Untersuchung basieren.
T. Kendall (National Collaborating Centre for Mental Health, Research and Training Unit, London) et al.: Diagnosis and management of attention-deficit/hyperactivity disorder in children, young people, and adults: summary of NICE guidance. British Medical Journal 2008; 337: a1239
Interessenlage: Der Erstautor stellte die Gruppe zur Entwicklung der Leitlinie zusammen und erhält jährlich eine bestimmte Summe vom NICE für das National Collaborating Centre for Mental Health sowie für die Entwicklung von NICE-Guidelines. Einer der Koautoren war Vorsitzender der Arbeitsgruppe, welche die «NICE guideline on the diagnosis and treatment of ADHD in children, young people and adults» erarbeitete.
Andrea Wülker
BEKANNTMACHUNG
15th Wonca Europe Conference 32. SGAM Kongress / 32e Congrès de la SSMG
16. bis 19. September 2009, Congress Center Basel
Thema: The Fascination of Complexity – Dealing with Individuals in a Field of Uncertainty
Organisationskomitee: Bruno Kissling, MD Prof. Peter Tschudi, MD Heinz Bhend, MD Bruce Brinkley, MD Dagmar Haller-Hester, MD, PhD François-Gérard Héritier, MD Lilli Herzig, MD Astrid Lyrer, MD Monika Reber Feissli, MD
Wissenschaftliches Komitee: Prof. Peter Tschudi, MD, Basel Lilli Herzig, MD, Lausanne Prof. Edouard Battegay, MD, Zürich Prof. André Busato, MSc, PhD, Bern Prof. Jacques Cornuz, MD, MPH, Lausanne Prof. Jean-Michel Gaspoz, MD, MSc, Genf Prof. Mario Gehri, MD, Lausanne Urs Glenck, MD, Zürich Beat Künzi, MD, Bern Danièle Lefebvre, MD, Genf Milo Puhan, MD, PhD, Zürich Andreas Rothenbühler, MD, Bern
Administrative Leitung: Dr. Schlegel Healthworld AG Heidi Fuchs / Andrea Studer Sennweidstrasse 46 6312 Steinhausen Tel. 041-748 76 00 Fax 041-748 76 11 E-Mail: a.studer@schlegelhealth.ch Internet: www.congress-info.ch
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