Transkript
Wenn Neinsagen wehtut
Die britische Evaluationsbehörde NICE polarisiert
BERICHT
Ja sagen kann schwierig sein, Nein sagen braucht in aller Regel aber mehr Mut. Vor allem wenn es darum geht, Menschen eine Behandlung zugänglich zu machen oder zu verweigern.
HALID BAS
Das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) hat nicht nur einen recht hochtrabenden Namen, sondern seit 2002 zumindest in England und Wales eine weitreichende Entscheidungskompetenz, da der staatliche Gesundheitsdienst NHS dort Medikamente und andere Therapien bezahlen muss, wenn sie von NICE im Rahmen von Technologieeinschätzungsverfahren empfohlen werden.
Sicht der Betroffenen verlieh ein 57-jähriger Nierenkrebspatient letzten Herbst vor einem NICE-Ausschuss Ausdruck, der mit Sunitinib während zweier Jahre eine Stabilisierung des Tumorleidens erfahren hatte und während dieser Zeit trotz einiger Beschwerden arbeitsfähig geblieben war: «Die Lebensqualität, die mir dieses Medikament gibt, lässt sich überhaupt nicht beziffern.» Weitere umstrittene Entscheidungen betrafen beispielsweise die Behandlung der Osteoporose («nur noch Alendronat-
Reihen von Praktikern, sorgte die Guideline Nr. 67 zur Lipidmodifikation (Abbildung). NICE empfiehlt hier zur Primärprävention 40 mg Simvastatin («oder ein Medikament von ähnlicher Wirksamkeit und ähnlichen Ankaufskosten»), bei potenziellen Interaktionen oder Kontraindikationen Pravastatin und wendet sich gegen den routinemässigen Einsatz höher potenter Statine, Fibrate oder Austauschharze.
Vorbild für den Rest der Welt? NICE kann man als herzlose Rationierungsinstitution oder als furchtlosen und unparteiischen Botschafter für die Notwendigkeit der Prioritätensetzung im Gesundheitswesen sehen. Teilt man eher die zweite Sicht, kommt NICE Vorbildfunktion auch für andere Länder zu,
Quelle steter Ärgernisse NICE ist mehrfach kritisiert worden, weil Entscheidungen allzu lange auf sich warten liessen (und hat wiederholt Besserung versprochen – Swissmedic lässt grüssen …). Dies kam auch dann vor, wenn der Entscheid schliesslich positiv ausfiel, und verzögerte die Verfügbarkeit etlicher neuer Therapien. Einige Entscheidungen erscheinen auch als unfair, und die Institution ist wegen ihrer Empfehlungen bei Medikamenten gegen Krebs und andere lebensbedrohliche Erkrankungen verteufelt worden. Entsprechend werden diese Entscheide oft vor Gericht angefochten, und etliche Einsprachen sind auch durchgekommen. Besonders umstritten waren für die Kostenübernahme wegweisende Empfehlungen im Bereich neuer onkologischer Therapien, beispielsweise bei fortgeschrittenem Nierenzellkarzinom. Der
«Wir versuchen, nicht unfreundlich oder grausam zu sein. Wir versuchen bloss, ständig für alle besorgt zu sein.»
generika bezahlen»), den Einsatz von Drug-eluting-Stents («nur wenn die Preisdifferenz zu einfachen Metallstents nicht grösser als 300 £ ist») oder neue Wirkstoffe gegen die altersbedingte Makuladegeneration mit Gefässneubildungen («Ranibizumab Ja, Pegatinib Nein»). Dies hatte teilweise – und auf dem Umweg von Verhandlungen zwischen Pharmafirmen und NHS – zur Folge, dass kostensenkende Übereinkommen gefunden werden konnten, indem Hersteller für besonders teure Innovationen einen Teil des Risikos für das Nichtansprechen auf die Therapie übernehmen. Für einige Einwände aus interessierten Kreisen, aber auch für grundsätzliche Zustimmung zu den Empfehlungen aus den
selbst wenn deren Gesundheitswesen völlig anders aufgebaut ist als das britische. So ist zum Beispiel in den USA die Schaffung eines Instituts für vergleichende Effektivitätsforschung im Gespräch. Seine Zielsetzung soll allerdings eingeschränkter sein: Das Institut würde Evidenz generieren, was im Gesundheitswesen funktioniert (oder nicht funktioniert) und auch entsprechende Forschung finanzieren, würde aber Kosten oder Krankenversicherungsaspekte ausklammern.
NICE als Rationierungsmaschine Der NHS wird aus Steuergeldern finanziert und muss darauf Rücksicht neh-
ARS MEDICI 3 ■ 2009 115
BERICHT
Lipid modification
Lipid modification therapy
Lipid modification therapy
Primary prevention
Consider drugs for primary and secondary prevention effect on CVD morbidity
Offer 40 mg simvastatin (or drug of similar efficacy and acquisition cost) as part of the management strategy for adults over 40 who have a 20% or greater 10-year risk of developing CVD, based on Framingham 1991 10-year risk equations and clinical judgement If there are potential drug interactions or 40 mg simvastatin is contraindicated, offer a lower dose of simvastatin or pravastatin
Do not routinely offer:
higher intensity statins fibrates
anion exchange resins
Do not offer nicotinic acid or the combination of an anion exchange resin, fibrate or a fish oil supplement with a statin
There is no target level for total or LDL cholesterol for primary prevention
Review drug therapy in line with good clinical practice
Repeat lipid profile is not necessary but review management according to clinical judgement and patient preference
Ongoing
Measure liver function within 3 months and at 12 months, but not again unless clinically indicated If drugs that interfere with statin metabolism are introduced for another illness, consider reducing the statin dose or temporarily or permanently stopping it Advise people to seek medical advice if they develop muscle pain, tenderness or weakness
If statins are not tolerated for primary prevention, consider:
fibrates
anion exchange resins
ezetimibe3
3 See ‘Ezetimibe for the treatment of primary (heterozygous-familial and non-familial) hypercholesterolaemia’ (NICE technology appraisal guidance 132).
10 NICE clinical guideline 67
Quick reference guide
Abbildung: Ausschnitt aus dem Managementschema der NICE-Guideline Nr. 67 «Lipid modification»
men. So erklärt Michael Rawlins, der Arzt, der NICE seit Beginn vorsteht: «Wir müssen gegenüber allen NHS-Patienten fair sein, nicht nur denjenigen mit Makuladegeneration oder Brust- oder Nie-
externe Experten stützen. Ganz besonderes Augenmerk liegt auf möglichen Interessenkonflikten. Meistens tagen die Beratungsausschüsse hinter verschlossenen Türen, da sie sich mit vertrauli-
«Die Lebensqualität, die mir dieses Medikament gibt, lässt sich überhaupt nicht beziffern.»
renkrebs. Wenn wir für wenige Patienten viel Geld ausgeben, haben wir weniger Geld für alle anderen. Wir versuchen, nicht unfreundlich oder grausam zu sein. Wir versuchen bloss, ständig für alle besorgt zu sein.» NICE ist eine Institution mit rund 270 Voll- und Teilzeitangestellten und kann sich auf etwa 2000
chen kommerziellen, akademischen und Patienten-Daten befassen. Teilweise sind Sitzungen heute aber auch öffentlich. NICE ist im Gegensatz zur schweizerischen Swissmedic keine Zulassungbehörde, sondern sucht nach Schlussfolgerungen hinsichtlich der klinischen Effektivität von Therapien im Vergleich zu
relevanten Alternativen und stellt Kos-
teneffektivitätsrechnungen an.
Dieser letzte Punkt ist es, der zu Kontro-
versen führt. Dabei stützt man sich auf
das inkrementelle Kosteneffektivitäts-
verhältnis oder auf die Kosten pro quali-
tätsadjustiertes Lebensjahr (QALY). Die
dabei angewendeten Methoden sind
reichlich komplex und keineswegs frei
von Irrtumsmöglichkeiten oder Annah-
mefehlern.
Im Allgemeinen betrachtet NICE Thera-
pien noch als kosteneffektiv, wenn das
Kosteneffektivitätsverhältnis pro QALY
20 000 £ (ca. 32 200 Fr.) beträgt. Gele-
gentlich werden aber auch 30 000 £ (ca.
48 300 Fr.), ganz selten mehr als dies
akzeptiert. Da mitunter abschliessende
Daten noch gar nicht vorliegen, kann es
auch zu besonderen Arrangements mit
der Pharmaindustrie kommen. Dies ge-
schah beispielsweise, nachdem NICE
2002 die Kostenübernahme für Interfe-
ron-beta und Glatiramer bei multipler
Sklerose nicht empfohlen hatte. So ent-
schied das britische Gesundheitsministe-
rium, dass diese Medikamente während
einer zehnjährigen Testphase Betroffe-
nen zugänglich sein sollten, und die Her-
steller stimmten zu, den NHS zu ent-
schädigen, falls die Behandlungen nicht
weniger kosten sollten als 36 000 £ pro
QALY.
NICE-Chef Rawlins sieht selbst ein Pro-
blem mit der praktizierten Kostenhürde:
«Ich war da immer ganz ehrlich. Es gibt
keine empirische Forschung, die uns
Auskunft geben könnte, wo die Grenze
liegen müsste.»
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Quellen: Robert Steinbrook: Saying No isn’t NICE – The travails of Britain’s National Institute for Health and Clinical Excellence. NEJM 2008; 359: 1977—1981. Angela Cooper, Norma O’Flynn on behalf of the Guideline Development Group: Risk assessment and lipid modification for primary and secondary prevention of cardiovascular disease: summary of NICE guidance. BMJ 2008; 336: 1246—1248. Doi:10.1136/bmj.39554.624086.AD
Interessenkonflikte: keine deklariert
Halid Bas
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