Transkript
FORTBILDUNG
Richtlinien für die Schmerztherapie bei Tumorpatienten
Eine Zusammenfassung der SIGN-Guidelines
Ein Drittel bis drei Viertel aller Tumorpatienten leiden unter teilweise erheblichen Schmerzen. Obwohl es zahlreiche Optionen für eine wirksame Schmerztherapie gibt und eine ganze Reihe entsprechender Richtlinien von der WHO und vielen nationalen Fachgesellschaften publiziert wurden, lässt die Versorgung der Patienten noch zu wünschen übrig. Das Scottish Intercollegiate Guidelines Network (SIGN) hat kürzlich eigene Richtlinien publiziert.
Hohe Evidenz bedeutet nicht automatisch hohe Praxisrelevanz In den SIGN-Richtlinien wird die international übliche Evidenzklassifizierung der einzelnen Empfehlungen (von A bis D; siehe Tabelle) ergänzt durch sogenannte «good practice points» (GPP). Es handelt sich dabei um einen aufgrund klinischer Erfahrung gut begründeten Kollegenrat mit hoher praktischer Relevanz, für den es (noch) keine Studien gibt. Wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis, dass eine noch so gut mit «A-Evidenz» abgesicherte Empfehlung für eine Therapie an sich relativ unwichtig sein kann, während andere Interventionen trotz fehlender Studien für eine gute Versorgung der Patienten von enormer Bedeutung sind. Überdies entscheiden seit geraumer Zeit eher finanzielle als wissenschaftliche Interessen, welche Fragestellungen in Studien untersucht werden und welche nicht.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
In der schottischen Organisation SIGN (Scottish Intercollegiate Guidelines Network) engagieren sich Mediziner aller Fachrichtungen, Pflegende, Pharmazeuten, Zahnärzte und andere Angehörige des Gesundheitswesens mit dem Ziel, evidenzbasierte, praxisnahe Richtlinien für möglichst viele Indikationen zu erarbeiten. Zurzeit sind 113 Richtlinien publiziert beziehungsweise in Vorbereitung oder Revision. Kürzlich publizierte das SIGN eine Zusammenfassung ihrer Richtlinien für die Schmerztherapie bei Tumorpatienten im «British Medical Journal». Die ausführlichen Richtlinien stehen auf der Website www.sign.ac.uk zur freien Verfügung. Möglicherweise erübrigen sich dadurch einige der Kritikpunkte zweier Kommentatoren, die in der gleichen BMJAusgabe monierten, dass die SIGN-Richtlinien nicht detailliert genug seien und auf das Suchtpotenzial bestimmter Schmerzmedikamente nur ungenügend eingingen. Demgegenüber betonen die SIGN-Autoren, dass gerade Tumorpatienten die Angst vor einer Opioidabhängigkeit zu nehmen sei. Im Grossen und Ganzen scheinen jedoch auch die beiden Kritiker mit den SIGN-Richtlinien zufrieden zu sein, denn sie bezeichnen das Werk letztlich als «umfassend und gut recherchiert».
Psychosoziale Faktoren Neben an und für sich selbstverständlichen Forderungen wie eine gute Kommunikation zwischen Ärzten, Pflegenden, Patient und Angehörigen und die Berücksichtigung auch der seelischen Schmerzen von Tumorpatienten betonen die SIGNAutoren, dass Schmerzen für Tumorpatienten häufig einen
Merksätze
■ Die Schmerzintensität ist regelmässig zu bestimmen, bei nicht adäquater Schmerzkontrolle sogar mindestens einmal täglich.
■ Die Schmerztherapie erfolgt gemäss den Regeln der WHO-Stufenleiter.
■ Bei steigender Schmerzintensität auf die nächste Stufe wechseln und nicht etwa ein anderes Analgetikum gleicher Potenz verordnen.
■ Gegen den chronischen, persistierenden Tumorschmerz muss eine kontinuierliche Analgesie erfolgen, keine Bedarfsmedikation. Gleichzeitig müssen rasch wirksame Medikamente gegen Durchbruchschmerzen bereitstehen.
■ Ein Expertenrat von Palliativmedizinern ist hilfreich für die Auswahl des adäquaten Opioids.
ARS MEDICI 3 ■ 2009 121
FORTBILDUNG
anderen Stellenwert haben als Schmerzen anderer Ursache. sinnvoll (B) sowie trizyklische Antidepressiva und Anti-
Sie empfehlen darum routinemässiges Screening auf Angst- konvulsiva bei neuropathischen Schmerzen (A). Für die Beur-
zustände und Depression (Evidenzgrad B) sowie kognitive Ver- teilung von Ketamin als adjuvantes Analgetikum sei die
haltenstherapie für entsprechende Patienten (Evidenzgrad A). Datenlage noch zu dürftig und für Lidocain-Pflaster (5%) die
Evidenz gemäss den SIGN-Autoren nur ungenügend.
Schmerz regelmässig messen
Cannabinoide werden zur Tumorschmerztherapie nicht emp-
Für die SIGN-Autoren gehören zur Schmerzerfassung gleicher- fohlen (A).
massen organische und funktionelle wie psychosoziale und
spirituelle Aspekte. Das Erfassen und Verfolgen der Schmerz- Welches Opioid?
intensität beziehungsweise der Effekte allfälliger Schmerzthe- Für mittelschwere Tumorschmerzen (WHO-Stufe 2), die etwa
rapien soll den Patienten letztlich zum eigenen Experten seiner 3 bis 6 Punkten auf der 10 Punkte umfassenden visuellen Ana-
individuellen Schmerztherapie machen (D). Für Patienten, bei logskala entsprechen, empfehlen die SIGN-Autoren schwache
denen die üblichen visuellen Analogskalen (VAS) nicht infrage Opioide wie Codein (D). Die deutschen Richtlinien (siehe
kommen, gibt es geeignete Skalen und Hilfsmittel, die Ärzten «Links») nennen hier Tramadol sowie Tilidin/Naloxon (cave:
und Pflegenden eine externe Beurteilung der Schmerzen (C) hohes Suchtpotenzial) und betonen, dass jeweils den retar-
ermöglichen. Die Schmerzintensität ist regelmässig zu bestim- dierten Präparaten der absolute Vorrang einzuräumen ist. Dies
men, bei nicht adäquater Schmerzkontrolle sogar mindestens entspricht auch den Gepflogenheiten in der Schweiz.
einmal täglich (GPP).
Bei schweren Schmerzen (WHO-Stufe 3) mit über 6 Punkten
auf der visuellen Analogskala empfehlen die schottischen
Grundlegende Behandlungsregeln
Ärzte Morphin als orale und Diamorphin (Heroin) als subku-
Wie bereits bei der Schmerzmessung erwähnt, soll der Patient tane First-line-Substanz (D). Diamorphin ist in der Schweiz
dazu ermutigt werden, eine aktive Rolle in der Schmerzthera- wie in vielen anderen Ländern nicht zugelassen. Weitere
pie zu übernehmen (B). Die Behandlung
folgt dem altbekannten Stufenschema der WHO (analgetische Leiter): Stufe 1
Tabelle: Evidenzgrad der jeweiligen Empfehlungen
umfasst nichtopioide Analgetika mit oder ohne Ko-Analgetika und Adjuvanzien, Stufe 2 schwache Opioide (mit oder ohne Medikamente der Stufe 1) und Stufe 3 schliesslich die starken Opioide (mit oder ohne Medikamente der Stufe 1).
A Wenigstens eine Metaanalyse hoher Qualität beziehungsweise ein systematischer Review randomisierter, kontrollierter Studien oder randomisierte, kontrollierte Studien mit geringem Biasrisiko mit direkter Anwendbarkeit auf die fragliche Patientenpopulation oder eine Fülle von Daten aus Metaanalysen und randomisierten, kontrollierten Studien, welche konsistent für die Empfehlung sprechen.
Die Analgetikaverordnung ist jeder Änderung der Schmerzintensität anzupassen (B). Wenn der Schmerz stärker wird, ist auf die nächste Stufe der analgetischen Leiter zu wechseln und nicht etwa ein anderes Analgetikum gleicher Potenz zu verordnen (GPP). Bei allen Tumor-
B Systematische Reviews von Fallkontroll- oder Kohortenstudien sowie sehr gute Fallkontroll- oder Kohortenstudien mit niedrigem Biasrisiko sprechen für die Empfehlung; es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit kausaler Zusammenhänge, die Ergebnisse sind direkt auf die fragliche Patientenpopulation anwendbar und konsistent. oder: Evidenz für die Empfehlung extrapoliert aus A-Studien.
patienten mit mittleren bis schweren
C Gute Fallkontroll- und Kohortenstudien mit niedrigem Biasrisiko sprechen mit mitt-
Schmerzen soll man unabhängig von der
lerer Wahrscheinlichkeit für kausale Zusammenhänge, die Ergebnisse sind direkt
Ätiologie Opioide versuchen. Gegen
auf die fragliche Patientenpopulation anwendbar und konsistent.
chronischen, persistierenden Schmerz
oder: Evidenz für die Empfehlung extrapoliert aus B-Studien.
muss eine kontinuierliche Analgesie erfolgen, nicht nach Bedarf (D). Gleichzeitig muss für Durchbruchschmerzen eine adäquate Medikation bereitstehen (D).
D Keine systematischen Studien; Fallberichte, Fallserien und Expertenmeinung sprechen für die Empfehlung. oder: Evidenz für die Empfehlung extrapoliert aus C-Studien.
Nichtopioide Analgetika und Adjuvanzien Die SIGN-Autoren empfehlen Paracetamol und/oder NSAR für alle Tumorschmerzpatienten, sofern keine individuellen Kontraindikationen bestehen (A). Als Adjuvanzien sind Bisphosphonate bei Patienten mit Knochenmetastasen
GPP «good practice points» Empfehlungen für die Praxis auf der Grundlage der klinischen Erfahrung der SIGNExpertengruppe
Je höher der Evidenzgrad, umso zahlreicher und qualitativ besser sind die Daten, welche die jeweilige Empfehlung stützen. Der Evidenzgrad sagt jedoch nichts darüber aus, wie wichtig die Empfehlung an sich für die Therapie ist.
122 ARS MEDICI 3 ■ 2009
FORTBILDUNG
☞ LINKS
Richtlinien des Scottish Intercollegiale Guidelines Network (SIGN): http://www.sign.ac.uk/guidelines/published/index.html
DGSS-Leitlinien inkl. Tumorschmerz: http://www.dgss.org/index.php?id=99
Kurzanleitung zur Behandlung bei Tumorschmerzen (mit Dosisangaben), verfasst vom Arbeitskreis Tumorschmerz der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes: http://www.dgss.org/index.php?id=225
Medikamente der Stufe 3 sind Hydromorphon, Oxycodon und transdermales Fentanyl. Bei Patienten mit Niereninsuffizienz ist für Opioide Vorsicht geboten, gegebenenfalls sind Dosis und/oder Frequenz zu reduzieren. Alfentanil, Buprenorphin und Fentanyl gelten als beste Optionen für Patienten mit einer Niereninsuffienz vierten oder fünften Grades (C). Gerade bei diesen Patienten sei der Rat eines Palliativmediziners für die angemessene Wahl des Opioids, seiner Dosis und Verabreichungsform besonders wichtig. Im Fall ungenügender Schmerzkontrolle oder nicht tolerierbarer Nebenwirkungen unter starken Opioiden wird zunächst eine Neubeurteilung der Schmerztherapie empfohlen, gefolgt vor einem allfälligen Wechsel zu einem anderen starken Opioid, insbesondere wenn eine Dosissteigerung mit der bisherigen Substanz aufgrund von Nebenwirkungen nicht möglich ist (GPP). Bei der Umstellung sind entsprechende Tabellen zurate zu ziehen, mit denen die Äquivalenzdosis unterschiedlicher Opioide bestimmt werden kann; in jeglichen Zweifelsfällen sollte ein Palliativmediziner/Schmerztherapeut zurate gezogen werden (GPP). Wegen der obstipierenden Nebenwirkung der Opioide sind bei Bedarf Laxanzien zu geben (GPP).
Rasch wirksame Opioide gegen Durchbruchschmerzen Orales, nicht retardiertes Morphin und orales transmukosales Fentanylzitrat wirken gut gegen Durchbruchschmerzen (D). Nach Ansicht der SIGN-Autoren gibt es bisher nicht genügend Evidenz dafür, dass eines von beiden wirksamer sein könnte. Die Morphindosis gegen Durchbruchschmerzen sollte etwa ein Sechstel der 24-Stunden-Gesamtdosis betragen und bei steigender Grunddosis entsprechend gesteigert werden (D). Wenn orales, transmukosales Fentanyl gegen Durchbruchschmerzen verwendet wird, ist dieses unabhängig von der 24-Stunden-Gesamtopioiddosis bis zur wirksamen Dosis zu steigern (GPP).
Nichtmedikamentöse Therapie bei Tumorschmerzen
Komplementären Massnahmen wie Massage, Aromatherapie,
Musiktherapie, Akupunktur, transkutaner Elektrostimulation
(TENS), Reflexzonenmassage, Hypnose und Reiki bescheini-
gen die SIGN-Autoren keine ausreichende Evidenz für die
Schmerzbehandlung von Tumorpatienten.
Die Radiotherapie wird bei Knochenmetastasen empfohlen
(B), gezielter Knochenaufbau (Vertebroplastie und perkutane
Zementoplastie) ist in Erwägung zu ziehen, falls es zu Wirbel-
brüchen kommt oder Hüftknochenmetastasen Schmerzen ver-
ursachen, die medikamentös nicht zu meistern sind (D).
Patienten mit nicht zu kontrollierenden Schmerzen trotz opti-
maler systemischer und oraler Medikation sind an einen Anäs-
thesisten mit Erfahrung in der Schmerztherapie zu über-
weisen. Insbesondere Patienten mit lokalen, fortgeschrittenen
Tumoren oder deutlich bewegungsassoziierten Schmerzen
können davon profitieren (D). In Erwägung zu ziehen sind
anästhesiologische Interventionen wie Solarplexus-Block und
intrathekale Opioide (B).
■
Cormie P.J. et al.: Control of pain in adults with cancer: summary of SIGN guidelines. BMJ 2008; 337: 1106—1109 und Ross J.R., Riley J.: Commentary: Controversies in SIGN guidance on pain control in patients with cancer. BMJ 2008; 337: 1109—1110.
Interessenlage: Die Autoren der Richtlinien erhielten keine Sponsorengelder für das Verfassen des Artikels. J. Welsh erhielt über die Universität Glasgow ein von Cephalon gestiftetes «unrestricted grant».
Renate Bonifer
124 ARS MEDICI 3 ■ 2009