Transkript
FORTBILDUNG
Blutzucker nicht isoliert betrachten!
Therapie des Typ-2-Diabetes — ein Update
Eine gute Diabetestherapie sollte laut Internationaler Diabetes-Föderation (IDF) einen Nüchtern-Blutzuckerwert von unter 5,5 mmol/l (100 mg/dI), einen Postprandialwert < 8,0 mmol/l (< 145 mg/dl) und ein HbA1c < 6,5 Prozent zum Ziel haben (1). Wodurch sich diese Ziele begründen lassen, wie sie zu erreichen sind und welche Fallstricke bei der Diabetestherapie zu beachten sind, ist Inhalt des folgenden Beitrags. Insbesondere sollen neuere Therapieprinzipien eingeordnet werden. bei Hypertonie um das 2,2-Fache, bei abnormen Lipiden um das 3,8-Fache und bei Diabetes um das 4,2-Fache (14). Die Kombination aus abdomineller Adipositas und Diabetes ist also ein besonders bedeutsamer Risikofaktor. Je später eine ambitionierte Diabetestherapie einsetzt, desto mehr Körpergewichtszunahme ist zu erwarten, je früher behandelt wird, desto einfacher und erfolgreicher ist die Behandlung (3). Früher an Diabetes denken! Die Familienanamnese Diabetes mellitus, ein Bauchumfang von mehr als 102 cm bei Männern, mehr als 88 cm bei Frauen, ein Blutdruck > 140/80 mmHg, Triglyzeride > 1,7 mmol/l (> 150 mg/dl), ein HDL-Spiegel ≤ 1,16 mmol/l (≤ 45 mg/dl) oder ein Nüchtern-BZ ≤ 5,0 mmol/l (≤ 90 mg/dl) im kapillären Vollblut sollten an ein metabolisches Syndrom denken lassen mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko. Wird der NüchternBZ-Wert > 5,9 mmol/l (> 105 mg/dl) kapillär gemessen, ist die Glukosetoleranzstörung gesichert. Hier sollte ein oraler Glukosetoleranztest durchgeführt werden.
MATTHIAS FRANK
Bei der Behandlung des Typ-2-Diabetes findet ein Umdenken statt, welches das glukozentrische Weltbild verlässt und den Blutzucker mehr als ein Problem mit vielen anderen Parametern (Bluthochdruck, Blutfette, Körpergewicht, Verhalten und Compliance, Familienanamnese) betrachtet. Die im DMP zugelassenen Schulungsprogramme, welche ein definiertes Therapiekonzept mit einer festgelegten Erwartungshaltung verbinden, sind nicht mehr zeitgemäss. Wir hinken hier einer modernen Diabetologie mit unseren Möglichkeiten hinterher. Ein Weiterdenken ist angesagt und wird in diesem Artikel besprochen.
Adipositas als wichtiger Risikofaktor Die Adipositas nimmt weltweit dramatisch zu und mit ihr das metabolische Syndrom. Bisherige therapeutische Konzeptionen konnten die kontinuierliche Gewichtszunahme der Diabetiker im Rahmen einer Diabetestherapie nicht verhindern. Das erhöhte Gewicht und hier insbesondere das viszerale Fett triggern das kardiometabolische Syndrom. Nach der INTERHEART-Studie ist das Risiko für einen Myokardinfarkt bei abdomineller Adipositas um den Faktor 4,5 erhöht,
Merksätze
■ Der Blutzuckerwert steigt oft zuletzt an, oder: Der Diabetes ist der Endpunkt einer langen metabolischen Katastrophe.
■ Wird eine nur mässige Gewichtsreduktion erreicht, lässt sich durch regelmässige moderate körperliche Bewegung bei übergewichtigen Menschen die Insulinempfindlichkeit steigern und damit das Risiko zur Entwicklung eines Diabetes mellitus senken.
■ Das Auftreten von Ödemen unter der Behandlung mit Glitazonen ist keine Herzinsuffizienz, sondern eine verstärkte Natriumretention, insbesondere bei hochgradiger Insulinresistenz oder gleichzeitiger Kalziumantagonistenbehandlung.
■ DPP4-Antagonisten können ohne Hypoglykämiegefahr und ohne Körpergewichtszunahme den Blutzuckerwert normnah therapieren, Inkretinmimetika ermöglichen darüber hinaus noch eine suffiziente Körpergewichtsreduktion.
ARS MEDICI 2 ■ 2009 73
FORTBILDUNG
Die Behandlungsindikation und das Therapieziel beim metabolischen Syndrom folgen aus den genannten Grenzdefinitionen und einem LDL-Cholesterin von < 100 mg/dl.
Konsequenzen für die Behandlung Aus den Kriterien der Internationalen Diabetes-Föderation (IDF) ergeben sich folgende Konsequenzen für die antidiabetische Behandlung: 1. Schon im Stadium der abnormen Glukosekonzentration
(BZ-Nüchternwert > 5,5 mmol/l [>100 mg/dl] und metabolisches Syndrom) sollen Insulinresistenz bei Adipositas und Insulinsekretionsdefizit parallel behandelt werden. 2. Antidiabetika, die eine variable Nahrungsaufnahme zulassen, Hypoglykämien vermeiden und dadurch eine Gewichtskonstanz besser erlauben, sollen bevorzugt werden. 3. Die prä- und postprandiale Blutzuckermessung zwei Stunden nach dem Essen wird nur zu Beginn der Behandlung in die Schulungskonzeption mit einbezogen. Der Patient soll lernen, wann seine Nahrungsaufnahme zu welchen postprandialen Blutzuckerwerten und Konsequenzen führt, was körperliche Bewegung bewirkt und so weiter. 4. Blutzuckermessungen werden bei allen Diabetikern zur Verbesserung der Diabeteseinstellung vorgenommen. Die Harnzuckermessung ist nicht mehr zeitgemäss. 5. Schulungsprogramme mit modernen verhaltensmedizinischen Konzepten sollen bevorzugt werden (10).
Das Haar in der Suppe – die ACCORD-Studie Vor wenigen Monaten wurden die ACCORD- und die ADVANCE-Studie publiziert. Beide hatten unter anderem einen HbA1c-Zielwert von 6,0 Prozent vorgesehen (3, 11, 12). Die ACCORD-Studie wurde bei einer erreichten HbA1C-Senkung unter 6,4 Prozent abgebrochen, da 51 Todesfälle mehr als in der Kontrollgruppe aufgetreten waren. In die ACCORD-Studie waren Patienten mit kardiovaskulären Hochrisikofaktoren (Myokardinfarkt, Schlaganfall oder zumindest zwei Hochrisikofaktoren neben Diabetes mellitus) integriert. In der ADVANCEStudie wurde keine erhöhte Mortalität dokumentiert. Die Ursache der Todesfälle ist in Diskussion. Am ehesten wird die Differenz zur ADVANCE-Studie zurzeit mit möglichen Hypoglykämien und Herzrhythmusstörungen diskutiert, da in der ACCORD-Studie eine aggressive, rasche HbA1c-Senkung von 1,4 Prozent in vier Monaten, in der ADVANCE-Studie eine moderate HbA1c-Senkung von 0,5 Prozent in sechs Monaten angestrebt war. Innerhalb der ACCORD-Studie hatten die Diabetiker mit Glitazon- und Metformintherapie keine erhöhte Mortalität. Mit dieser Therapie werden Hypoglykämien nicht beobachtet, sodass hier eine Parallele zur ADVANCE-Studie, nämlich weniger Hypoglykämien, bestehen könnte. In beiden Studien war die Gesamtmortalität jedoch erheblich niedriger als erwartet. Die Frage, welche Auswirkungen eine aggressive Blutzuckersenkung auf die Prognose bei kardiovaskulär hochgeschädigten Patienten hat, bleibt offen und bedarf weiterer Untersuchungen. Konsensus ist bis dato dahingehend erzielt worden, dass kardiovaskuläre Hochrisikopatienten zu-
Akronyme
ACCORD ADVANCE PROactice PERISCOPE VICTORY ADOPT
Action to Control Cardiovascular Risk in Diabetes (11)
Action in Diabetes and Vascular Disease: Preterax and Diamicron Modified Release Controlled Evaluation (12)
Prospective Pioglitazone Clinical Trial in Macrovascular Events
Pioglitazone Effect on Regression of Intravascular Sonographic Coronary Obstruction Prospective Evaluation
Vein-Coronary Atherosclerosis and Rosiglitazone after Bypass Surgery
A Diabetes Outcome Progression Trial
mindest einen HbA1c-Wert von 7 Prozent und darunter langsam erreichen sollten.
Behandlungsprinzipien der Zukunft Vier evidenzbasierte Aussagen des Konsensuspapiers der Internationalen Diabetes-Föderation sind die Grundlagen der weiteren Ausführungen: 1. Die Beeinflussung sowohl der postprandialen als auch der
Nüchternglukose ist eine wichtige Strategie, um eine optimale Glukoseeinstellung zu erreichen. 2. Die Therapie mit Substanzen, die den postprandialen Plasmaglukosespiegel beeinflussen, reduziert die Häufigkeit vaskulärer Ereignisse. 3. Der postprandiale Blutzuckerwert steigt bei Menschen mit normaler Glukosetoleranz selten auf Werte > 8,0 mmol/l (> 140 mg/dl) an und kehrt innerhalb von zwei bis drei Stunden nach Nahrungsaufnahme zu den Basalwerten zurück. Menschen mit normaler Glukosetoleranz entwickeln keine diabetesbedingten Folgekomplikationen. 4. Wenn ein HbA1c-Wert von < 6,5 Prozent erreicht werden soll, ist die Kenntnis des postprandialen Blutzuckerwerts essenziell. Denn für HbA1c-Werte unterhalb von 7,3 Prozent ist zu 70 Prozent der postprandiale Blutzuckerwert entscheidend (6). Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse der ACCORD-Studie, dass bei kardiovaskulär vorgeschädigten Patienten die Blutzuckersenkung langsam erfolgen sollte und HbA1c-Werte ≤ 7,0 Prozent fraglich angestrebt werden dürfen.
Nicht medikamentöse Behandlung Gewichtskontrolle, Ballaststoffe, versteckte Fette, langsam resorbierbare Kohlenhydrate mit niedrigem glykämischem Index, das heisst ein hoher Ballaststoffanteil in der Ernährung, sind fast banale Prinzipien. Weniger bekannt ist, dass eine mässige körperliche Bewegung von zumindest 30 Minuten pro Tag oder 180 bis 210 Minuten pro Woche in Kombination mit einer Körpergewichtsreduktion von 7 Prozent die Progredienz einer gestörten Glukosetoleranz zur Entwicklung eines Diabetes mellitus innerhalb von drei Jahren um nahezu 50 Prozent senken kann (13).
74 ARS MEDICI 2 ■ 2009
BLUTZUCKER NICHT ISOLIERT BETRACHTEN!
Ein Ziel — verschiedene Zielwerte
International Diabetes Foundation (IDF)
HbA1c Blutzucker (Selbstmessung kapillär) — nüchtern/präprandial — postprandial Serum-Gesamtcholesterin Serum-LDL-Cholesterin Serum-HDL-Cholesterin Quotient Gesamt/LDL-Cholesterin Serum-Triglyzeride BD
≤ 6,5%
≤ 5,5 mmol/l (< 100 mg/dl) < 7,5 mmol/l (135 mg/dl) < 4,8 mmol/l (<185 mg/dl) < 3,0 mmol/l (<115 mg/dl) > 1,2 mmol/l (<46 mg/dl) <5 < 1,7 mmol/l (< 150 mg/dl) < 140/85 mmHg
Schweizerische Diabetes Gesellschaft (SDG)/ Schweizerische Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) 6–7% (< 6,5 (bei geringem Hypoglykämierisiko)
5,0—7,0 mmol/l < 8,0 mmol/l < 5,0 mmol/l < 2,6 mmol/l
130/80 mmHg (125/75 mmHg bei Proteinurie)
Medikamentöse Behandlungsprinzipien Moderne Antidiabetika werden nach folgenden Kriterien beurteilt: 1. Normalisierung des HbA1c-Werts 2. keine Körpergewichtszunahme beziehungsweise Möglich-
keit zur Gewichtsreduktion 3. keine Hypoglykämien 4. Erhalt der B-Zell-Funktion (Reduktion des Zelluntergangs,
Apoptose) 5. keine relevanten Nebenwirkungen. Da die massgeblichen Pathomechanismen des Typ-2-Diabetes die Insulinresistenz und das progrediente B-Zell-Versagen darstellen, müssen beide gleichzeitig behandelt werden.
Orale Antidiabetika Orale Antidiabetika beeinflussen die muskuläre und hepatische Insulinresistenz (Metformin [Glucophage® oder Generika], Glitazone). Die Beeinflussung der Insulinsekretion erfolgt grundsätzlich über zwei Mechanismen. 1. Erhöhung der zellulären Freisetzung von Insulin durch
Sulfonylharnstoffe (Glibenclamid [z.B. Daonil® oder Generika], Glimepirid [Amaryl® oder Generika]) oder Glinide (Repaglinid [NovoNorm®]), Nateglinid [Starlix®]). 2. Synchronisation und glukoseabhängige Freisetzung durch Inkretine (DPP4-Antagonisten, Inkretinmimetika). Ein eigenständiges Problem stellt die hepatische Glukoseüberproduktion (Glukoneogenese) dar, die eine stringente Abhängigkeit von der Höhe des Nüchternblutzuckers zeigt. Eine Normalisierung der gesteigerten hepatischen Glukosefreisetzung ist bei Blutzuckerwerten unter 120 mg/dl möglich. Langfristig hohe freie Fettsäuren, wie zum Beispiel bei Adipositas
und/oder erhöhten Triglyzeriden über 200 mg/dl, fördern die unphysiologische Glukoneogenese der Leber und supprimieren die Insulineigenproduktion. Aus diesem Grund ist eine Normalisierung der Blutfette von therapeutischer Bedeutung. Typ-2-Diabetiker weisen weiterhin erhöhte Glukagonspiegel auf, die ebenfalls die Glukoneogenese ansteigen lassen und durch Inkretinmimetika oder DPP4-Antagonisten normalisiert werden.
Zusammenfassend wird neben der schon vorhandenen muskulären Insulinresistenz durch die hepatische Glukoseüberproduktion die Insulinresistenz weiter verschlechtert (2). Ein hiervon völlig unabhängiges Prinzip ist die Verzögerung des postprandialen Blutzuckeranstiegs durch Saccharidasehemmer wie Acarbose (Glucobay®) und Miglitol (Diastabol®). Ein weiteres neues Prinzip ist der Cannabinoid-Rezeptor-Typ(CBI-)Blocker Rimonabant (Acomplia®), der bei adipösen Patienten zur Regulation der überkalorischen Nahrungszufuhr, abdominellen Adipositas und Verbesserung des Lipid-/Glukosestoffwechsels eingesetzt wurde, aber wegen Nebenwirkungen vom Markt genommen werden musste.
Metformin Seitdem die altersabhängigen Kontraindikationen für Metformin nicht mehr existieren und auch nach einem Myokardinfarkt kein publizierter Hinweis für eine echte Kontraindikation bei stabiler kardialer Funktion besteht, wird dieses Biguanid zunehmend grosszügiger eingesetzt. Grenzen bestehen bei einer glomerulären Filtrationsrate unter 50 ml/min, höhergradigen Lungenfunktionsstörungen oder kardialen/peripheren vaskulären Durchblutungsstörungen.
ARS MEDICI 2 ■ 2009 77
FORTBILDUNG
500 mg Metformin zur Nacht reduziert die hepatisch gesteigerte Glukoneogenese (Glukoseneubildung mit BZ-Anstiegen in den frühen Morgenstunden = Dawn-Phänomen). Die Vollwirkdosis bei muskulär/hepatischer Wirkung entspricht 2000 mg/Tag, wobei bei zweimal 850 mg/Tag nur geringfügig geringere BZ-Werte zu erwarten sind. Von Vorteil ist die Gewichtskonstanz oder leichte Gewichtsreduktion.
Glitazone Der Stellenwert der Glitazone (Pioglitazon [Actos®], Rosiglitazon [Avandia®]) ist in Diskussion. Es ist zurzeit noch unklar, ob beide Glitazongruppen gleich einzustufen sind oder doch substanzspezifische Unterschiede existieren. Für Pioglitazon ist nach der PROactive-Studie kein kardiovaskuläres Risiko anzunehmen (4). Für Rosiglitazon zeigen Metaanalysen vorliegender Untersuchungen keine abschliessende Sicherheit im Sinne einer kardiovaskulären Unbedenklichkeit (10). Die Subgruppenanalyse der PROactive-Studie ergab einen signifikanten Benefit in der Sekundärprävention von Diabetikern für Pioglitazon. In der PERISCOPE-Studie wurde eine Reduktion von intrakoronaren Plaques, objektiviert durch intrakoronaren Ultraschall, über einen Beobachtungszeitraum von 15 Monaten für Pioglitazon gesichert (8), in gleiche Richtung deutet für Rosiglitazon die VICTORY-Studie. Auch für niereninsuffiziente Patienten scheinen Vorteile mit Glitazonen, messbar an der Reduktion der Mikroalbuminurie und Mesangioproliferation, zu existieren (15). Unter der Behandlung mit Glitazonen werden verstärkt Beinödeme beobachtet, insbesondere bei hochgradiger Insulinresistenz, begleitender Insulintherapie und der Behandlung mit Kalziumantagonisten (insbesondere Amlodipin [Norvasc® oder Generika]). Bei dieser Kombination ist die gleichzeitige Gabe von Diuretika zu Therapiebeginn zu empfehlen. Nicht vergessen werden sollte das Osteoporoserisiko (bei Frauen). Eine Körpergewichtszunahme ist nicht unabwendbar, wenn gleichzeitig die Patienten auf eine notwendige Kalorienbeschränkung geschult werden. Da Glitazone in erster Linie eine Verschiebung des viszeralen zum subkutanen abdominellen Fett vollziehen, bietet der Tipp «Der Gürtel bleibt im selben Loch» zumindest bei Männern eine wertvolle Hilfe.
Sulfonylharnstoffe und Glinide Die Freisetzung von Insulin durch Sulfonylharnstoffe und Glinide wird durch die Höhe der Blutglukose mitbestimmt, jedoch nicht ausschliesslich, sodass Hypoglykämien nicht zuverlässig vermieden werden können. Bis zu 40 Prozent aller Typ-2-Diabetiker nehmen aus Angst vor Unterzuckerungen gelegentlich zu viele Kohlenhydrate auf. Dies ist im Hinblick auf das Diabeteseinstellungsergebnis und unerwünschte Körpergewichtszunahme von Bedeutung. Wegen der gleichmässigen Wirkung über 24 Stunden oder länger müssen bei den Sulfonylharnstoffen Kohlenhydrate gleichmässig verteilt in fünf bis sechs Mahlzeiten pro Tag verzehrt werden. Bei Gliniden (Repaglinid, Nateglinid) mit einer Wirkdauer von maximal vier Stunden kann auf eine Zwi-
schenmahlzeit dagegen oft verzichtet werden. Die Tablette wird vor dem jeweiligen Essen eingenommen, mit dem Schulungsinhalt: «Eine grosse Mahlzeit – eine Tablette, keine grosse Mahlzeit – keine Tablette.» Sulfonylharnstoffe sind als Monotherapeutika durch die Ergebnisse der ADOPT-Studie in Diskussion gekommen (6). Sie senken zu Therapiebeginn den Blutzuckerwert am besten, zeigen aber gleichzeitig die höchste Wahrscheinlichkeit eines Monotherapieversagens. In der genannten Untersuchung wurde die jährliche Wahrscheinlichkeit eines Monotherapieversagens für Glibenclamid mit nahezu 10 Prozent, für Metformin mit 6 Prozent und für Rosiglitazon mit 2 bis 3 Prozent berechnet. Glibenclamid kann kumulieren und ist deswegen bei alten Menschen über 70 Jahre wegen der Gefahr protrahierter Hypoglykämien nicht angebracht.
Acarbose Alphaglucosidasehemmer (Acarbose), welche lange ein Schattendasein führten, werden wieder gesellschaftsfähig. Voraussetzung ist eine bedarfsadaptierte Verwendung, zum Beispiel 1 × 1 zum Frühstück statt 3 × 1 und die Reduktion auf 50 mg/Mahlzeit. Darüber hinaus ist die strikte Schulung des Patienten, Haushaltszucker (Disaccharide) zu meiden, eine Conditio sine qua non. So ist zum Beispiel das Trinken von Bier von quälendem Meteorismus sowie Flatulenz gefolgt, und Unterzuckerungen können nur mit Glukose und nicht mit Haushaltszucker bekämpft werden. 50 mg sind bei den meisten Patienten völlig ausreichend und reduzieren die Nebenwirkungen. Die Ergebnisse der RIAD-Studie sprechen für die günstigen Effekte auf das Gefässendothel (5).
Inkretine Inkretine erhöhen die zelluläre Freisetzung von Insulin und unterdrücken gleichzeitig Glukagon aus der A-Zelle der Bauchspeicheldrüse. Inkretine sind Peptidhormone, die in der Dünndarmmukosa gebildet werden; wichtige Vertreter sind das Glucagon-like-Peptide-1 (GLP-1) und das Glucose-dependent-Insulinotropic-Peptide (GIP). Ein grosser Vorteil der durch Inkretine ausgelösten Insulinsekretion ist ihre Abhängigkeit von der enteral zugeführten Glukose. Bei höheren Glukosewerten im Blut wird mehr, bei niedrigeren Glukosewerten weniger Insulin unter dem Einfluss von GLP-1 ausgeschüttet. Die Insulinsekretion ist bedarfsadaptiert. Bei Typ-2-Diabetikern ist dieser sogenannte Inkretineffekt verringert, sodass eine Erhöhung des Inkretinspiegels im Blut therapeutisch sinnvoll ist. Inkretine wirken im Körper sehr kurz (2–4 min), sodass eine Hemmung des abbauenden Enzyms Dipeptidyl-Peptidase-4 (DPP4) die körpereigene Inkretinwirkung verstärkt (DPP4-Hemmer = Inkretinverstärker). An Inkretinverstärkern sind Sitagliptin (Januvia®) und Vildagliptin (Galvus®) in oraler Form auf dem Markt. Eine andere therapeutische Option ist die Gabe einer inkretinähnlichen Substanz, eines Inkretinmimetikums mit einer Sequenzchronologie zum natürlichen GLP-1 und hierdurch supraphysiologischer Wirkung, ohne dass es durch das Enzym DPP4 abgebaut wird. Inkretinmimetika müssen injiziert
78 ARS MEDICI 2 ■ 2009
FORTBILDUNG
werden. Erster zugelassener Kandidat ist Exenatide (Byetta®). Es bindet ebenso wie GLP-1 an den GLP-1-Rezeptor, hat aber statt der Halbwertszeit von 2 bis 4 Minuten eine solche von 60 bis 90 Minuten und eine Wirkdauer von sechs Stunden. Es muss zumindest zweimal pro Tag subkutan injiziert werden. Alle drei Substanzen sind additiv zu Metformin und/oder Sulfonylharnstoff bei Patienten zugelassen, die mit diesen Antidiabetika keine ausreichende Blutzuckerkontrolle erzielen können. Der klassische Einsatz von oralen DPP4-Antagonisten ist die Ergänzung einer vorangehenden Metformintherapie bei BZ-Werten postprandial über 140 mg/dl. Ein Hypoglykämierisiko beim Weglassen von Mahlzeiten besteht nicht. Der HbA1c-Abfall bei DPP4-Antagonisten beträgt 0,8 bis 1,0 Prozent. Inkretinmimetika unterscheiden sich von DPP4-Antagonisten klinisch durch eine stärkere blutzuckersenkende Wirkung (HbA1c: 1,0–1,5%) und einen deutlicheren Effekt auf die Körpergewichtsreduktion. Letzterer ist dosisabhängig und liegt in einer Grössenordnung von 1,5 bis 4,5 kg ohne ausdrückliche diätetische Schulung. Die Indikation für diese Therapie ist die drohende Insulintherapie nach einer vorausgehenden Metforminbehandlung. Substanzen ohne Hypoglykämieneigung, das heisst kein Zusatz von Sulfonylharnstoffen, erfordern keine regelmässige Nahrungszufuhr. Eine gezielte Körpergewichtsreduktion ist möglich nach völlig freien diätetischen Prinzipien und dem Motto: Gegessen wird nur, wenn ein Hungergefühl auftritt, nicht nach Gewohnheit. Die Essensmenge richtet sich nach dem postprandialen Blutzuckerwert, welcher zwei Stunden nach der Nahrungsaufnahme das Therapieziel nicht überschreiten sollte. Mit diesem Vorgehen im Konsensus mit dem Patienten ist eine hochgradige Gewichtsreduktion von oft mehr als 20 bis 30 kg möglich. Die Hauptnebenwirkung von Exenatide ist mit bis zu 45 bis 55 Prozent eine vorübergehende Übelkeit beziehungsweise Völlegefühl. Es kann therapeutisch als Stoppsignal zur Nahrungsaufnahme verhaltensmedizinisch genutzt werden, nach dem Motto: Wird falsch (zu viel, zu schnell) gegessen, folgt die Übelkeit.
Insuline Kurz wirksame Insulinanaloga (Apidra®, Humalog®, NovoRapid®) Kurz wirksame Insulinanaloga werden weltweit als prandiales Insulin bevorzugt. In Deutschland sind sie durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Diskussion. Der schnelle Wirkungseintritt von 15 bis 20 Minuten, die Spitzenaktivität zwischen 60 und 120 Minuten und der rasche Wirkungsauslauf nach 3 bis 4 Stunden erlauben nicht nur grössere Lebensfreiheiten, sondern insbesondere einen Verzicht auf Zwischenmahlzeiten. Kurz wirksame Insulinanaloga zeigen Vorteile bei adipösen Patienten, insbesondere durch die Unterdrückung der wie zuvor beschriebenen Steigerung der Leberglukoneogenese bei Blutzuckerwerten, die oberhalb eines Nüchternwerts von 120 bis 140 mg/dl liegen. Ein Spritz-Ess-Abstand ist je nach
Messung des postprandialen Blutzuckerwerts zwei Stunden nach der Mahlzeit nicht immer zu vermeiden. In Deutschland hat sich der Deutsche Diabetikerbund eindeutig für die Vorteile der kurz wirksamen Analoginsuline positioniert. Die bei Normalinsulinen oft gefundenen Körpergewichtszunahmen sind durch die Verwendung kurz wirksamer Insulinanaloga zu vermeiden. Konventionelle Normalinsuline finden immer dann nach wie vor Verwendung, wenn der Diabetes unter der genannten Therapie stabil und eine Körpergewichtszunahme nicht festzustellen ist. Eine weitere Indikation sind kleine Insulindosen (unter 12 bis 14 IE pro Mahlzeit) und/oder der Wunsch nach Zwischenmahlzeiten, die stringent zwei bis spätestens drei Stunden nach der Insulininjektion vorgenommen werden müssen.
Lang wirksame Insulinanaloga (Lantus®, Levemir®) Insulin detemir (Levemir®) kann besser als das NPH-Basalinsulin Blutzuckeranstiege in den frühen Morgenstunden (Dawn-Phänomen) auffangen. Wird ein Basalinsulin zur Nacht vorgesehen, sollte mit NPH-Insulin begonnen werden. NPH-Insuline tagsüber sind bei Typ-2-Diabetikern meist nicht notwendig. Durch Fastentests am Nachmittag (Nüchterntests zwischen 15.00 und 20.00 Uhr) wird die Notwendigkeit einer Basalinsulinsubstitution objektiviert. Steigt der Blutzucker in dem genannten Zeitraum nicht an, ist keine Basalinsulinsubstitution notwendig. Die Basalinsulindosis zur Nacht richtet sich nach den Blutzuckerwerten vor dem Schlafengehen, um 3.00 Uhr nachts und morgens nüchtern. Unter der Zielvorstellung der Blutzuckerkonstanz, die der adäquaten Basalinsulinsubstitution entspräche, kann bei drohendem Blutzuckeranstieg in den frühen Morgenstunden Levemir eine bessere Blutzuckersenkung erreichen als NPH-Insulin. Insulin glargin (Lantus®) bietet Vorteile bei Diabetikern mit klar definiertem, wenig wechselndem Tagesablauf, die keine grössere körperliche Aktivität aufweisen. Es ist auch geeignet bei insgesamt norm- bis leicht untergewichtigen Menschen oder Diabetikern mit niedrigem Insulinbedarf. Insulinresistente Typ-2-Diabetiker mit hohem Insulinbedarf, das heisst Insulineinheiten von deutlich mehr als 20 Einheiten Insulin glargin, neigen zu erheblichen Körpergewichtszunahmen, sodass unter diesen Voraussetzungen die Basalinsulintherapie modifiziert werden muss. Die bis zu 24 Stunden anhaltende Wirkung von Insulin glargin kann den Blutzucker basal nicht zufriedenstellend erhalten, wenn ausgedehnte sportliche Aktivitäten, zum Beispiel Ausdauersportarten mit Hypoglykämiegefahr, wahrgenommen werden. Bei alten Menschen, zum Beispiel in Altersheimen, hingegen ist eine basalunterstützte orale Therapie (BOT) mit Insulin glargin als Basalinsulin morgens injiziert (geringe Hypoglykämieneigung) häufig von Vorteil.
Mischinsuline Mischinsuline, welche in Mischungen von 25/75-, 30/70- oder 50/50-Verteilungen (Normal- beziehungsweise Analoginsulin/ NPH, Verzögerungsinsulin) injiziert werden, sind auf dem
80 ARS MEDICI 2 ■ 2009
BLUTZUCKER NICHT ISOLIERT BETRACHTEN!
Rückmarsch, sollten aber bei allen Patienten mit klar strukturiertem Tagesablauf, fünf Mahlzeiten pro Tag und stabiler Stoffwechsellage nach wie vor als therapeutisches Konzept angeboten werden. 50/50-Mischungen werden meist dreimal pro Tag, morgens, mittags und abends, injiziert und sind insbesondere bei Patienten mit einer ausgeprägten prandialen Insulinresistenz (schwer beherrschbare Blutzuckeranstiege zu den Hauptmahlzeiten) von Vorteil. Die Hypoglykämieneigung bei 50/50-Mischungen und Insulinresistenz ist relativ gering, sodass das Therapieprinzip durchaus Beachtung finden sollte. Eine Mischung von 30/70 verbietet sich immer dann, wenn die Zwischenmahlzeiten nur inkonstant eingenommen werden oder wiederholte Hypoglykämien aufgetreten sind.
Rezept zum Therapieerfolg Am Anfang jeder guten Behandlung steht die Anamnese zum gewohnten Tagesablauf. Die Behandlung sollte weitestgehend an die Wünsche des Patienten angepasst werden, jeder Behandlungsschritt wird mit einer «O.K.-Frage» abgesichert. Ein «Nicht-O.K» bedeutet eine Änderung des therapeutischen Konzeptes. Hierdurch wird der Patient schrittweise von Behandlungsstufe zu Behandlungsstufe einbezogen und zu seinem individuellen Therapieziel geführt (patientenzentrierte Stufentherapie).
Alle Antidiabetika können wie ein Mauerwerk, Baustein für
Baustein, auf dem individuellen therapeutischen Weg zum
Therapieziel zusammengesetzt werden. Nach dieser Konzep-
tion gibt es keinen vorgefertigten, das heisst gefestigten Weg
zum individuellen Therapieerfolg, sondern nur eine gemein-
same Absprache, die sich unter der Überschrift «Möglichst
wenig Verhaltensänderung» etablieren sollte. Auf diesem Weg
ist nahezu jede Kombination von Antidiabetika erlaubt, und
man hat als Therapeut Zeit nach dem Motto «Probieren neben
Studieren».
■
Literatur unter www.allgemeinarzt-online.de
PD Dr. med. Matthias Frank Innere und Intensiv-Abteilung
Kreuznacher Diakonie Fliedner Krankenhaus Neunkirchen Stadt-Krankenhaus Saarbrücken
D-66538 Neunkirchen
Interessenkonflikte: Der Autor ist Mitglied des Novo Nordisk Akademie® Advisory Boards.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 14/2008. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
BUCHBESPRECHUNG
Biomarker — Bedeutung für medizinischen Fortschritt und Nutzenbewertung
Hrsg. von G. Schmitz, St. Endres und D. Götte. XIV + 168 S., 48 Abb. und 14. Tab. Verlag Schattauer (2008). Fr 18.90 ISBN 978-3-7945-2614-7
«Biomarker sind messbare biochemische oder molekulare Grössen, die einen normalen oder pathologischen Prozess oder die Antwort auf eine therapeutische Intervention beschreiben», heisst es im Kapitel 2.3. dieses schmalen und kostengünstigen Bändchens. Diese Definition zeigt die Wichtigkeit dieser charakterisierenden biologischen Merkmale in der modernen Medizin. Die Typisierung von Gesundheitsrisiken, Krankheitsstadien und therapeutischen Effekten erfolgt häufig über objektiv bestimmbaren Biomarker, deren klinische Wertigkeit allerdings nicht immer gesichert ist. Mit anfänglich grossem Interesse greift man deshalb zu dieser neu herausgegebenen Publikation der Novartis-Stiftung für therapeutische Forschung, und man erhofft sich daraus praktischen Gewinn im beruflichen Alltag. 20 Autoren behandeln im Buch allerneuste Erkenntnisse über Biomarker – in der Forschung und Diagnostik, in der Arzneimittelentwicklung und auch aus Sicht der Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsbeurteilung. So weit, so gut! Man blättert interessiert
darin und man erfährt auch viel modernes und zukunftsgerichtetes Wissen. Für den Grundversorger eignet sich das Buch gleichwohl weniger, denn es ist schwierig, die praxisrelevanten Biomarker unter den mehrheitlich noch rein wissenschaftlichen, für die weitere Forschung massgeblichen biochemischen und pathophysiologischen Erkenntnissen herauszufiltern. Zudem fehlt am Schluss leider ein Sachverzeichnis, das dem eiligen Leser bei einer spezifischen Frage weiterhelfen würde. Der praktizierende Arzt profitiert aus den insgesamt 12 Einzelbeiträgen vor allem aus Kapitel 2 und 7 (Biomarker bei der koronaren Herzkrankheit und beim metabolischen Syndrom), andererseits sind beispielsweise die Kapitel Gastroenterologie und Onkologie eher kurz und wenig praxisnah abgehandelt. Die Abschnitte über die Biomarker aus der Sicht der wissenschaftlichen Fachgesellschaften (so auch der Pharmakologie, Pulmonologie und Neurologie) sind für den Grundversorger doch gar zu theoretisch. Er wird auch von den breit aufgeführten Literaturangaben (bis 2007 nachgeführt) wenig Nutzen haben. So legt man das Buch als Allgemeinpraktiker eher etwas enttäuscht beiseite und erhofft sich eine praxisgerechtere Darstellung der in der Medizin so wichtigen Biomarker.
Hans-Ulrich Kull, Küsnacht
ARS MEDICI 2 ■ 2009 81