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BERICHT
Neue Therapiekonzepte bei Lungenkrebs
Molekulare Onkologie trägt auch bei diesem gefürchteten Karzinom Früchte
Das Lungenkarzinom ist eine Krebsform, die besonders häufig tödlich verläuft, aber zu wenig öffentliche Beachtung findet. Beim Lungenkrebs sind geringere Behandlungsfortschritte zu verzeichnen als beispielsweise beim Mammakarzinom. Doch therapeutischer Nihilismus ist fehl am Platz. Mit innovativen, molekular gezielten Therapien gelingt es, die Prognose zu verbessern.
ALFRED LIENHARD
Dass es sich bei Lungenkrebserkrankungen geradezu um eine Epidemie handelt, wird immer noch zu wenig zur Kenntnis genommen und in den Medien fast totgeschwiegen, sagte Privatdozent Dr. Miklos Pless, Medizinische Onkologie und Tumorzentrum, Kantonsspital Winterthur, am Journalisten-Studientag «Lungenkrebs», der von der Firma Roche unterstützt wurde. In der Schweiz sterben pro Jahr etwa 2000 Männer und 830 Frauen an Lungenkrebs. Jährlich erkranken etwa 2400 Männer und 1200 Frauen neu daran. Damit ist Lungenkrebs bei Männern die dritthäufigste Krebserkrankung, fordert aber am meisten Todesopfer. Der Beginn der Lungenkrebsepidemie folgte mit 20-jähriger Verspätung der Entwicklung der Raucherepidemie nach, die hauptsächlich durch zwei Erfindungen angeheizt worden war: das vorgefertigte Phosphor-Streichholz (seit 1827) und die vorfabrizierte Zigarette (seit 1913). Richard Doll, Oxford, legte vor vier Jahren die Ergebnisse seiner 50 Jahre dauernden, prospektiven Studie vor, in der 34 439 britische Ärzte (nur Männer) von 1951 bis 2001 zum eigenen Rauchverhalten befragt und die Mortalitätsdaten
erfasst wurden. Nicht alle rauchenden Ärzte starben vorzeitig, aber zur Hälfte starben Raucher 10 Jahre früher als Nichtraucher, im Durchschnittsalter von 72 statt 82 Jahren (1). Leider haben beim Rauchen die primärprophylaktischen Bemühungen versagt: Frauen und Teenager begannen sogar vermehrt zu rauchen. Dass es sich aber lohnt, den Rauchern beim Überwinden ihrer Sucht zu helfen, belegen die 50Jahre-Resultate der Studie von Richard Doll eindrücklich. Wenn Ärzte im Alter von 35 bis 44 Jahren das Rauchen aufgaben, gewannen sie etwa 9 Jahre, und ihre Lebenserwartung näherte sich derjenigen der Nichtraucher. Rauchstopp im Alter von 45 bis 54 Jahren bedeutete noch einen Gewinn von etwa 6 Lebensjahren (1). Raucher, die bis 20 Zigaretten pro Tag konsumieren, haben im Vergleich zu Nichtrauchern ein 11-fach erhöhtes Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, wobei eine klare Dosis-Schaden-Beziehung besteht (Alter bei Beginn der Rauchgewohnheit, Anzahl Zigaretten, Anzahl Raucherjahre, Inhalationstiefe). Das hohe Lungenkrebsrisiko normalisiert sich 16 Jahre nach dem Rauchstopp weitgehend (nur noch 1,6-fach erhöht). Die Diagnose Lungenkrebs motiviert oft
PD Dr. Miklos Pless
(© Alfred Lienhard)
zum Rauchstopp. Wegen des genetischen Hintergrunds von Lungenkrebs ist es auch wichtig, die Nachkommen betroffener Patienten zum Rauchstopp zu bewegen.
Merksätze
■ In der Schweiz sterben pro Jahr etwa 2000 Männer und 830 Frauen an Lungenkrebs. Jährlich erkranken etwa 2400 Männer und 1200 Frauen neu daran.
■ Die 50-Jahre-Resultate einer Studie bei britischen Ärzten belegen eindrücklich, dass es sich lohnt, den Rauchern beim Überwinden ihrer Sucht zu helfen.
■ Gezielt gegen epitheliale und vaskuläre Wachstumsfaktoren gerichtete neue Medikamente verlängern beim fortgeschrittenen nicht kleinzelligen Lungenkarzinom das Überleben und werden jetzt auch in der Erstlinientherapie erprobt.
14 ARS MEDICI 1 ■ 2009
BERICHT
Molekulare Onkologie: Neue Impulse für die Lungenkrebstherapie Während die 5-Jahres-Überlebensraten bei anderen häufigen Krebsformen in den letzten 20 Jahren erheblich zunahmen, verbesserte sich die Prognose beim Lungenkrebs nur geringfügig. Beispielsweise stiegen die 5-Jahres-Überlebensraten beim Mammakarzinom in den Jahren 1974 bis 2000 um 13 Prozent an (von 75% auf 88%), beim Lungenkrebs aber nur um 2 Prozent (von 13% auf 15%). Fehlendes Verständnis für Lungenkrebskranke in der Gesellschaft, keine Lobby und deshalb Mangel an Forschungsgeldern sind die Hauptgründe für das Fortschrittsmanko. Das Adenokarzinom stellt heute die häufigste Form der nicht kleinzelligen Lungenkrebse (NSCLC = non-small-cell lung cancer) dar, während das Plattenepithelkarzinom seltener geworden ist. Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung sind in fast der Hälfte der Fälle von NSCLC bereits Metastasen vorhanden. Durch Chemotherapie kann das mediane Überleben durchschnittlich um 6 Monate verlängert werden (1-JahresÜberleben 40% statt 10%), wobei die Lebensqualität besser wird als ohne Chemotherapie. Durch molekular gezielte Therapien ist es gelungen, die Prognose noch weiter zu verbessern. Das orale, kleinmolekulare Medikament Erlotinib (Tarceva®) hemmt die Tyrosinkinase der bei 70 Prozent aller NSCLC nachweisbaren EGF-Rezeptoren (epidermal growth factor receptor [EGFR]). Im Rahmen einer Studie verbesserte Erlotinib (einmal täglich 150 mg peroral) als Zweitlinien-Therapie im Vergleich zu Plazebo das 1-Jahres-Überleben signifikant von 22 auf 31 Prozent. Die 731 Patienten, die in die Studie einbezogen wurden, litten an lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem NSCLC, wobei bereits mindestens eine Chemotherapie versagt hatte (2). Das mediane Überleben, das lediglich eine punktuelle Aussage erlaubt, wurde um 2 Monate von 4,7 auf 6,7 Monate verbessert. Mit einer Hazard Ratio von 0,70 waren die Überlebenskurven signifikant unterschiedlich. Die Lebensqualität wurde durch die EGFR-Hemmer-Therapie ver-
bessert. Als Hauptnebenwirkungen von Erlotinib kommen Hautausschläge und Durchfälle vor, aber nicht Übelkeit und Erbrechen, Haarausfall oder Knochenmarksveränderungen wie bei Chemotherapien. Der rekombinante, humanisierte monoklonale Antikörper Bevacizumab (Avastin®) bindet sich selektiv an den vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor VEGF (vascular endothelial growth factor) und verhindert dessen biologische Aktivität. Durch Hemmung der Tumorangiogenese wird die Vaskularisierung zahlreicher Tumorformen unterbunden und das Tumorwachstum gehemmt. Mitte September 2008 erhielt Bevacizumab in der Schweiz die Kassenzulassung als Erstlinientherapie bei Lungenkrebs. Zur Behandlung von Patienten mit nicht resezierbarem, fortgeschrittenem, metastasiertem oder rezidivierendem NSCLC, sofern er nicht plattenepithelartig ist, wurde Bevacizumab in Kombination mit einer Cisplatin- und Gemcitabin-haltigen Chemotherapie in die Spezialitätenliste aufgenommen. Bei der BevacizumabTherapie von Lungenkrebs wird dem Versicherer nach dem Therapiestart von der Herstellerfirma eine Pauschale von 3000 Franken zur Reduktion der Therapiekosten vergütet. «Das Medikament wird in der Regel von den Patienten ausgezeichnet vertragen, praktisch ohne Nebenwirkungen», sagte der Referent. Selten (in 1 bis 5%) kommen allerdings schwere Nebenwirkungen vor: Hypertonie, schwere Blutungen, Thrombosen in Venen und Arterien. Weil Patienten mit Plattenepithelkarzinom in Studien häufiger schwere Blutungen erlitten, wird der Angiogenesehemmer in diesen Fällen nicht eingesetzt. Auch Patienten mit kürzlich aufgetretener pulmonaler Hämoptoe dürfen nicht mit Bevacizumab behandelt werden. Zwei grosse, randomisierte Phase-IIIStudien wiesen nach, dass Bevacizumab bei Patienten mit rezidivierendem, fortgeschrittenem oder metastasiertem NSCLC, die zuvor keine Chemotherapie erhalten hatten, in Kombination mit verschiedenen Chemotherapie-Schemata das Überleben ohne Tumorwachstum (progressionsfreies Überleben) signifi-
kant verlängert im Vergleich zur alleini-
gen Chemotherapie. In der amerikani-
schen Studie der Eastern Cooperative
Oncology Group (ECOG-Studie E4599)
wurde überdies als primäres Studienziel
eine signifikante Verlängerung des Ge-
samtüberlebens erreicht. Mit Bevacizu-
mab in Kombination mit Paclitaxel
(Taxol® oder Generika) und Carboplatin
(Paraplatin® oder Generika) betrug das
mediane Überleben 12,3 Monate, ohne
den Angiogenesehemmer nur 10,3 Mo-
nate (3). Ausserhalb der USA, insbe-
sondere in Europa, wird üblicherweise
eine andere Chemotherapie-Kombina-
tion verwendet (Cisplatin [Platinol® oder
Generika] und Gemcitabin [Gemzar®]).
Bevacizumab erwies sich zusammen mit
dieser Kombinationschemotherapie im
Rahmen der AVAiL-Studie (Avastin in
Lung) als nützlich.
In der Schweiz wird derzeit eine Studie
der Schweizerischen Arbeitsgemein-
schaft für Klinische Krebsforschung
(SAKK 19/05) durchgeführt, bei der Be-
vacizumab zusammen mit dem oralen
EGF-Rezeptorhemmer Erlotinib als Erst-
linientherapie bei Lungenkrebs einge-
setzt wird. Insgesamt 101 Patienten mit
fortgeschrittenem oder metastasiertem,
nicht plattenepithelartigem NSCLC (Sta-
dien IIIB und IV) werden in die Studie
einbezogen. Bis im September 2008 be-
teiligten sich bereits 95 Patienten. Sobald
während der chemotherapiefreien Be-
handlung Zeichen von Tumorwachstum
feststellbar sind, werden die Patienten in
einer zweiten Studienphase mit einer
platinhaltigen Chemotherapie weiter-
behandelt. Erste Studienresultate sind
Mitte 2009 zu erwarten.
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Referenzen: 1. Doll R et al.: Mortality in relation to smoking: 50 years’ ob-
servations on male British doctors. British Medical Journal 2004; 328: 1519—1527. 2. Shepherd A et al.: Erlotinib in previously treated non-smallcell lung cancer. New England Journal of Medicine 2005; 353: 123—132. 3. Sandler A et al.: Paclitaxel-carboplatin alone or with bevacizumab for non-small-cell lung cancer. New England Journal of Medicine 2006; 355: 2542—2550.
Interessenlage: Diese Berichterstattung erfolgt industrieunabhängig.
Alfred Lienhard Winterthur
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