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BERICHT
Sind Diabetiker fahrtauglich?
Hypoglykämien am Steuer gelten als Hauptrisiko
Insulinpflichtige Diabetiker am Steuer haben ein erhöhtes Unfallrisiko. Hauptursache dafür sind Unterzuckerungen. Bis anhin werden viele Diabetiker jedoch von ihren Ärzten nicht ausreichend über die Gefahren und geeignete Vorsichtsmassnahmen unterrichtet, beklagten Experten auf dem Kongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) in Rom.
UWE BEISE
Weltweit ereignen sich jährlich etwa 1,2 Millionen tödliche Verkehrsunfälle, auf 50 Millionen wird die Zahl der Unfallverletzten geschätzt. In nur 1 Prozent der Fälle sollen Erkrankungen der Verkehrsteilnehmer dabei eine ursächliche Rolle spielen. Die Dunkelziffer dürfte allerdings nicht ganz gering sein, meinte Professor Brian M. Frier, Department of Diabetes, Royal Infirmary of Edinburgh, Schottland. Gefährdet sind zweifellos auch insulinpflichtige Diabetiker, vor allem, wenn sie unbemerkt und rasch in eine Hypoglykämie rutschen. Häufig, so Frier, würde von den Diabetikern nicht bedacht, dass nach einer hypoglykämischen Episode 45 Minuten vergehen, bis die kognitiven Fähigkeiten vollständig wiederhergestellt sind. Diese Erholzeit müsse eingehalten werden, bevor ans Weiterfahren zu denken sei. Untersuchungen an Simulatoren haben das bestätigt. Schon ab einem Blutzucker unter 3,8 mmol/l besteht eine eingeschränkte Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit und damit eine erhöhte Unfallgefahr. Im Experiment, so Frier, könne man sehen, dass die unterzuckerten Probanden leicht von der Strasse abkommen, die
Mittellinie überfahren oder ein Stoppzeichen ignorieren. Diabetiker sollten vor Fahrtantritt stets einkalkulieren, dass das Autofahren selbst dazu beiträgt, den Blutzuckerspiegel wegen des gesteigerten Glukosebedarfs zu senken.
Diabetiker – von Ärzten schlecht beraten Wie oft eine Hypoglyämie am Steuer tatsächlich die Ursache für einen Crash ist, lässt sich laut Frier kaum feststellen. Meist seien mehrere Faktoren beteiligt, die zum Unfall führten. «Und der Blutzucker wird ja kaum am Unfallort gemessen, sodass eine Zuordnung unterbleibt.» Offiziell gibt es nach Angaben von Frier in Grossbritannien 5 tödliche Unfälle pro Jahr und 30 schwere Unfälle pro Monat, die durch eine Hypoglykämie verursacht werden. «Das ist nicht wenig», meinte er. Befragungen haben zudem gezeigt, dass Typ-1-Diabetiker doppelt so häufig über Unfälle berichten wie Nichtdiabetiker. Leider mangle es an einer ausreichenden Aufklärung seitens der behandeln-den Ärzte, meinte der Diabetologe. Jeder zweite Typ-1-Diabetiker und nur jeder dritte insulinpflichtige Typ-2-Diabetiker, so ergab eine Be-
fragung, hat die Problematik je mit dem Arzt besprochen. Offenbar meinten manche Ärzte, Aufklärung sei «verschwendete Zeit», beklagte Frier. Dabei wäre es wichtig, den Patienten etwa darauf aufmerksam zu machen, stets vor einer Fahrt den Blutzucker zu messen und daran zu denken, das Messbesteck mitzunehmen, um während der Reise kontrollieren zu können. Einfache Regeln also, die aber oft nicht beherzigt würden. Gute Aufklärung müsse auch mit einem oft vorherrschenden falschen Sicherheitsgefühl aufräumen. Eine Untersuchung hatte aufgedeckt, dass jeder vierte Diabetiker davon ausging, auch ein Blutzuckerwert unter 4,0 mmol/l sei sicher. Jeder Zweite gab an, nie vor der Fahrt den Blutzucker zu kontrollieren. Als «völlig inkonsistent und zum Teil unangemessen» bezeichnete Frier die derzeitigen Reglementierungen der Behörden. Die noch gültigen EU-Richtlinien aus dem Jahr 1991 erscheinen alles andere als eindeutig. Sie fordern zwar bei insulinpflichtigen Diabetikern regelmässige Gesundheitschecks, nennen aber keine Fristen und schweigen sich darüber aus, welche Ärzte zur Überprüfung autorisiert sind. Auch sei der Inhalt der Gesundheitschecks nicht näher benannt. In der Folge werden die EU-Richtlinien von Land zu Land unterschiedlich ausgelegt. In Dänemark müssen insulinpflichtige Diabetiker beispielsweise alle 2 Jahre ihre Fahrerlaubnis neu einholen, in Irland alle 10 Jahre, in Deutschland erfolgt eine Überprüfung überhaupt nur, wenn ein Diabetiker einen Unfall verursacht hat. Berufsfahrer dürfen dem Reglement nach nur in Ausnahmefällen eine Fahrerlaubnis, etwa zum Führen eines LKW, erhalten. Allerdings werde
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S I N D D I A B E T I K E R FA H RTAU G L I C H ?
Eingenickt hinter dem Steuer — manchmal Folge einer Unterzuckerung
in einzelnen Ländern – etwa in den Niederlanden – die Ausnahme zur Regel erklärt, meinte Frier. Keine eindeutigen Vorschriften gibt es für Taxifahrer und Fahrer von Rettungsfahrzeugen. Es sei aber unverantwortlich, einen Typ-1-Diabetiker im Rettungsdienst fahren zu lassen, mahnte der Diabetologe.
Nicht alle Diabetiker haben die gleichen Risiken Nicht alle insulinpflichtigen Diabetiker haben ein ähnlich hohes Unfallrisiko. Als gesichert gilt, dass Diabetiker mit zunehmender Dauer einer Insulintherapie öfter in Hypoglykämien geraten, wohl auch wegen der sich abschwächenden Frühwarnzeichen. Wie gross die Unfallgefährdung ist, hänge aber von einer Reihe von Faktoren ab, meinte Professor Daniel J. Cox, University of Virginia. Der Diabetologe hat versucht, die Risiken im Rahmen einer prospektiven Studie genauer unter die Lupe zu nehmen. Seine Arbeitsgruppe gewann 452 Typ-1-Diabetiker aus den amerikanischen Regionen Central Virginia, Minneapolis und Boston für den Versuch. Die Teilnehmer mussten sich zunächst ausführlichen
Untersuchungen respektive Anamnesen unterziehen, Sehleistungen, vorhandene diabetische Komplikationen wie KHK, Nephropathie oder Neuropathie und HbA1c-Werte wurden dokumentiert. In den folgenden zwölf Monaten stellten sich Probanden einmal monatlich vor und berichteten über mögliche Ereignisse, die ihnen am Steuer widerfahren waren. Dabei stellte sich heraus, dass 52 Prozent von ihnen im Studienjahr mindestens ein hypoglykämisches Er-
In der Schweiz …
… werden Diabetiker normalerweise als Privatwagenlenker zugelassen. Nach einem Unfall wegen Unterzuckerung am Steuer wird eine Untersuchung durch den Amtsarzt angeordnet. Oft wird dann die Fahrtauglichkeit unter Auflagen bescheinigt. Typische Auflagen sind: Blutzuckerselbstmessung vor jeder Autofahrt und erneute Kontrolle beim Amtsarzt nach einem Jahr. Als Car- oder Buschauffeure werden Diabetiker in der Schweiz abgelehnt.
eignis während der Fahrt erlebt hatten, 5 Prozent der Teilnehmer berichteten über 6 oder mehr solcher Zwischenfälle. Insgesamt kam es zu 11 Verkehrsunfällen, verursacht durch 2,5 Prozent der Probanden. Fast 200-mal registrierten die Teilnehmer «automatic driving», das heisst, die Fahrer hatten ihr Fahrzeug für eine Teilstrecke nicht im vollen Bewusstsein unter Kontrolle und fuhren gleichsam «automatisch». Betroffen waren davon immerhin 18 Prozent, also fast jeder fünfte Teilnehmer. Ebenso hoch fiel die Zahl derer aus, die Fahrten abbrechen und dem Beifahrer das Steuer überlassen mussten. Die Studienleiter konnten bei einer genaueren Datenanalyse zeigen, dass eine Reihe von Faktoren das Risiko modifiziert hatte. Dazu zählten auch solche, die mit der diabetischen Erkrankung nichts zu tun hatten. Es stellte sich heraus, dass Fahrer, die mindestens zwei hypoglykämischen Ereignisse am Steuer erlebt hatten, gegenüber solchen ohne einen einzigen derartigen Zwischenfall mehr Kilometer zurückgelegt hatten, öfter Alkoholprobleme aufwiesen, häufiger allein lebten und sich insgesamt durch schlechtere kognitive Leistungen auszeichneten. Aber es offenbarten sich auch mit dem Diabetes assoziierte Risikofaktoren. Hierzu zählten: ■ HbA1c <7 Prozent ■ rigides Therapieregime ■ ausgeprägte Angst vor den Folgen einer Hyperglykämie ■ eingeschränkte Wahrnehmung einer beginnenden Unterzuckerung ■ fehlerhafte Einschätzung der Risiken («Ich fahre auch bei niedrigem Blutzucker noch gut»). Cox meinte, es seien weitere Untersu- chungen für eine bessere Risikostratifi- zierung nötig. Diese sollte nicht etwa dazu dienen, Diabetiker möglichst vom Steuer fernzuhalten, sondern Risikopa- tienten besser erkennen und beraten zu können. ■ Uwe Beise Interessenkonflikte: keine ARS MEDICI 24 ■ 2008 1069