Transkript
Editorial
Der Halo-Effekt bezeichnet eine allgemeine Wahrnehmungstäuschung oder -verzerrung in der Einschätzung einer Person oder einer Sache aufgrund eines ihr zugeschriebenen Merkmals. Mit ähnlichen Effekten haben wir es immer wieder auch in der Medizin zu tun. Ein prominentes Beispiel geben Vitamine ab. Ihr Image ist ausgesprochen positiv: Vitamine sind wertvoll, schliesslich halten sie den regelgerechten Stoffwechsel auf Trab; bestimmte Vertreter, wie die Vitamine C und E sind Antioxidanzien und fangen als solche freie Radikale ab. Diese wiederum haben den Ruf als zerstörerische Übeltäter erworben. Und man weiss ja, wie man mit Radikalen umzugehen hat: man macht sie unschädlich. Die Wirklichkeit indes ist vielschichtiger als es der erste Reflex
Während von Wirkungslosigkeit auszugehen ist, könnten die unerwünschten Effekte auch zufällig sein; allerdings gab es bereits Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Diabetes und hohen Selenkonzentrationen.
Viel hilft nicht
glauben will. Freie Radikale spielen nämlich zuweilen, etwa im Energiestoffwechsel und in der Abwehr von Krankheitserregern und körperfremder Strukturen durch neutrophile Granulozyten, eine segensreiche Rolle. Und die Vitamine? Sie werden immer noch zu oft für natürliche Allzweckwaffen gehalten, die vor Krebs, Arteriosklerose und manch anderem schützen. Millionen Menschen schlucken regelmässig Vitamine als Nahrungsergänzungsmittel – getreu dem Motto: Viel hilft viel. Dabei haben sich Vitaminsupplementierungen nun schon zum wiederholten Mal als nutzlos oder gar potenziell gefährlich erwiesen. Erst vor wenigen Wochen hat das US-National Cancer Institute den vorzeitigen Abbruch der SELECT-Studie (Selenium and Vitamin E Cancer Prevention Trial) bekannt gegeben. In einer Zwischenanalyse hatte sich gezeigt, dass Vitamin E und/oder Selen Männer nicht wie gehofft vor einem Prostatakarzinom bewahrt. Unter täglichen Vitamin-E-Dosen von 400 mg war das Risiko von Prostatakarzinomen sogar tendenziell erhöht, die künstliche Selenzufuhr (200 µg) liess die Zahl der Diabeteserkrankungen ansteigen.
Ähnlich frustrierend verlief die soeben im «JAMA» (2008, 300[18]: 2123–2133) publizierte Physician’s Health Study II. Weder Vitamin C noch Vitamin E vermochte in dieser Langzeitsudie das Auftreten kardiovaskulärer Ereignisse bei Männern in mittlerem und höherem Lebensalter zu beeinflussen. Insgesamt lässt sich heute konstatieren: Vitaminhaltige Nahrungsergänzungsmittel sind in der Regel wertlos und womöglich gar bedenklich. Erinnert sei daran, dass das Lungenkrebsrisiko von Rauchern unter Vitamin-A-Supplementierung ansteigt. Zur Diskussion steht auch, ob Vitamin E das Auftreten einer Herzinsuffizienz begünstigt, eine im letzten Jahr publizierte Metaanalyse ermittelte sogar eine leichte, wenn auch nicht signifikant erhöhte Sterblichkeit unter langfristiger Einnahme des Vitamins (JAMA 2007; 297: 842– 857). Der Einsatz antioxidativer Vitamine müsse in Zukunft gut begründet werden, hat Gerd Antes, Leiter des deutschen Cochrane-Zentrums, gefordert. Diesem Urteil sollten wir uns anschliessen.
Uwe Beise
ARS MEDICI 23 ■ 2008 1017