Transkript
BERICHT
Paracetamol-Überdosierungen
Ab wie vielen Tabletten wirds gefährlich?
Paracetamol-Überdosierungen ge-
hören weltweit zu den häufigsten
Medikamentenintoxikationen. Auch
in der Schweiz ist dieser Notfall
keine Seltenheit. Über 800 Mal hat
zum Beispiel das Schweizerische
Toxikologische Informationszentrum
im letzten Jahr zu dieser Vergif-
tungsart Auskunft gegeben. Mindes-
tens 1 der Fälle endete tödlich.
Darüber hinaus wurde von weiteren
schweren Verläufen berichtet.
KARL EBERIUS
Paracetamol-Überdosierungen sind vor allem für die Leber gefährlich, wo ein Grossteil des Wirkstoffes verstoffwechselt wird. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Entgiftungsmolekül Glutathion, das in der Leber normalerweise für eine zuverlässige Entsorgung toxischer Paracetamol-Metabolite sorgt. Bei zu hohen Paracetamol-Gaben sind die schützenden Glutathion-Vorräte jedoch schnell aufgebraucht. Die giftigen Abbauprodukte werden nicht mehr beseitigt, und es droht eine massive Schädigung der Leberzellen bis hin zum vollständigen Leberversagen. Nicht jede vermeintlich zu hohe Paracetamol-Einnahme stellt jedoch eine Ge-
Dr. Christine Rauber-Lüthy, Schweizerisches Toxikologisches Informationszentrum
fahr dar. Ab wie vielen Tabletten es tatsächlich gefährlich wird, hängt stark von den jeweiligen Vorerkrankungen der Betroffenen ab. Bei sonst gesunden Erwachsenen ohne Risikofaktoren werden in der Schweiz als Grenze zum Beispiel 7,5 g angesehen, ab der ein Spitalaufenthalt und eine Antidottherapie mit ACC empfohlen wird, wie Dr. med. Christine Rauber-Lüthy vom Schweizerischen Toxikologischen Informationszentrum erläutert. Derselbe Grenzwert gilt für Paracetamol-Intoxikationen, bei denen sich die eingenommene Medikamentenmenge nicht genau ermitteln lässt. Wenn sich also sicher sagen lässt, dass ein Patient ohne Risikofaktoren nur 7 g Paracetamol eingenommen hat, muss nach Hinweisen der Toxikologin keine Einweisung ins Spital erfolgen und auch keine ACC-Therapie eingeleitet werden.
Niedrigere Grenzwerte bei Alkoholabusus Deutlich niedrigere Grenzwerte gelten dagegen für Betroffene, bei denen mög-
licherweise ein Glutathionmangel vorliegt, wie etwa bei einer Magersucht, einer Malnutrition oder verschiedenen Lebererkrankungen. In diesen Fällen stuft das TOX-Zentrum nach Hinweisen von Rauber-Lüthy bereits ParacetamolMengen von über 4 g pro Tag als potenziell gefährlich ein, also wenn der
Anfangs nur unspezifische Symptome
Bei Paracetamol-Überdosierungen leiden Betroffene in den ersten Stunden häufig nur unter unspezifischen gastrointestinalen Beschwerden wie Übelkeit und Erbrechen. Erst im späteren Verlauf — teilweise erst nach Tagen — folgen dann die typischen Zeichen einer Leberschädigung. Je nach Vergiftungsschwere kommt es dabei zum Beispiel zu Blutungsneigungen, Ikterus und Bewusstseinsstörungen bis hin zum hepatischen Koma.
Hustenmittel als Antidot
Wenn bei einer Paracetamol-Intoxikation rechtzeitig ein Gegenmittel verabreicht wird, lassen sich die gefürchteten Leberschäden mit einer hohen Wahrscheinlichkeit verhindern. Standardmedikament ist N-Acetylcystein (ACC), das als Mukolytikum weitverbreitet ist und die Regeneration von Glutathion fördert, das wiederum eine wichtige Rolle bei der Entsorgung von giftigen Paracetamol-Metaboliten spielt. Wichtig ist bei der Therapie einer Paracetamol-Überdosierung allerdings, dass nicht die üblichen Dosierungen einer mukolytischen Behandlung zum Einsatz kommen, sondern deutlich höhere ACCMengen.
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PA R A C E TA M O L- Ü B E R D O S I E R U N G E N
Erste Hilfe bei Paracetamol-Überdosierungen
Betroffene wirklich erbrechen lassen?
Immer wieder taucht bei Vergiftungen die Frage auf, ob man Betroffene im Notfall erbrechen lassen soll, ehe das Gift über den Darm in den Blutkreislauf aufgenommen wird. Allerdings empfehlen Experten die Induktion von Erbrechen heute nur noch bei ganz wenigen, extrem giftigen Substanzen, zu denen Paracetamol nach Hinweisen von Professor Dr. Sacha Weilemann vom Mainzer Giftnotruf definitiv nicht gehört. Als Argument wird dabei zum Beispiel angeführt, dass die eventuellen Komplikationen beim Erbrechen wie etwa eine Aspiration als deutlich gefährlicher anzusehen sind als die Paracetamol-Intoxikation selbst, wenn rechtzeitig eine Therapie mit Acetylcystein eingeleitet wird.
Sinnvoll kann bei einer toxischen Paracetamol-Dosis dagegen die Gabe von Kohle sein, womit sich die Resorption des Wirkstoffes in einigen Fällen verhindern oder zumindest verringern lässt. Innerhalb welcher Zeitspanne eine solche Kohlegabe hilfreich und empfehlenswert ist, wird jedoch nicht überall gleich beantwortet. Oft werden ein oder zwei Stunden nach der Ingestion als Maximum angesehen, wobei die Kohlegabe vielerorts oft nur als Vorschlag erwähnt wird und nicht als absolut unumstössliches Therapieprinzip. In der Schweiz wird die Kohlegabe für Patienten empfohlen, die sich bis maximal eine Stunde nach der Paracetamol-Einnahme präsentieren und eine Paracetamol-Menge von 7,5 g oder mehr aufgenommen haben. Die dazugehörige Dosierungsempfehlung lautet 1 bis 2 g Kohle pro kg Körpergewicht, was als wässrige Aufschwemmung per os verabreicht wird.
Sinnvoll können auch Antiemetika wie Metoclopramid sein, da Übelkeit bei Paracetamol-Intoxikationen eine häufige Begleiterscheinung darstellt. Je nach Situation ist die Gabe zum Beispiel in oraler Form möglich, wobei im Falle von gleichzeitigem Erbrechen gegebenenfalls eine intravenöse Applikation besser geeignet ist, um eine zuverlässigere Wirkung zu erzielen.
Darüber hinaus gibt es bei einer Paracetamol-Überdosierung nach Angaben von Weilemann nichts, was als weitere Erstmassnahme ausserhalb des Krankenhauses zu empfehlen wäre.
Suizidversuche mit Paracetamol
Die Mehrheit der Paracetamol-Überdosierungen erfolgt nach wie vor in suizidaler Absicht. Betrachtet man nur die Vergiftungsfälle von Jugendlichen und Erwachsenen, beträgt dieser Anteil in der Schweiz nach Schätzungen von Dr. Rauber-Lüthy sogar über 90 Prozent, während bei Kleinkindern akzidentelle Intoxikationen im Vordergrund stehen, zum Beispiel wenn Paracetamol-Sirup falsch dosiert wurde.
therapeutische Bereich von Paracetamol überschritten wurde. Dieselbe Grenze ist zudem bei Patienten anzusetzen, die unter einem chronischen Alkoholabusus leiden oder Cytochrom-P-450-induzierende Medikamente einnehmen, da
Cytochrom P 450 die Bildung toxischer Paracetamol-Metabolite fördern kann. Dies gilt zum Beispiel für die Antiepileptika Carbamazepin und Phenobarbital oder auch für das Antibiotikum Rifampicin. Handelt es sich darüber hinaus nicht um eine einmalige Intoxikation, sondern um eine Überdosierung über einen längeren Zeitraum, werden vom TOXZentrum ebenfalls Dosierungen von über 4 g pro Tag als potenziell toxisch angesehen, ergänzt Rauber-Lüthy. Gesonderte Empfehlungen existieren ausserdem für Paracetamol-Überdosierungen, die sich im Kindesalter ereignen. In solchen Fällen werden laut RauberLüthy 200 mg/kg Körpergewicht als Schwelle angesetzt, wenn es sich um eine einmalige Einnahme handelt, wobei die Altersgrenze zwischen Kindern und Erwachsenen 14 Jahre beträgt. ■
Warum haben andere Länder andere Grenzwerte?
Obwohl überall auf der Welt mehr oder weniger dieselben Studien zu Paracetamol-Vergiftungen verfügbar sein dürften, unterscheiden sich die Empfehlungen zu Paracetamol-Überdosierungen von Land zu Land teilweise deutlich. Während zum Beispiel in Grossbritannien und Deutschland Dosierungen ab 150 mg pro Kilogramm Körpergewicht bei gesunden Erwachsenen ohne Risikofaktoren als potenziell gefährlich angesehen werden, empfiehlt in den USA die American Association of Poison Control Centers eine Einweisung in die Notfallambulanz erst ab 200 mg pro kg Körpergewicht bzw. einer Gesamtdosis von 10 g, je nachdem, welcher Wert früher erreicht ist. Zudem sollen dort alle Fälle, bei denen sich eine Selbstschädigung vermuten lässt, in die Notfallambulanz eingewiesen werden, unabhängig, wie viel Paracetamol geschluckt wurde.
Hier in der Schweiz wird dagegen ab 7,5 g Paracetamol davon ausgegangen, dass es zu einer Leberschädigung kommen kann, beziehungsweise dass bei niedrigeren Dosierungen keine relevante Vergiftung vorliegt, wenn es sich um eine einmalige Einnahme bei gesunden Erwachsenen ohne Risikofaktoren handelt.
Warum in einigen Ländern höhere und in anderen Ländern niedrigere Grenzwerte verwendet werden, beruht nach Einschätzung verschiedener Experten in erster Linie nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Vielmehr werden finanzielle Gründe angeführt, da bei höheren Grenzwerten weniger Betroffene ins Spital aufgenommen werden müssen, wodurch sich Kosten für den stationären Aufenthalt sparen lassen.
Dr. med. Karl Eberius E-Mail: K.Eberius@Medizinjournalist.com
Internet: www.medizinjournalist.com
Lesen Sie zum Thema auch das nachfolgende Interview mit Professor Sacha Weilemann.
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