Transkript
FORTBILDUNG
Stürze verhindern ist wichtiger als Osteoporoseprävention
Ratschläge zur Ermittlung des individuellen Sturzrisikos
Um das Frakturrisiko im Alter zu mindern, konzen-
trierte sich die Forschung bisher auf die Knochen-
dichte. Darüber geriet ein entscheidender Faktor ins
Hintertreffen, nämlich die Prävention von Stürzen.
Die Gewichtung von Risikofaktoren für Frakturen im
Alter und die Erfolgssaussichten verschiedener
Präventionsmassnahmen wurden kürzlich in einer
Ausgabe des «British Medical Journal» erläutert.
BMJ
Nicht die Osteoporose, sondern Stürze sind der bedeutendste Risikofaktor für eine Fraktur im Alter. Über 80 Prozent der Patienten mit Frakturen nach einem inadäquaten Trauma haben gemäss der gängigen Klassifizierung keine Osteoporose. Selbst wenn man zusätzlich alle Patienten mit Osteopenie herausrechnet, kommen immer noch 75 Prozent dieser Frakturen bei Personen mit normaler Knochendichte vor, relativieren Dr. Teppo Järvinen, Orthopäde am Universitätsspital in Tampere, Finnland, und seine Koautoren im «British Medical Journal» (BMJ) die Bedeutung der Knochendichte für Frakturen im Alter. Darum sei es höchste Zeit, dass sich der Fokus der Forschung von der Knochendichte zur Sturzprävention verschiebt (1). Das scheint dringend nötig, denn die Datenlage zur Vermeidung von Frakturen mittels Sturzprävention ist noch dürftig. Es gibt zwar randomisierte Studien, die eine Verminderung von Stürzen durch bestimmte Massnahmen nachgewiesen haben (relative Risikominderung 15 bis 50 Prozent). Bisher habe es aber leider noch keine entsprechende Studie mit einer wirklich ausreichenden statistischen Power gegeben, um auch die Verminderung von Frakturen als primären Studienendpunkt nachzuweisen, so die BMJ-Autoren.
Was schützt vor Stürzen im Alter? Die Autoren eines Cochrane-Reviews auf der Grundlage von 62 Studien mit insgesamt 21668 Personen benannten vor fünf
Jahren «wahrscheinlich nützliche» Interventionen zur Sturzprävention, wie das individuelle, systematische Erfassen und Vermindern von Sturzrisiken (Stolperfallen etc.), individuelles Kraft- und Balancetraining oder das Absetzen sedierender oder orthostatisch wirkender Medikamente. Darüber hinaus stellten sie eine lange Liste von Interventionen auf, deren Wirksamkeit bezüglich der Sturzprävention noch unklar war. Einschränkend gaben die Cochrane-Autoren damals zu bedenken, dass man nun zwar Massnahmen kenne, die das Sturzrisiko wirksam und mit vertretbaren Kosten verringern, aber wenig darüber wisse, ob man damit auch die Anzahl der Frakturen tatsächlich senken kann (2). In der Folge wurden individuelle Massnahmen zur Sturzprävention im Alter empfohlen und eine unüberschaubare Vielzahl entsprechender Programme konzipiert. Es gibt jedoch bis heute keine verbindlichen Richtlinien, wie solche Massnahmen im Detail ausgestaltet sein sollten. Dies könnte einer der Gründe sein, warum die Wirksamkeit sturzpräventiver Massnahmen, insgesamt betrachtet, in einer neuen Metaanalyse kleiner ausfällt als erwartet (3). Es gebe bis anhin nur mangelnde Beweise dafür, dass multifaktorielle Sturzpräventionsprogramme für alte Menschen die Anzahl sturzbedingter Verletzungen tatsächlich reduzierten, so die Autoren. Sie werteten 19 Studien mit insgesamt 6397 Teilnehmern aus (3). Ein weiterer Grund für das enttäuschende Resultat seien die mangelnde Qualität vieler Studien zur Sturzprävention sowie
Merksätze
■ Die Knochendichte allein sagt wenig über das individuelle Frakturrisiko.
■ Mehr als drei Viertel aller älteren Patienten mit Frakturen nach einem Bagatelltrauma haben weder eine niedrige Knochendichte (Osteopenie) noch Osteoporose.
■ Zu einer guten Sturzprävention gehört die umfassende, individuelle Risikoanalyse mit entsprechenden Gegenmassnahmen.
■ Wissenschaftlich gesicherte Richtlinien zur optimalen Durchführung präventiver Massnahmen gegen Stürze gibt es noch nicht.
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unzureichende Endpunkte als Erfolgssmassstab. So hätten nur 8 der 19 Studien die Rate sturzbedingter Verletzungen dokumentiert, und keine einzige habe die Anzahl peripherer Frakturen ausgewiesen, die als einzig robuster Parameter für die Messung sturzbedingter Verletzungen vor drei Jahren von einer europäischen Konsensuskonferenz empfohlen wurde. So plausibel die Strategien zur Sturz- und Frakturprävention im Alter auch tönen, der streng wissenschaftliche Beweis ihrer Wirksamkeit steht in vielen Fällen also noch aus.
Stellenwert der Medikamente für die Frakturreduktion Besser sieht es mit dem Wirksamkeitsnachweis einer Frakturreduktion durch Osteoporosemedikamente aus. In den Zulassungsstudien für Medikamente wie Raloxifen, Bisphosphonate, Strontiumranelat oder Teriparatid wurden Risikoreduktionen für osteoporotische Frakturen nachgewiesen. Sie decken aber nur einen kleinen Teil der Risikofaktoren ab und erfordern eine hohe Compliance. Beispielsweise konnten Bisphosphonate die Anzahl an Wirbelkörperfrakturen zwar um 30 Prozent senken, doch mussten 90 Prozent der Frauen diese Medikamente drei Jahre lang vorschriftsmässig einnehmen. Bei den Hüftfrakturen sieht die Relation noch schlechter aus: Um eine Hüftfraktur zu verhindern, müssten 577 postmenopausale Frauen ein Jahr lang Bisphosphonate unter Studienbedingungen einnehmen. Betrachtet man den Effekt für die gesamte Bevölkerung, so würde nur eine von fünf Hüftfrakturen dadurch verhindert. Ausserhalb klinischer Studien ist mit einer schlechteren Compliance zu rechnen, sodass die «number needed to treat» steigt. Selbst wenn man eine unrealistisch hohe Compliance von 70 Prozent über fünf Jahre zugrunde legt, müsste man 731 Frauen im Alter von 65 bis 69 Jahren mittels Knochendichtemessung screenen, um 88 von ihnen mit Osteoporose (T ≤ –2,5) herauszufinden und diese dann fünf Jahre lang mit Bisphosphonaten zu behandeln, um eine Hüftfraktur zu verhindern. Bei älteren Frauen (70 bis 74 Jahre) sei das zwar etwas günstiger (245 zu screenen, 51 zu behandeln), aber insgesamt zeigten diese Zahlen, dass es extrem teuer sei, Frakturenmit knochendichtespezifischen Medikamenten vorzubeugen, schliessen Järvinen und seine Koautoren.
Knochendichte allein sagt wenig über das Frakturrisiko Der T-Wert gibt an, um wie viele Standardabweichungen die Knochendichte vom Durchschnitt junger, gesunder Erwachsener abweicht. Man geht davon aus, dass eine Abweichung um -1 das Frakturrisiko verdoppelt. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe, welche 1994 einen Grenzwert T ≤ -2,5 für das Vorliegen einer Osteoporose definierten, hatten zwar selbst noch darauf hingewiesen, dass dieser Wert «etwas willkürlich» gesetzt sei, gleichwohl wurde er in der Folge als Indikation für Medikamente interpretiert. Abgesehen davon, dass je nach Messmethode Abweichungen von 20 bis 50 Prozent der wahren Knochendichte vorkommen können, beginnt sich langsam die
Erkenntnis durchzusetzen, dass andere Faktoren für das individuelle Frakturrisiko entscheidender als der T-Wert sind. So ändert sich die Aussage eines Frakturrisiko-Index mit den Faktoren Alter, vorhergehende Frakturen, Hüftfraktur der Mutter, Gewicht, Rauchen und der Fähigkeit, ohne Hilfe der Hände aus einem Stuhl aufstehen zu können, nicht wesentlich, wenn man die Knochendichte zusätzlich mit einbezieht. Die WHO favorisiert einen Algorithmus, mit dessen Hilfe die 10-JahresWahrscheinlichkeit von Hüft- und anderen Frakturen errechnet werden soll. Er beruht auf dem Alter, der Knochendichte und sechs klinischen Faktoren (vorherige Frakturen, Glukokortikoidgebrauch, Frakturen in der Familie, Rauchen, Alkohol, rheumatoide Arthritis).
Rat für die Praxis Das Sturzrisiko nahm die WHO erstaunlicherweise nicht in ihren Algorithmus zur Ermittlung des Frakturrisikos auf, weil es angeblich für Praktiker zu schwierig zu ermitteln sei. Dies sei völlig inakzeptabel, kritisieren Järvinen und seine Koautoren. Sie betonen, dass einfache Fragen bereits eine gute Einschätzung des Sturzrisikos erlaubten. Dazu gehören folgende Punkte: ■ Stürze in den letzten 12 Monaten, Stürze in Innenräumen
und die Fähigkeit, nach dem Sturz wieder alleine aufzustehen ■ medizinische Risikofaktoren, insbesondere Medikamente
(sedierende/orthostatische Nebenwirkungen), Visusprobleme und kognitive Funktionen ■ Kraft, Balance und Gang ■ Wie viel Zeit wird zum Aufstehen von einem Stuhl benötigt?
Personen, die Probleme beim Aufstehen haben oder länger
als 13 Sekunden brauchen, um aufzustehen und loszulaufen,
sollten an einen Geriater oder die geriatrische Abteilung eines
Spitals zur weiteren Abklärung überwiesen werden.
Das Verordnen von Hüftprotektoren wird von den BMJ-Auto-
ren nicht empfohlen. Zwar hatte eine erste Studie positive
Resultate erzielt, diese konnten jedoch in der Folge nicht
konsistent bestätigt werden. Auch ist die Compliance für das
Anlegen von Hüftprotektoren gering. Nur für Pflegeheime mit
einer sehr hohen Rate an Hüftfrakturen konnte man in Meta-
analysen eine Reduktion von 23 bis 60 Prozent durch den
Gebrauch von Hüftprotektoren nachweisen. Es gebe aber keine
Anhaltspunkte dafür, dass Hüftprotektoren für ältere Personen
ausserhalb von Heimen nützlich sein könnten.
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Renate Bonifer
Literatur: 1. Järvinen T.L.N. et al.: Shifting the focus in fracture prevention from osteoporosis to falls.
BMJ 2008; 336: 124—126. 2. Gillespie L.D. et al.: Interventions for preventing falls in elderly people. Cochrane Database of
Systematic Reviews 2003; Issue 4; CD000340; DOI:10.1002/14651858.CD000340. 3. Gates S. et al.: Multifactorial assessment and targeted intervention for preventing falls and in-
juries among older people in community and emergency care settings: systematic review and meta-analysis. BMJ 2008; 336: 130—133.
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