Transkript
Mit geregelter Tagesstruktur gegen «Arbeitshypometabolismus»
Das kraniozervikale Beschleunigungstrauma als Problemfeld
BERICHT
Wenn kraniozervikale Beschleunigungstraumen (KZB) einen protrahierten oder chronischen Verlauf nehmen, ist oft schon einiges schiefgelaufen. Über wichtige Gesichtspunkte in der akuten und in der chronischen Phase sprach Dr. Walter Jenni, Chefarzt Neurologie, RehaClinic Zurzach, am Rheuma Top 2008 in Pfäffikon SZ.
Dr. med. Walter Jenni
HALID BAS
Zahlen aus British Columbia in Kanada beziffern die Inzidenz des KZB auf 900 pro 100 000 Einwohner. Diese Zahl dürfte auch auf die Schweiz zutreffen. Oft problematisch sind diejenigen Betroffenen mit subjektiven Nackenbeschwerden aber fehlenden neurologischen Zeichen, in der gängigen Einteilung als WADTyp II bezeichnet (Kasten). «10 Prozent der in der Schweiz gemeldeten KZB haben einen protrahierten oder chronischen Verlauf», erwähnte Walter Jenni einleitend, «und die Erfassung und therapeutische Begleitung dieser Patienten ist
bis dato nicht optimal.» Die Schwierigkeit entsteht durch das Fehlen einer einheitlichen Meinung und durch verschieden gelagerte Interessen der auf diesem Gebiet hierzulande Tätigen (verschiedene medizinische Spezialgebiete, Anwälte, Versicherungen, Patientenorganisationen). Nicht unerwähnt bleiben darf, dass es sich bei den KZB-Betroffenen mit schwierigem Verlauf auch in der Behandlung oft um «lukrative» Patienten handelt.
Worauf kommt es in der akuten Phase an? Beschäftigt man sich mit vielen Patienten, die nach KZB eine Chronifizierung
Kasten: Einteilung der kraniozervikalen Beschleunigungstraumen nach der Quebec Task Force on Whiplash-Associated Disorders (WADs)
Typ 0: keine Beschwerden Typ I: subjektive Nackenbeschwerden; keine somatischen Befunde Typ II: subjektive Nackenbeschwerden; objektive muskuloskeletale Befunde Typ III: Nackenbeschwerden; neurologische Befunde Typ IV: Nackenbeschwerden; Fraktur oder Dislokation
Beschwerden wie Kopfschmerz, Schwindel, Übelkeit, Schlafstörungen, Reizbarkeit, Schluckbeschwerden und Konzentrationsstörungen können bei allen Typen zusätzlich auftreten.
ihrer Beschwerden erfuhren, wird bald klar, dass schon in der frühen Phase nach dem Trauma wichtige Weichen gestellt werden. Als bedeutsame Punkte nannte Walter Jenni: ■ Patientenaufklärung: Das Ereignis
und seine Folgen dürfen weder bagatellisiert noch dramatisiert werden. Ein vernünftiger Optimismus kann sich auf den Patienten übertragen. ■ Therapieüberwachung: Grundsätzlich sind aktive Therapien zu bevorzugen. Es ist bekannt, dass längere passive Massnahmen sich kontraproduktiv auswirken. ■ Tagesstruktur: Von den Problemfällen weiss man, dass die Erhaltung einer geregelten Tagesstruktur von grösster Wichtigkeit ist. Sehr oft rutschen Betroffene sonst in einen «Arbeitshypometabolismus» ab, wie dies der Neurologe treffend formulierte. Sie stehen erst irgendwann am Tag auf, fühlen sich zu nichts fähig, schalten ungeordnete Ruhephasen ein und so weiter. ■ Arbeitsunfähigkeit (AUF): Nach dem Trauma soll eine volle AUF nur kurz bescheinigt werden. Es gilt immer, mindestens eine Teilarbeitsfähigkeit anzustreben.
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BERICHT
Wann welche Zusatzdiagnostik? Sehr wichtig ist in der Akutphase die erste Anamnese. Es soll genau nach einem Anprall des Kopfes, nach der Kopfstellung beim Unfall, nach Bewusstseinstrübungen und Amnesie gefragt werden. Bedeutsam ist auch, ob der oder die Betroffene den Fuss auf der Bremse hatte und ob das Ereignis im Rückspiegel antizipiert wurde. Beides führt eher zu einer Abschwächung des Traumamechanismus. Die erste körperliche Abklärung soll auch rheumatologische Aspekte der Beweglichkeit und Schmerzhaftigkeit umfassen und muss immer durch einen gezielten Neurostatus ergänzt werden. Werden nach mehr als drei Monaten weitere Beschwerden geklagt, ist das KZB in eine chronische Phase eingetreten. Dies ist der Zeitpunkt für eine Reevaluation durch ein interdisziplinäres Team hinsichtlich Diagnose und Therapiekonzepten. Klagen über kognitive Defizite – Vergesslichkeit, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen
Rheuma Top 2008 — Symposium für die Praxis
Erstmals hat sich Professor Beat A. Michel von der Rheumaklinik am Universitätsspital Zürich für die Organisation des umfangreichen Anlasses mit zahlreichen Plenumvorträgen und Workshops mit Professor Peter M. Villiger von der Universitätsklinik für Rheumatologie und Klinische Immunologie/Allergologie am Inselspital Bern zusammengetan. Sponsor der anderthalbtägigen Fortbildungsveranstaltung ist die Mepha Pharma AG. Das nächste «Rheuma Top» findet am 27./28. August 2009 statt.
in ausgeprägter Form über sechs Monate an, kommen die ICD-Diagnosen einer posttraumatischen Anpassungsstörung oder einer somatoformen Schmerzstörung infrage. «Sicher zu häufig wird die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung ge-
«10 Prozent der in der Schweiz gemeldeten kraniozervikalen Beschleunigungstraumen haben einen protrahierten oder chronischen Verlauf und die Erfassung und therapeutische Begleitung dieser Patienten ist bis dato nicht optimal.»
und verminderte Belastbarkeit – sind häufig. Hier ist eine möglichst rasche neuropsychologische Abklärung durch erfahrene Fachpersonen wichtig. Der klinisch-psychologische Teil der Untersuchung versucht zu ergründen, wie sich die Beschwerden im Alltag auswirken und welche Ressourcen und Strategien dem Patienten im Alltag zur Verfügung stehen. Ein wichtiges Augenmerk gilt psychosozialen Belastungsfaktoren, die bei chronifizierten KZB-Patienten oft vorliegen. Das Persönlichkeitsprofil versucht allfällige narzisstische Störungen oder die ungünstige Kombination einer aggressionsgehemmten und gleichzeitig überangepassten Persönlichkeit zu fassen. Halten die geklagten Beschwerden
stellt», gab sich Walter Jenni überzeugt. Eine solche Diagnose muss sich auf typische Anamnesecharakteristika stützen, wie Ereignisse aussergewöhnlicher Schwere, unausweichliche Erinnerung an das Traumaerlebniss (Flash-backs), quälenden Tag- und Nachtträumen, Vermeidungsverhalten (Verzicht auf Autofahren). «Apparative Untersuchungen sind unbedingt restriktiv einzusetzen!», forderte Walter Jenni. Sie helfen oft nicht weiter und können sehr irreleitend sein. Im MRI sieht man bei WAD-II-Patienten keine traumabedingte Veränderungen, wusste der Spezialist. Sinnvolle Fragestellungen für ein MRI sind radikuläre Läsionen oder eine zervikale Myelopa-
thie. Wenn sich an der Halswirbelsäule prätraumatisch degenerative Veränderungen darstellen liessen, hat dies auf das KZB und seinen Folgezustand kaum einen Einfluss (1). «Ein MRI des Zerebrums bringt nichts», erklärte Walter Jenni. Eine solche Untersuchung ist nur ganz speziellen Fragestellungen vorbehalten. Viele Verletzte nach KZB klagen über kognitive Defizite, diese unterliegen jedoch vielfältigen physiologischen und psychopathologischen Einflussfaktoren: ■ chronische Schmerzen können eine
Auswirkung auf die Kognition haben ■ Medikamente (bei KZB-Patienten v.a.
starke Schmerzmittel) können die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen ■ im Rahmen einer Anpassungsstörung oder einer Depression ist eine kognitive Beeinträchtigung nicht selten ■ eine Angststörung, insbesondere die Angst vor einer Hirnverletzung, kann kognitive Defizite formen.
Gibt es prognostische Faktoren? «Im Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen gibt es nur wenige objektivierbare Faktoren, die einen Zusammenhang erkennen lassen und sie sind kaum prognostisch», hielt der Spezialist fest. Dazu gehören die Aufprallgeschwindigkeit, die Kollisionsrichtung und der Typ und die Position der Kopfstütze. Für die Prognose sind oft posttraumatische psychologische Faktoren wichtiger: ■ passives Coping (2) ■ depressive Verstimmung (2) ■ Angst vor Bewegung (2) ■ Kompensationsanspruch (3).
Ebenfalls prognostisch ungünstig sind weibliches Geschlecht (3), jüngeres Alter (3) und das Vorhandensein starker Nackenschmerzen (4) oder vieler verschiedener Symptome. Die Angst vor einer schweren Verletzung spielt eine unheilvolle Rolle, zumal das «Schleudertrauma» ein in der Schweizer Bevölkerung ominöser und omnipräsenter Begriff ist. Schon auf der Unfallstelle kann das Management mit übertriebenen Massnahmen bis hin zur notfallmässigen Hospitalisation mehr Schaden als Nutzen anrichten.
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M I T G E R EG E LT E R TA G E S S T R U KT U R G EG E N A R B E I T S H YO P M E TA B O L I S M U S
«Prätraumatische unspezifische Schmerzen zeigen eine gewisse Korrelation zur Prognose, Nackenschmerzen schon vor dem Unfallereignis ebenso wie die Schwere des Unfalls sind hingegen nicht relevant.»
Bei chronifiziertem Beschwerdebild nach KZB spielt auch die Katastrophisierung eine prognostisch ungünstige Rolle. Sie ist gekennzeichnet durch Hilflosigkeit, ständige Wiederholung der Klagen und Beschwerden (Ruminieren) und (unbewusstes) Übertreiben der Fakten (5). Das Fehlen oder Vorliegen eines Kompensationsanspruchs ist in seiner Auswirkung auf den Verlauf nach KZB auch wissenschaftlich untersucht worden. Dabei zeigte sich, dass die Symptompersistenz länger und die -inzidenz höher ausfiel, wenn eine Kompensation für die Betroffenen erreichbar war. Kein Zusammenhang ergab sich hingegen zwischen objektivierbarer Verletzung und Funktionsstatus (6). «Prätraumatische unspezifische Schmerzen zeigen eine gewisse Korrelation zur Prognose, Nackenschmerzen schon vor dem Unfallereignis ebenso wie die Schwere des Unfalls sind hingegen nicht relevant», stellte Walter Jenni fest, «die stärkste Korrelation besteht jedoch
zu prätraumatischen psychologischen
und psychosozialen Stresssituationen
(7).» Ebenfalls sehr wichtig ist die Er-
wartungshaltung der KZB-Betroffenen
in Bezug auf ihre Genesung (8). Eindeu-
tig positiven Effekt auf die Wiederher-
stellung hat eine gute prätraumatische
«Fitness» (9).
«Trotz intensiver Forschung und vieler
Publikationen wird die Problematik der
chronischen Phase des KZB kontrovers
und emotionsgeladen diskutiert», hielt
Walter Jenni abschliessend fest. Heute
hat das KZB seinen «Platz» in der Trau-
matologie. Psychosoziale Faktoren wer-
den immer wichtiger und müssen in
die Beurteilung einfliessen. Daneben
sind medizinisch-legale Faktoren ebenso
wichtig.
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Halid Bas
Interessenlage: Diese Berichterstattung wurde durch die Mepha Pharma AG, Aesch, unterstützt. Die Firma hat auf den Inhalt keinen Einfluss genommen.
Literatur: 1. Eur Spine J. 2008 May 30. [Epub ahead of print]. Kongsted A,
Sorensen JS, Andersen H, Keseler B, Jensen TS, Bendix T. 2. Spine. 2008 Feb 15; 33 (4 Suppl): S 83—92. Carroll LJ, Holm LW,
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