Transkript
BERICHT
Fibromyalgie — was steckt dahinter?
Physiologische, diagnostische und soziale Aspekte
Fibromyalgie ist eine umstrittene Diagnose. Obwohl die Symptome wenig spezifisch sind, hat sich der Begriff als mehr oder minder klare Krankheitsentität etabliert, deren Ursachen es noch aufzuklären gelte. Kritiker bezeichnen Fibromyalgie hingegen als «Zeitgeisterscheinung» oder «Marktnische für paramedizinische Angebote aller Art». An der SGIM-Jahrestagung in Lausanne war eine der Hauptsessions den physiologischen, diagnostischen und nicht zuletzt sozialen Aspekten dieses rätselhaften Syndroms gewidmet.
RENATE BONIFER
Je nach persönlichem Blickwinkel könne man die Fibromyalgie ganz unterschiedlich deuten: als neu erkannte und invalidisierende Erkrankung, deren Ursachen man noch aufklären muss, als Differenzialdiagnose wie alle anderen Krankheiten auch, als funktionelles Syndrom, dem in der Rheumatologie eine ähnliche Rolle zukomme wie dem Reizdarmsyndrom in der Gastroenterologie, als psychologisches Problem oder einfach nur als modische Diagnose und Marktnische für Alternativmedizin. So beschrieb Professor Pascal Cathébras vom Universitätsspital in Saint-Etienne die verschiedenen Kategorien, die dem Begriff «Fibromyalgie» zugeordnet werden. Klar scheint bis jetzt nur eines: Die Patienten leiden unter Schmerzen, fraglich bleibt die Ursache: «Der Schmerz ist Realität, die Fibromyalgie nicht», so formulierte es einmal ein Kritiker des Begriffs im «Journal of Rheumatology».
Doch ist die Diagnose Fibromyalgie wirklich nutzlos?
Ist die Diagnose nutzlos und gefährlich ... Gegen das Stellen dieser Diagnose spreche einiges, sagte Pascal Cathébras. Es beginnt bei den Diagnosekriterien. Seit 1990 gelten die sogenannten «tender points» als das entscheidende Merkmal. Wenn mindestens 11 von 18 Punkten bei der Palpation schmerzhaft sind, werden diffuse Schmerzen, die seit mehr als drei Monaten bestehen, als Fibromyalgie gedeutet. So steht es in den Kriterien der ACR (American College of Rheumatology). Der Haken an der Sache ist, dass die Patienten auch an anderen Punkten druckempfindlich sind, so gut wie alle ihre Schmerzen praktisch «überall» empfinden und die meisten eine Vielzahl weiterer, unspezifischer Symptome schildern, wie Müdigkeit und Schlafstörungen. Da verwundert es wenig, dass selbst der Erfinder der Tender-PointsDiagnose, Frederick Wolfe, mittlerweile
davon abrät, dieses Kriterium noch zu verwenden: «Vielleicht waren die Tender Points als essenzielles Kriterum ein Fehler», schrieb er 2003 im «Journal of Rheumatology»*, denn sie berücksichtigten nicht die zentralen Faktoren des Syndroms, nämlich die Psyche und den Stress. Tender Points seien hilfreich für die Wissenschaft gewesen, nicht aber für die Praxis, so Wolfe. An dieser Einschätzung hat sich bis heute offenbar wenig geändert. So verteidigte Professor Eva Kosek von der Abteilung für Klinische Neurowissenschaften am Karolinska Institut Stockholm in ihrem Vortrag die Tender Points als immer noch hilfreich für die Klassifizierung der Patienten, wenn es darum geht, allfällige neurophysiologische Besonderheiten herauszuarbeiten. Wer sich hingegen therapeutisch mit Schmerzpatienten befasst, wie Professor André Aeschlimann, Chefarzt Rehaklinik Zurzach, sieht die Dinge etwas anders: Die diagnostischen Kriterien seien gar nicht so schlecht, aber in der Praxis finde sich nur eine moderate Übereinstimmung zwischen der klinischen Diagnose und den ACR-Kriterien. Pascal Cathébras machte überdies deutlich, dass die Diagnose Fibromyalgie möglicherweise nicht nur nutzlos sei, sondern dass man einem Patienten damit auch Schaden zufügen könne. So besteht zum einen das Risiko, eine andere Krankheit zu übersehen, sei sie nun somatischer oder psychischer Natur, zum anderen könne die Diagnose als solche den Patienten erst zum Schwerkranken stempeln und in eine Opferrolle drängen beziehungsweise ihn darin bestätigen – die Fibromyalgie würde dann zur «self fulfilling prophecy».
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BERICHT
fern sinnvolle therapeutische Optionen angeboten würden (siehe Infokasten).
Vorsitzende und Referenten der Session «Fibromyalgie» an der SGIM-Jahrestagung 2008 in Lausanne: Professor André Aeschlimann, Dr. Christine Cedraschi, Professor Pascal Cathébras, Professor Eva Kosek (v.l.)
Überdies gibt es in weiten Kreisen des medizinischen Betriebs offene und unausgesprochene Ressentiments gegen Fibromyalgiepatienten, sodass diese Diagnose einem guten Therapeuten-Patienten-Verhältnis im Weg stehen kann.
... oder hilfreich? Doch auch für die Diagnose Fibromyalgie spreche einiges, ergänzte Cathé-
bras. So könne die Diagnose den Patienten beruhigen und ihm versichern, dass er beispielsweise nicht an einem Tumor oder multipler Sklerose erkrankt sei. Ausserdem verhindere die Diagnose, dass weitere, unnütze und teure Abklärungen durchgeführt werden, der Patient fühle sich ernst genommen, und das Arzt-Patienten-Verhältnis könne durch die Diagnose gestärkt werden, so-
Infokasten: Therapeutische Optionen bei Fibromyalgie
Gemäss den aktuellen Richtlinien der European League Against Rheumatism (EULAR) sollen Patienten mit Fibromyalgiesyndrom interdisziplinär behandelt werden (1). Dazu gehören die kognitive Verhaltenstherapie, Entspannungstechniken, Physiotherapie und Bewegung ebenso wie Medikamente. Die Kombination der Massnahmen ist eine individuelle Frage, die für jeden Patienten neu überlegt werden muss. Für eine medikamentöse Therapie sind Begleiterkrankungen des Patienten, Patientenpräferenzen, Umsetzbarkeit von Behandlungsverfahren in der individuellen Lebenssituation des Patienten und die Kosten der Behandlungsverfahren zu berücksichtigen. Wird eine medikamentöse Therapie durchgeführt, so ist diese bezüglich ihres Nutzens und ihrer unerwünschten Wirkungen kontinuierlich zu überprüfen. Einen detaillierten Überblick mit ausführlichen Angaben zur Evidenz hinsichtlich der Wirksamkeit von verschiedenen therapeutischen Optionen bietet die interdisziplinäre S3-Leitlinie der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Schmerztherapie. Diese ist im Internet frei zugänglich (2). Ebenfalls empfehlenswert und nicht nur für die Behandlung von Fibromyalgiepatienten nützlich ist ein «Lancet»-Review zum Management bei funktionalen somatischen Syndromen (3).
Quellen: 1. Carville S.F. et al.: EULAR evidence-based recommendations for the management of fibromyalgia syndrome.
Ann Rheum Dis, 2008; 67: 536—541. 2. Interdisziplinäre S3-Leitlinie «Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms»,
Der Schmerz 22 (2008), Themenheft. Download unter: www.dgss.org, Rubrik: Leitlinien. 3. Henningsen P., Zipfel S., Herzog W.: Management of functional somatic syndromes. Lancet 2007; 369: 946—955.
Neurophysiologisch Messbares Bei Patienten mit der Diagnose Fibromyalgie finde sich unabhängig von emotionalen Faktoren eine messbar höhere Schmerzempfindung als bei Gesunden, berichtete Eva Kosek. Dazu gehören generalisierte Allodynie (normalerweise harmlose Reize werden als schmerzhaft empfunden) und Hyperalgesie, eine niedrigere Schmerzschwelle für den Reflex des Zurückzuckens bei Schmerzen sowie eine erhöhte temporale Summation. Letztere ist zwar an sich normal (ein zweiter Hitzereiz wird als schmerzhafter als der erste empfunden), bei Fibromyalgiepatienten ist die Schmerzsteigerung beim wiederholten Reiz jedoch höher. Während die bis anhin genannten Phänomene auch bei anderen Patienten vorkommen, sei die Störung neuraler Schmerzdämpfungsmechanismen typisch für Fibromyalgiepatienten, und es gebe aufgrund von bildgebenden Verfahren auch Anhaltspunkte für eine erhöhte Schmerzleitung und -verarbeitung, sagte Kosek. Die Suche nach fibromyalgietypischen Substanzen in Körperflüssigkeiten blieb bisher erfolglos. Zwar wurden aberrante Konzentrationen einiger Transmittersubstanzen in der Spinalflüssigkeit publiziert, doch steht die Bestätigung der Reproduzierbarkeit und Spezifität noch aus.
Differenzialdiagnosen Es gibt eine lange Liste an Krankheiten, zu deren Symptomen fibromyalgieähnliche Schmerzen gehören. Sie reicht von Infektionen, Myelomen und Lymphomen, systemischen, metabolischen und endokrinen Erkrankungen über neurologische Störungen bis hin zu Nebenwirkungen von Medikamenten und psychiatrischen Syndromen. Als Anhaltspunkt für die Abklärung in der Praxis riet André Aeschlimann dazu, nicht schematisch das ganze Spektrum abzuarbeiten, sondern mit der wahrscheinlichsten Differenzialdiagnose im individuellen Fall zu beginnen. Die Frage lautet: «Hat der Patient ein Symptom, das zu einem internistischen Krankheitsbild passt?»
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F I B R O M YA LG I E — WAS ST EC KT DA H I N T E R ?
So sind Depression und Angst ein Indiz für psychiatrische Erkrankungen. Bei Myalgie, Arthralgie, trockenem Mund oder trockenen Augen, Raynaud-Phänomen, Parästhesien und allenfalls milden psychologischen Störungen sollte man zunächst entzündliche und/oder autoimmune Ursachen der Schmerzen abklären. Bei Myalgie, Arthralgie und chronischer Müdigkeit könnte auch eine Infektion dahinterstecken, wie beispielsweise Hepatitis C oder Borreliose, um nur zwei Beispiele zu nennen. Bei den metabolischen Erkrankungen kommen insbesondere Hypo- und Hyperthyreoidismus, Hyperparathyreoidismus und die Unterversorgung mit Vitamin D infrage; sie alle können fibromyalgieähnliche Beschwerden verursachen. Eine Krebserkrankung ist eher unwahrscheinlich. Zwar gehen viele neoplastische Erkrankungen mit generalisierten
muskuloskeletalen Schmerzen einher, aber man fand bisher kein erhöhtes Krebsrisiko unter Fibromyalgiepatienten. Muskelschmerz und abnorm bewegliche Gelenke sind bei Fibromyalgiepatienten häufig. Indizien dafür, dass es sich letztlich nicht um Fibromyalgie, sondern doch um eine muskuloskeletale Störung handelt, seien bei der physischen Untersuchung zu finden, und auch das gute Ansprechen einer Physiotherapie sowie der bei manchen Patienten erhöhte Kreatinkinasewert (CK) sprechen gegen eine Fibromyalgie. Nicht zu vergessen sind unerwünschte Nebenwirkungen diverser Medikamente, die fibromyalgieähnliche Beschwerden verursachen, betonte Aeschlimann. So würden Statine zwar generell gut vertragen, doch fänden sich in 0,9 Prozent der Fälle klinisch relevante Myopathien. Wenn der CK-Wert über dem Fünf-
fachen der Norm liege, sollte man das
Statin absetzen; es dauere allerdings
zwei bis drei Monate, bis die Myalgie zu-
rückgehe, so Aeschlimann. Als weiteres
Beispiel nannte er die Aromatasehem-
mer, die mit Arthralgien, Steifigkeit
und Schmerzexazerbationen bei Osteo-
arthritis in Zusammenhang gebracht
werden. Auch Fälle von Sehnenschei-
denentzündung und ein vermehrtes
Auftreten des Sjörgren-Syndroms sind
dokumentiert. Bei fibromyalgieähnlichen
Symptomen unter Aromatasehemmer-
therapie sollte man darum gemeinsam
mit dem Onkologen das Absetzen dieser
Medikamente erwägen.
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Renate Bonifer
* Wolfe F.: Stop using the American College of Rheumatology Criteria in the Clinic. J Rheumatol 2003; 30 (8): 1671—1672.
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