Transkript
FORTBILDUNG
Die chronische Lyme-Borreliose — eine erfundene Infektionskrankheit?
Viele Beschwerden werden zu Unrecht mit einer Borreliose in Verbindung gebracht, beklagt eine internationale Expertengruppe
Eine akute Borreliose kann trotz Therapie bei manchen
Patienten chronische Formen annehmen. Doch zahl-
reiche unklare Symptombilder, die von einigen Ärzten
als Zeichen einer chronischen Borreliose angesehen
werden, haben mit der Borrelieninfektion in Wahrheit
nichts zu tun, kritisiert ein amerikanisch-britisches Ex-
pertengremium im «New England Journal of Medicine».
NEJM
Die Lyme-Borreliose ist die häufigste durch Zecken übertragene Infektionskrankheit – sie tritt bis zu 100-mal häufiger auf als die gefürchtete Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME). Normalerweise gibt sich eine akute Borreliose mit dem Erythema migrans als charakteristischem Zeichen zu erkennen, wenn auch bei einer Minderheit diese Hautreaktion ausbleibt oder kaum erkennbar ist. Meist treten aber im Frühstadium aber begleitend grippeähnliche Symptome auf, zuweilen sind auch andere Organsysteme betroffen. Flüchtige Arthritiden, Enthesitiden, Fazialisparese, Sensibilitätsstörungen oder auch Herzrhythmusstörungen gehören zum Symptombild. Es ist unstrittig, dass die Infektion sofort antibiotisch behandelt werden muss. Geschieht dies nach den Regeln der Kunst, heilt die Erkrankung in der Regel folgenlos aus. Eine kleine Minderheit der Betroffenen klagt jedoch der Intervention zum Trotz mit weitergehenden Spätfolgen: Sie werden etwa von Fatigue, von Schmerzen im Muskel-Skelett-System befallen, leiden unter Konzentrationsstörungen oder ihr Kurzzeitgedächtnis wird in Mitleidenschaft gezogen. Manche Patienten werden über Jahre hinweg von wiederkehrenden oder persistierenden Gelenkentzündungen heimgesucht, die wahrscheinlich Ausdruck einer aktiven Infektion sind. Spätsymptome dieser Art fasst man unter dem Begriff Post-Lyme-Syndrom zusammen. In sehr seltenen Fällen tritt eine Meningitis oder Enzephalomyelitis auf, mitunter namhaft gemacht unter dem Begriff der chronischen Neuroborreliose.
Die Borreliose kann also durchaus als eine Art Multiorganerkrankung auftreten. Inzwischen werden allerdings von manchen Ärzten unter dem Begriff chronische Borreliose eine Vielzahl von Symptomen geführt, die weit über die des anerkannten Post-Lyme-Syndroms hinausgehen (Tabelle). Genau hieran jedoch entzündet sich die Kritik. Eine Expertengruppe hat im «New England Journal of Medicine» Ende vergangenen Jahres deutliche Worte gefunden. Die Mediziner halten es für unwahrscheinlich, ja im Grunde für praktisch ausgeschlossen, dass viele dieser Beschwerden auf eine B. burgdorferi zurückgeführt werden können. Die Diagnose einer chronischen Borreliose, kritisieren sie in ihrem Artikel, werde nicht auf der Basis definierter Kriterien oder validierter Laborstudien gestellt, ja zuweilen selbst unabhängig davon, ob der betroffene Patient überhaupt in Kontakt mit Zecken gekommen sein kann. Zudem lässt sich oft keine Infektion im Labor bestätigen, was die Befürworter aber nicht allzu sehr zu beeindrucken scheint. Eine chronische Borrelieninfektion könne auch dann vorhanden sein, wenn die serologischen Antikörpertests negativ seien, wird behauptet. Der Grund: Eine vorangegangene Antibiotikatherapie verwischt gleichsam die Infektionsspuren. Andere Verfechter argumentieren wiederum, die chronische Infektion unterdrücke die humorale Immunantwort, mit dem Ergebnis, dass Antikörpertests negativ ausfielen. Diese Thesen seien allerdings wissenschaftlich nicht hinreichend untermauert, meinen die NEJM-Autoren. Zudem beklagen sie, dass in sogenannten Speziallabors in den USA oft fragwürdige Tests eingesetzt würden, um eine Infektion zu bestätigen, oder aber
Merksätze
■ Der Begriff chronische Borreliose umfasst zahlreiche Beschwerden, die über das anerkannte Post-Lyme-Syndrom hinausgehen.
■ Diese Symptome können nach derzeitigem Wissensstand aber nicht auf eine Infektion mit Borrelien zurückgeführt werden.
■ Von einer langfristigen Antibiotikatherapie wird dringend abgeraten.
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FORTBILDUNG
man ginge dazu über, Standardtests anhand nicht validierter Kriterien zu beurteilen. Die Folge: Patienten mit mutmasslicher chronischer Lyme-Borreliose werden monatelang, zuweilen jahrelang mit Antibiotikakombinationen behandelt, wobei einzelne Präparate noch nicht einmal gegen B. burgdorferi wirksam seien. Gelegentlich würden Patienten selbst mit «unkonventionellen und sehr gefährlichen Mitteln» therapiert. Hierzu gehört beispielsweise die Injektion von Bismuth. Zur Behandlung einer fragwürdigen Infektionskrankheit würde zuweilen ein Aufwand betrieben, der den der Tuberkulosetherapie übersteige, kritisieren die Experten in ihrem Beitrag. Nach Auffassung der NEJM-Autoren lassen sich Patienten mit der Diagnose chronische Borreliose in 4 Kategorien einordnen. In die Kategorie 1 fallen Patienten, die zwar unter Symptomen wie Nachtschweiss, Fatigue, Palpitationen, schlechter Konzentration, Kopfschmerz, Schwindel, geschwollene Lymphdrüsen, Arthralgie oder Myalgie leiden, bei denen es sich aber offenkundig nicht um eine klinische Manifestation einer Lyme-Borreliose handelt und bei denen die Labortests keinen Anhaltspunkt für eine Infektion mit B. burgdorferi ergeben. Es handelt sich um Symptome, von denen bis zu 10 Prozent der Bevölkerung betroffen seien, ganz unabhängig davon, ob in dem Gebiet die Lyme-Erkrankung endemisch sei. Zur Kategorie 2 zählen die Autoren Patienten, die zwar ein umschriebenes Krankheitsbild haben, das aber nicht mit einer Lyme-Borreliose vereinbar ist. Unter ihnen finden sich Menschen, die früher einmal eine Lyme-Borreliose durchgemacht haben, bei anderen fehlt eine solche Vorgeschichte. Es handelt sich schlicht um Fehldiagnosen oder aber um Patienten, bei denen eine andere Erkrankung diagnostiziert wurde, die sie aber nicht akzeptierten – etwa eine multiple Sklerose. Stattdessen seien die Betroffenen überzeugt, sie litten an einer Borrelieninfektion und wünschten deshalb eine entsprechende Therapie. Reevaluationen an grossen Zentren haben nach Angaben der Autoren gezeigt, dass die Mehrheit der chronischen Borelliosefälle in die Kategorien 1 und 2 fällt. Als Patienten der Kategorie 3 bezeichnen die Experten all jene, die eigentlich keine lymespezifischen Symptome aufweisen, bei denen jedoch Antikörper gegen B. burgdorferi nachgewiesen wurden. Es handelt sich um Patienten, bei denen wegen unklarer Beschwerden ein standardisierter Antikörpertest zu einem positiven Ergebnis geführt hätte. Die Aussagekraft dieser serologischen Tests sei allerdings fragwürdig, da ihr prädiktiver Wert ziemlich gering sei, monieren die Experten. Manche Ärzte würden diesen Patienten dennoch eine Antibiotikatherapie von zwei bis vier Wochen verordnen. Die Autoren sehen das kritisch: «Man sollte den Patienten zumindest sagen, dass ein Behandlungserfolg nicht sehr wahrscheinlich ist.» Schliesslich erwähnen die Borrelioseexperten noch eine vierte Patientenkategorie. Bei ihnen handelt es sich um Menschen, die tatsächlich Symptome eines Post-Lyme-Syndroms aufweisen. Sie gehören also zu jenen bis zu 10 Prozent der Patienten mit einem Erythema migrans, bei denen nach einem Jahr oder
auch noch später unspezifische Symptome unklarer Ursache auftreten. Ob die Beschwerden bei ihnen häufiger sind als in der Allgemeinbevölkerung steht allerdings dahin, Kontrollgruppen wurden in den einschlägigen Studien nämlich nicht mitgeführt, beklagen die Autoren. Metaanalysen, die eine Häufung dieser vielfältigen Symptome bei Lyme-Borreliose feststellten, halten die Autoren für methodisch unzuverlässig.
Was bringt die Therapie? Kontrollierte Therapiestudien gibt es bislang nur mit Patienten der Kategorie 4. Deren Fazit ist aber ernüchternd: Antibiotikatherapien bergen «substanzielle Risiken bei geringem oder fehlendem Nutzen», meinen die Autoren. Die Aussage gilt für Patienten, die über lang anhaltende Beschwerden klagen, nachdem sie zuvor eine angemessene Therapie erhalten hatten. Die Autoren ziehen nicht in Zweifel, dass in einzelnen Fällen, die zumeist in unkontrollierten Studien beschrieben sind, tatsächlich eine Linderung der chronischen Beschwerden während der monatelangen Antibiotikabehandlung festzustellen war. Ein solches Ansprechen bedeute allerdings nicht automatisch, dass die Diagnose richtig gewesen sei, noch beweise es, dass die Linderung auf die spezifische Therapie zurückzuführen sei. Schliesslich könnten solche Heilungen ebenso gut Ausdruck des selbstlimitierenden Charakters der Lyme-Borreliose sein. Nahezu 40 Prozent der Patienten mit Post-Lyme-Borreliosesymptomen reagierten positiv auf Plazebo.
Kann die Infektion überhaupt persistieren? Kann überhaupt eine B.-burgdorferi-Infektion über lange Zeit im menschlichen Organismus persistieren? Für diese Annahme spricht eine Arbeit von Phillips und Kollegen aus dem Jahr 2003. Die Forscher fanden B. burgdorferi in Blutproben bei 43 von 47 Patienten, die gerade wegen einer chronischen Lyme-Borreliose therapiert wurden oder vormals therapiert worden waren. Andere Arbeitsgruppen konnten diesen Befund allerdings nicht bestätigen: In zwei Therapiestudien gelang es nicht, in einer von 843 Proben aus Blut und Liquor den Erregernachweis zu führen – nicht anhand der PCR und nicht in der Kultur. Auch eine andere, scheinbar positiv verlaufene Untersuchung, wirft erhebliche Fragen auf. Eine Arbeitsgruppe hatte in Urinproben bei fast drei Viertel von 97 Patienten mit chronischer Borreliose eine positive PCR-Reaktion ermittelt. Ob die DNA allerdings wirklich von B. burgdorferi stammte, konnten die Forscher nicht mit Sicherheit nachweisen. Erstaunlich wäre ein solches Ergebnis allemal, bedenkt man, dass es sich hier um behandelte Patienten handelte. Normalerweise findet man selbst bei unbehandelten Patienten mit Erythema migrans nur in 1 von 12 Proben einen positiven Urinbefund, meinen die Autoren. Ungeachtet solcher methodischer Einwände, stellen sie klar: «Die zentrale Frage ist ja nicht, ob ein paar nachgewiesene Spirochäten nach Antibiotikatherapie überleben oder nicht, sondern ob die klinischen Symptome mit ihrer Anwesenheit erklärt werden können.»
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DIE CHRONISCHE LYME-BORRELIOSE — EINE ERFUNDENE INFEKTIONSKRANKHEIT?
Tabelle: Die Zahl der Symptome, die man der chronischen Borreliose zuschreibt, ist gross (Auswahl)
Vegetative Symptome ■ Müdigkeit, Erschöpfbarkeit (Fatigue) ■ Schweissausbrüche, v.a. nachts und ohne körper-
liche Anstrengung sowie Hitzewallungen ■ Frösteln und Frieren ■ Lymphknotenschwellungen, v.a. axillär und ingui-
nal, oft auch in der Nähe der Primärinfektion ■ Fieberschübe ■ geringe körperliche Belastbarkeit, diffuses Krank-
heitsgefühl (sich nie mehr richtig fit fühlen) ■ neue Nahrungsmittel- (und Alkohol-)Unverträg-
lichkeiten
Kardiale Symptome ■ Herzrhythmusstörungen (v.a. nächtliche Tachy-
kardien, Palpitationen, Extrasystolen) ■ Erregungsleitungsstörungen mit passagerem AV-
Block I. bis III. Grades, Linksschenkel- und Rechtsschenkelblock ■ Myo- und/oder Perikarditis ■ dilatative Kardiomyopathie
Magen-Darm-Symptome ■ Übelkeit, Magendruck und Magenschmerzen, Auf-
stossen ■ diffuse Bauchschmerzen mit Blähungen ■ häufig Durchfälle, selten Verstopfung
Muskuloskeletale Beschwerden ■ Gelenkschmerzen, meist in den grossen Gelenken
mit wechselnder Lokalisation ■ Muskelschmerzen wie bei Muskelkater oder plötz-
lich einschiessende messerstichartige Schmerzen ■ Steifheitsgefühle der Muskulatur ■ Schienbein- oder Fersenschmerzen im Liegen ■ Nacken- und/oder Kopfschmerzen mit Ausstrah-
lung in die Schulterregion ■ Sehnenschmerzen mit und ohne Schwellungen
v.a. der Achillessehnen, Symptome wie bei Karpaltunnel-Syndrom, Fusssohlenschmerz durch Plantarfasziitis ■ rezidivierende Schwellungen der Finger, Zehen, Hände ■ Epicondylopathie («Tennisarm») und Bizepstendinopathie («Schulter-Arm-Syndrom») ■ atemabhängige Brustkorbschmerzen, v.a. verursacht durch schmerzhafte Rippen-Brustbeingelenke ■ nachts betonte LWS/BWS-Schmerzen ■ Kiefergelenkschmerzen, Kiefergelenkknacken
Neurologische Symptome Erkrankung der Hirnnerven: ■ Geruchsveränderungen (N. olfactorius) ■ Sehstörungen mit Verschwommensehen oder Gesichtsfeldeinschränkungen (N. opticus); cave: MS ■ «Zahnschmerzen» und Zungenbrennen sowie Sensibilitätsstörungen des Gesichts durch Irritationen im Versorgungsgebiet des N. trigeminus ■ Gesichts- und Lidschlusslähmungen, meist einseitig, sehr selten auch beidseitig, Ohrenschmerzen, Geräuschempfindlichkeit, Augentrockenheit durch Tränensekretionsstörung, Geschmacksstörung ■ Tinnitus, Hörsturz, Schwindel (N. stato-acusticus) ■ Geschmacksstörungen, Schluckstörungen, einseitige Halsschmerzen, Zungengrundschmerzen (N. glossopharyngeus) ■ Heiserkeit, Stimmlosigkeit, Schluckstörung und parasympathische Symptome wie Bradykardie (N. vagus) ■ Schulterhebung und Kopfdrehung beeinträchtigt (N. accessorius) ■ Zungenbeweglichkeitsstörung mit Phonationsstörung (N. hypoglossus)
Störungen des zentralen Nervensystems: ■ Nackenschmerzen und -steife ■ häufige und heftige Kopfschmerzen, diffus
oder halbseitig auch stirnbetont, die kaum auf Analgetika ansprechen ■ Störungen des Gedächtnisses, der Konzentration, der Auffassungsgabe, des Lesens, Lernens, Sprechens mit häufigen Versprechern und Wortfindungsstörungen ■ Schlafstörungen ■ Stimmungsschwankungen, Depressionen, Gereiztheit, Aggressivität ■ Panikattacken und diffuse Angstgefühle ■ ADS-Symptomatik, Tics, v. a. bei Kindern
Periphere Nervenstörungen: ■ Kribbelparästhesien, Brennschmerzen, «Elektri-
sieren» oder stichartige Schmerzzustände, meist in den Extremitäten, gelegentlich am Rumpf ■ einhergehend mit Veränderungen der Oberflächensensibilität (meist Hyperpathien/Hyperalgesien) ■ Rückenschmerzen und Ischialgien/Brachialgien nachts betont (Bannwarth-Syndrom) ■ Schmerzen der Kopfhaut und der Haarwurzeln (Schmerzen beim Kämmen, sog. Haarwurzelkatarrh)
■ unwillkürliche Muskelzuckungen, teilweise auch Tonuserhöhungen der Muskulatur mit Steifheitsgefühlen beim Gehen
■ plötzlicher Kraftverlust eines Beins mit Abknicken im Kniegelenk und dadurch Fallneigung mit Sturzgefahr
Urogenitale Symptome ■ Blasenbrennen und Druck auf der Blase mit
Pollakisurie ■ Blasenentleerungsstörungen, Inkontinenz ■ sexuelle Beeinträchtigungen, Libidoverlust ■ Potenzstörungen ■ rezidivierende Schmerzsyndrome (Prostata, Ho-
den, Ovar, Blase, Vagina)
Augensymptome ■ Sehverschlechterung, Metamorphopsien (Ver-
zerrtsehen), Gesichtsfeldverlust/Skotome, Störung des Farbensehens, Augenschmerzen, Störungen der Okulomotorik mit binokularen (beidäugigen) Doppelbildern, schmerzhafte Augenbewegungen, Schielen unklarer Genese ■ rezidivierende Entzündungen aller Abschnitte des Auges ■ Pseudotumor orbitae, periorbitale Ödeme und Hautveränderungen ■ Augendruckerhöhungen als Folge eines entzündlichen Sekundärglaukoms
Hautsymptome ■ Erythema migrans und Borrelien-Lymphozytom,
multiple Erytheme, Erythemrezidive ■ Acrodermatitis chronica atrophicans (ACA) als
typische, bei längerem Bestehen in ein atrophisches Stadium übergehende entzündliche Hautveränderung ■ fleckförmige atrophische Hautpartien (Anetodermien) als Residuen einer Dermatitis atrophicans
* nach Angaben der Deutschen Borelliose-Gesell* schaft e.V. (2008)
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Die Autoren halten es für äusserst unwahrscheinlich, dass das Wie soll sich der Arzt verhalten?
Post-Lyme-Syndrom die Folge einer okkulten Infektion des Wie also sollte sich nach alledem ein Arzt gegenüber den Pa-
ZNS sei. Dafür spreche unter anderem auch, dass Antikörper tienten verhalten, denen gesagt wurde, dass sie an einer chro-
gegen B. burgdorferi bei den meisten Patienten nicht nach- nischen Lyme-Borreliose leiden? Nach Auffassung der Exper-
tengruppe sollte man sie darüber auf-
klären, dass es bislang keine Evidenz
gebe, dass eine solche Krankheit exis-
«Die zentrale Frage ist ja nicht, ob ein paar nachgewiesene
tiere, vor allem aber, dass eine langfris-
Spirochäten nach Antibiotikatherapie überleben oder nicht,
tige Antibiotikabehandlung nicht notwendig sei. Es komme darauf an, ande-
sondern ob die klinischen Symptome mit ihrer Anwesenheit erklärt werden können.»
ren potenziellen Ursachen sehr genau nachzugehen. Wenn schliesslich keine überzeugende Erklärung für die Sym-
ptome gefunden werden könnten,
bleibe die emotionale Unterstützung
und die symptomatische Bekämpfung
weisbar seien, obwohl die Spirochäten-Lipoproteine unbestrit- der Beschwerden. «Den Patienten zu erklären, dass es keine
ten immunogen sind. «Es gilt für viele Infektionskrankheiten, spezifischen Medikamente ... gegen die Symptome gibt, ist
unter anderem auch für die Syphilis, dass nach Fehlschlagen eine besonders schwierige Herausforderung für den Arzt. Wer
einer Behandlung die Antikörpertiter ansteigen oder erhöht es aber versäumt, dies in einfühlsamen und klaren Worten zu
bleiben, da die B-Zellen fortgesetzt durch das mikrobielle tun, macht diese Menschen empfänglich für Scharlatane, die
Antigen stimuliert werden.»
ihnen unbewiesene und potenziell gefährliche Therapien
Dass es bislang nicht gelungen ist, die Persistenz von B. burg- anbieten.»
■
dorferi bei behandelten Patienten unter Beweis zu stellen, wundert die Autoren nicht. Sie setzt ja ein Therapieversagen voraus, für das die Autoren keinen erkennbaren Grund sehen.
Henry M. Feder et al. and the Ad Hoc International Lyme Disease Group: A critical appraisal of chronic lyme disease. N Engl J Med 2007; 357: 1422—1430.
Weder ist B. burgdorferi gegen die angezeigten Antibiotika bislang resistent, noch gibt es einen Anhaltspunkt dafür, dass es
Interessenlage: Die Autoren waren unter anderem als medizinische Gutachter in Zivil- und Strafrechtsverfahren tätig, wo Fälle von Fehlbehandlungen bei Lyme-Borreliose verhandelt wurden.
nicht gelingt, ausreichend hohe Antibiotikakonzentrationen in
den Geweben zu erzielen. Zwar könnten sich Borrelien in vitro
Uwe Beise
unter bestimmten Bedingungen zystisch abkapseln, ob dies
auch im menschlichen Körper möglich sei, dafür gebe es keine
Hinweise. Alles spreche momentan dafür, «dass es ihre Strate-
gie ist, sich extrazellulär an den Organismus anzupassen.»
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