Transkript
Therapie der Harninkontinenz bei älteren Patienten
Medikamente, Verhaltenstraining und Beratung
BERICHT
In Deutschland leiden etwa 3,7 Millionen Menschen unter ungewolltem, unwillkürlichem Urinverlust. Nur 20 Prozent von ihnen erhalten eine adäquate Therapie. Was bei der hausärztlichen Betreuung von harninkontinenten Patienten beachtet werden sollte, erarbeitete Dr. Maria Bürst, Fachärztin für Urologie und Allgemeinmedizin am Klinikum Deggendorf, im Practica-Seminar «Harninkontinenz im Alter: eine unvermeidbare Entwicklung?» zusammen mit den teilnehmenden Allgemeinärzten.
JOCHEN SCHLABING
Harninkontinenz sei nach wie vor ein Tabuthema, erklärte die Urologin. 70 Prozent der über 60-Jährigen sprechen laut einer Studie nie von ihrer Harninkontinenz, zum Teil auch deshalb, weil sie von ihren Ärzten nicht danach gefragt werden. «Sie sollten bei über 60-Jährigen die Kontinenz aktiv bei der Erhebung der Anamnese ansprechen», riet Bürst. Ein Inkontinenzfragebogen (vergleiche Kasten) kann zur ersten Einschätzung der vorliegenden Inkontinenzform beitragen und spart Zeit, da er im Wartezimmer ausgefüllt werden kann.
Dranginkontinenz als häufigste Form Die häufigste Form im Alter ist die Dranginkontinenz, bei der die Patienten den Harndrang nicht unterdrücken können und daher die Toilette nicht rechtzeitig erreichen. Solche Patienten fragen sich beispielsweise, ob sie zum Seniorennachmittag gehen sollen, weil sie Angst
haben, dort nass zu werden. Dazu tragen die bekannten Veränderungen im Alter bei, wie etwa die sinkende Blasenkapazität, die verminderte Kontraktionskraft des Sphinkters oder die Abnahme des Detrusortonus. Die Belastungsinkontinenz ist auch bei jüngeren Menschen mit insuffizientem Harnröhrenverschluss bekannt: Beispielsweise wird als Ursache für eine Belastungsinkontinenz nach Schwangerschaften eine Nervenschädigung durch das Gewicht des Kindes vermutet. Häufig ist auch die Mischform, eine belastungsinduzierte Dranginkontinenz mit Öffnung des Blasenhalses.
Risikofaktoren für eine Harninkontinenz Bei welchen Patienten ist es besonders lohnend, nach einer Harninkontinenz zu fragen, das heisst, welche Faktoren wirken begünstigend? Frauen, Menschen über 70 Jahre, Patienten mit Adipositas, Diabetes, Harnwegsinfekten oder neurologischen Erkrankungen leiden häufiger unter Inkontinenz infolge
eines imperativen Harndrangs. Auch bei hohem Kaffee- oder Alkoholkonsum oder bei nervösen Menschen sollte genauer nachgefragt werden.
Miktionstagebuch führen lassen Wichtigstes diagnostisches Instrument ist das Miktionstagebuch. Die Dokumentation, eventuell in Kombination mit einem Vorlagentest, sollte über zwei Tage am Wochenende erfolgen. Notiert werden sollten Uhrzeit, Trink- und Urinvolumina. Die Informationen helfen, die Blasenkapazität abzuschätzen. In vielen Fällen kann die Zahl der Toilettengänge daran angepasst werden. Die Blase in kürzeren Abständen als zwei Stunden zu entleeren, ist eigentlich nicht zumutbar, gab Bürst zu bedenken.
Therapie der Harninkontinenz Können wir es gesundheitlich verantworten, bei alten Menschen noch zusätzliche Medikamente zu geben, so eine Frage, die sich viele der Teilnehmer in ihrer Praxis stellen. Doch sind Medikamente bei Weitem die wichtigste Therapie der Harninkontinenz, gab Bürst zu bedenken. Pflanzliche Arzneimittel empfiehlt sie dabei nur bei leichten Fällen. Meist sind Anticholinergika ratsam, um die Detrusorkontraktion zu hemmen und die Blasenkapazität zu steigern,
Merksatz
■ Anticholinergika sind die wichtigsten Medikamente zur Behandlung einer Dranginkontinenz, allerdings sollte man die Nebenwirkungen im Auge behalten.
ARS MEDICI 17 ■ 2008 749
BERICHT
Kasten: Inkontinenzfragebogen
1. Wie oft kommt es bei Ihnen zu unwillkürlichem Urinverlust? ■ nie ■ einmal pro Woche oder seltener ■ zwei- bis dreimal pro Woche ■ einmal täglich ■ mehrmals täglich ■ ständig
2. Wie hoch ist der Urinverlust? ■ kein Urinverlust ■ eine geringe Menge ■ eine mittelgrosse Menge
3. Wie stark ist Ihr Leben beeinträchtigt?
■ 0 ■ 1 ■ 2 ■ 3 ■ 4 ■ 5 ■ 6 ■ 7 ■ 8 ■ 9 ■ 10
gar nicht
stark
4. Wann kommt es zu Urinverlust? ■ zu keiner Zeit ■ bevor Sie die Toilette erreichen können ■ beim Husten, Niesen, Laufen usw. ■ im Schlaf ■ bei körperlicher Anstrengung und Sport ■ nach dem Wasserlassen ■ aus keinem ersichtlichen Grund ■ Urinverlust tritt ständig auf
was letztlich zu weniger Toilettengängen und Urinverlust führt. «Anticholinergika sind sozusagen das Wundermittel schlechthin. Die Frage ist nur, sind sie für alle das Wundermittel?», regte Bürst die Kollegen zum Nachdenken an.
Nebenwirkungen beachten Anticholinergika wirken über Muskarinrezeptoren, diese sind im Körper ubiquitär zu finden. Superselektive Anticholinergika gibt es nicht, keines ist ausschliesslich blasenspezifisch, erläuterte die Urologin. Die häufigste Nebenwirkung – wie auch die Teilnehmer aus ihrer Erfahrung berichteten – ist Mundtrockenheit, meist in leichter Ausprägung. Manchmal hilft es, die Medika-
mente abends zu nehmen. Besser vertragen werden Anticholinergika bei einschleichender Titration mit halber Dosis über zwei bis drei Wochen, berichtete ein Kollege. Seltenere Nebenwirkungen sind Obstipation und Akkommodationsstörung, so Bürst. Problematisch sind Nebenwirkungen im zentralen Nervensystem, da viele ältere Menschen unter einer eingeschränkten Kognition leiden. An direkten Nebenwirkungen sind bei liquorgängigen Anticholinergika Schwindel, Demenz, Nervosität und Somnolenz bekannt, die mentalen Fähigkeiten werden teilweise erheblich beeinträchtigt. «Ich beginne meist mit Trospiumchlorid (Spasmo-Urgenin® Neo), es ist als Einzi-
ges nicht liquorgängig», berichtete Bürst. Besser vertragen würden zudem Retardpräparate. Die Metabolisierung der meisten Anticholinergika erfolgt über die Leber. Trospiumchlorid wird über die Niere eliminiert, dadurch wird der Wirkstoff vermutlich noch einmal über die Blasenschleimhaut aufgenommen.
Patienten gut beraten
«Viele Medikamente haben eine anti-
cholinerge Partialwirkung», gab Bürst
zu bedenken. Dies muss bei der Kombi-
nation, etwa mit Antidepressiva, beach-
tet werden. Bei Miktionsvolumina über
350 ml oder einer Polyurie mit Urinaus-
scheidung von mehr als 2,8 l pro 24
Stunden sind Anticholinergika kontrain-
diziert.
Die Kombination von Verhaltenstraining
und Anticholinergika führe zu besseren
Ergebnissen, verglichen mit der jewei-
ligen Monotherapie, betonte Bürst. Zu-
dem ist die Beratung hinsichtlich Ände-
rungen des Lebensumfeldes wichtig.
Die Toilette muss in erreichbarer Nähe
sein, höhere Toilettensitze, ein Toiletten-
stuhl und eine Harnflasche neben dem
Bett oder leichter zu öffnende Kleidung
sind mögliche Lebensstiländerungen,
die den Umgang mit der Erkrankung
erleichtern.
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Jochen Schlabing Kirchheim-Verlag/Redaktionsbüro
Böhm Marktplatz 9, D-69469 Weinheim
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Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 1/2008. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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