Transkript
INTERVIEW
«Blutende Gliedmassen auf keinen Fall abbinden!»
Ein Interview mit dem Münchner Chirurgen Edgar Biemer zum Umgang mit stark blutenden Wunden
Wer als Ersthelfer zu einem Unfall kommt, wird nicht selten mit stark blutenden Wunden konfrontiert. Meist lassen sich solche Blutungen mit ein paar gezielten Handgriffen einfach stoppen. Allerdings werden auch immer wieder unsinnige Massnahmen angewendet, mit denen sich die Blutung teilweise sogar verstärken kann. Wenig zu empfehlen sei beispielsweise das Abbinden von Gliedmassen, meint Professor Dr. Edgar Biemer von der Praxisklinik Dr. Caspari in München, ehemaliger Leiter der Abteilung für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie der Technischen Universität München. Im Gespräch mit ARS MEDICI erläutert der Chirurg, mit welchen einfachen Mitteln sich Blutungen am Unfallort zuverlässig stoppen lassen.
Fazit für die Praxis
■ Starke Blutungen lassen sich im Notfall mit einem lokalen Druckverband stillen.
■ Falls sich die Blutung am Unfallort mit dem Druckverband nicht stoppen lässt, den ersten Verband nicht gegen einen neuen ersetzen, sondern einen zweiten Verband darüber binden.
■ Betroffene Extremitäten sollten ausserdem hochgelagert werden, um den Perfusionsdruck zu reduzieren.
■ Falls für den Druckverband kein steriles Material vorhanden ist, kann man sich zum Beispiel mit einem frisch gewaschenen Handtuch behelfen.
■ Das Abdrücken einer zuführenden Arterie ist normalerweise nicht erforderlich und spielt in der Praxis eigentlich auch keine Rolle, da sich abgesehen von extrem seltenen Ausnahmen eine Blutung immer mit einer lokalen Kompression stoppen lässt.
■ An den Gliedmassen sollten zur Blutstillung keine Stauungsbinden oder Ähnliches anlegt werden. Denn oft kommt es dadurch nur zu einer venösen Stauung, woraufhin sich die Blutung verstärken kann.
■ An der Wunde sollten abgesehen vom Anlegen des Druckverbandes so wenig Manipulationen wie möglich erfolgen.
ARS MEDICI: Herr Professor Biemer, wie soll man stark blutende Verletzungen im Notfall versorgen? Prof. Dr. med. Edgar Biemer: Starke Blutungen, egal an welchem Körperteil, sollte man im Notfall immer mit einem lokalen Druckverband stillen. Falls es dabei zum Durchbluten des Verbandes kommt, sollte man am Unfallort nicht den ersten Verband entfernen und gegen einen neuen ersetzen, sondern einfach einen zweiten Verband darüber binden. Zusätzlich ist es empfehlenswert, die betroffene Extremität deutlich hochzulagern, um den Perfusionsdruck in den zuführenden Arterien zu vermindern und somit die Blutung abzuschwächen.
Für den Druckverband sollte nach Möglichkeit steriles Material zum Einsatz kommen. Ist das nicht vorhanden, kann man sich zum Beispiel mit einem frisch gewaschenen Handtuch behelfen. Im Notfall geht natürlich auch irgendein anderer Stoff, der gerade griffbereit ist, und wenn es das eigene Hemd ist.
ARS MEDICI: Immer wieder wird auch der Ratschlag gegeben, die zuführende Arterie zu komprimieren, wenn ein lokaler Kompressionsverband nicht ausreicht. Biemer: Abgesehen von extrem seltenen Ausnahmen lässt sich mit einer lokalen Kompression immer eine Blutstillung erreichen. Das Abdrücken einer zuführenden Arterie zum
740 ARS MEDICI 17 ■ 2008
INTERVIEW
Prof. Dr. med. Edgar Biemer
■ Auf keinen Fall sollte man zur Blutstillung Klemmen in die Wunde setzen. Denn das Abklemmen von Arterien kann die Gefässwand beschädigen.
■ Bei starken Blutungen sollte man nicht vergessen, Betroffene flach hinzulegen und den Kopf tief zu lagern, um bei einem eventuellen Volumenmangel die Durchblutung des Gehirns sicherzustellen.
■ Bei grösseren Blutverlusten sollten so früh wie möglich venöse Zugänge gelegt werden.
■ Medikamente sollten zur Blutstillung am Unfallort nicht eingesetzt werden.
■ Problematisch kann auch der Einsatz von blutstillender Watte oder ähnlichen Produkten sein, die eine Blutung oft nicht richtig stoppen und zu schwer entfernbaren Rückständen in der Wunde führen können.
Beispiel im Leisten- oder Achselbereich ist daher normalerweise nicht erforderlich und spielt in der Praxis eigentlich auch keine Rolle. Zudem ist das Abdrücken einer Arterie äusserst unpraktikabel. Bei einer Beinverletzung müsste man zum Beispiel während der gesamten Fahrt ins Krankenhaus auf die Leistenarterie drücken.
ARS MEDICI: Was sind die typischen Fehler bei der notfallmässigen Blutstillung ausserhalb des Krankenhauses? Biemer: Auf keinen Fall sollte man an den Gliedmassen Blutsperren in Form von Blutdruckmanschetten, Stauungsbinden oder Ähnlichem anlegen, die in über 90 Prozent nur zu einer
venösen Stauung führen und damit die Blutung noch verstärken. Das ist in der Praxis immer noch der häufigste Fehler. Ausserdem sollte man unter keinen Umständen versuchen, Klemmen zur Blutstillung in die Wunde einzusetzen. Dies gilt insbesondere bei abgetrennten Gliedmassen, bei denen noch eine Replantation infrage kommt. Denn das Abklemmen von Arterien kann die Gefässwand massiv beschädigen, sodass die Arterie später möglicherweise um zwei bis drei Zentimeter gekürzt werden muss und dann ein Gefässinterponat erforderlich wird, was die Situation weiter verkompliziert und die Einheilung der replantierten Gliedmasse verschlechtert. Grundsätzlich sollte an der Wunde abgesehen vom Druckverband so wenig wie möglich manipuliert werden.
ARS MEDICI: Welche weiteren Massnahmen sind bei starken Blutungen wichtig? Biemer: Bei stärkeren Blutungen sollten Betroffene flach hingelegt und der Kopf tief gelagert werden, um bei einem eventuellen Volumenmangel die Durchblutung des Gehirns sicherzustellen. Nicht vergessen sollte man auch, so früh wie möglich für venöse Zugänge zu sorgen, um grössere Blutverluste entsprechend ausgleichen zu können.
ARS MEDICI: Welche Medikamente kommen zur Blutstillung am Unfallort in Frage? Biemer: Zur Blutstillung sollten am Unfallort keine Medikamente eingesetzt werden. Das Gleiche gilt für blutstillende Watte oder ähnliche Produkte, die eine Blutung meist nicht richtig stoppen und erfahrungsgemäss oft zu schwierig entfernbaren Rückständen in der Wunde führen.
Das Interview führte Karl Eberius.
Dr. med. Karl Eberius Freier Medizinjournalist, Texter E-Mail: K.Eberius@Medizinjournalist.com Internet: www.medizinjournalist.com Interessenkonflikte: keine
Hinweis: In ARS MEDICI 15/08, Seite 656, sprachen wir mit Professor Biemer über die Versorgung abgerissener Gliedmassen.
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