Transkript
INTERVIEW
«Wahrscheinlich ist der Einfluss der Genetik doch höher als angenommen»
Interview mit Professor Brunello Wüthrich, Zollikerberg, zur Allergieprävention bei Kindern
Angesichts der steigenden Prävalenz von Allergien bei Kindern fragen sich viele Eltern, welche Massnahmen davor schützen könnten. Wir sprachen mit Professor Brunello Wüthrich über den Stellenwert von Umwelt- und Ernährungsfaktoren, wie Rauchen und Alkohol in der Schwangerschaft, das Stillen, die Haustierhaltung und Impfungen für das Atopierisiko.
tum, ein erhöhtes Risiko für Infektionen der unteren Atemwege, für Mittelohrentzündungen und nicht zuletzt für den plötzlichen Kindstod. Diätetische Massnahmen bei der Mutter sind in der Schwangerschaftsperiode – anders als während der nachgeburtlichen Phase und Stillzeit – nicht notwendig. Falls möglich soll die Wohnung bezüglich Milbenallergenen saniert werden. Das bedeutet, dass schwere, staubige Vorhänge und Polstermöbel sowie dicke, schwere Teppiche entfernt werden. Die Wohnung soll keinen Schimmelpilzbefall haben und auch keine Holzheizung. Besondere Aufmerksamkeit sollte man der Luftfeuchtigkeit und Temperatur in der Wohnung schenken. Die Luftfeuchtigkeit sollte nicht mehr als 45 Prozent betragen und die Temperatur zwischen 18 und 20°C liegen.
ARS MEDICI: Müssen Katze oder Hund aus dem Haus, wenn
ARS MEDICI: Welche Massnahmen sind im Sinne einer ein Baby kommt?
Allergieprävention für Kinder nützlich?
Wüthrich: Das ist das Erstaunliche, welches aus einer ameri-
Prof. Dr. med. Brunello Wüthrich: Sicher ist man mit den kanischen Studie hervorging: Haustiere können gegen Aller-
Erwartungen, eine wirksame allgemeingültige Allergiepräven- gien schützen! Aber nur wenn mindestens zwei oder mehrere
tion zu betreiben, eher bescheidener geworden. So gibt es Haustiere im Haushalt vorhanden sind (1). Auch wurde fest-
mittlerweile Studien, dass Haustiere vor einer Allergie schüt- gestellt, dass der Kontakt mit Haustieren während des ersten
zen können und nicht unbedingt ein Risikofaktor sind, wie Lebensjahrs und mit zunehmender Anzahl an Geschwistern
das früher angenommen wurde. Auch ein verlängertes Stillen mit einer niedrigen Prävalenz an allergischer Rhinitis und
führt nicht notwendigerweise zu einem niedrigeren Allergie- Asthma im Schulalter assoziiert waren (2). Wir selbst fanden
risiko, sondern es kann das Atopierisiko sogar erhöhen. Diese bei der Auswertung der schweizerischen SAPALDIA-Daten,
Studien waren für mich auch sehr ernüchternd! Wahr-
scheinlich ist doch der Einfluss der Genetik für die Entwicklung einer Neurodermitis und einer Respirations-
«Der Kontakt mit Haustieren während des
allergie höher als allgemein angenommen. Trotzdem gibt es aber eine ganze Reihe von Massnahmen, die durchaus sinnvoll sind, besonders wenn es um Risiko-
ersten Lebensjahrs und mit zunehmender Anzahl an Geschwistern ist mit einer niedrigen
kinder geht, das heisst wenn familiär eine Atopiebelastung vorliegt und insbesondere wenn bereits Geschwister an einer Allergie leiden. Das beginnt be-
Prävalenz an allergischer Rhinitis und Asthma im Schulalter assoziiert.»
reits in der Schwangerschaft. Es wurde mehrmals
nachgewiesen, dass Neugeborene rauchender Mütter
einen erhöhten Nabelschnur-IgE-Spiegel aufweisen und diese dass der Kontakt mit Haustieren während der frühen Kindheit
Kinder später häufiger an Allergien, wie zum Beispiel Neuro- die Sensibilisierung auf Katzen im erwachsenen Alter vermin-
dermitis und Asthma, leiden als Säuglinge nicht rauchender derte (3). Andererseits muss man berücksichtigen, dass eine
Mütter. Auch die passive Zigarettenrauchexposition soll eine Katzenhaarallergie unter Atopikern sehr hoch ist, sogar unter
Schwangere unbedingt vermeiden. Passivrauchen ist überdies den Patienten, die keine Katze besitzen (4). Eine Sensibilisie-
ein wichtiger Risikofaktor für ein vermindertes Lungenwachs- rung auf Katzenallergen findet demnach auch ohne direkte
696 ARS MEDICI 16 ■ 2008
INTERVIEW
lende Mutter von der Gruppe der pädiatrischen Immunologen und Allergologen der Schweiz nicht empfohlen. Ich persönlich empfehle der atopischen Mutter, nicht exzessiv Eier zu konsumieren und vom Genuss von Erdnüssen abzusehen. Weitere eingehende diätetische Einschränkungen sollten allenfalls bei schweren allergischen Erkrankungen von Familienmitgliedern individuell mit dem spezialisierten Pädiater oder Allergologen diskutiert werden.
ARS MEDICI: Ist Alkohol während der Schwangerschaft bezüglich späterer Allergien schädlich? Wüthrich: Wenn beide Elternteile selbst Allergiker waren, verdoppelt schon ein moderater Alkoholkonsum von einer Flasche Bier oder einem Glas Wein pro Woche das Neurodermitisrisiko für das Neugeborene. Bei mehr als vier Drinks in der Woche steigt das Risiko um das Vierfache. Dies ergab eine Studie in Dänemark (9).
Prof. Dr. med. Brunello Wüthrich
Katzenexposition statt, entweder wegen der Persistenz des Allergens nach Elimination des Haustiers oder durch Kleiderkontakt von Tierhaltern (5). Die Gruppe der pädiatrischen Immunologen und Allergologen der Schweiz, PIA-CH*, gibt die Empfehlungen ab, dass sich eine Familie mit einem Kind mit erhöhtem Allergierisiko kein felltragendes Tier wie Katze, Hund oder Hase anschaffen sollte und dass zurzeit noch offen sei, ob eine allfällige frühe Exposition unmittelbar nach der Geburt weniger schädlich als ein späterer Kontakt ist (6). Unbestritten ist aber, dass ein Kind, das in einer Umgebung ohne ein bestimmtes Allergen lebt, gegen dieses bestimmte Allergen auch primär keine Allergie entwickeln wird.
ARS MEDICI: Stillen gilt als positiv, um Allergien zu vermeiden. Gilt das auch, wenn die Mutter selbst Allergikerin ist? Wüthrich: Ja, unbedingt, und zwar über vier bis sechs Monate. Allergievermittelnde IgE-Antikörper der Mutter gehen nicht in die Muttermilch über, aber der Säugling erhält durch die Muttermilch die schützenden IgA-Antikörper und T-Suppressor-Lymphozyten, welche vor allfälligen Nahrungsmittelallergien, insbesondere der Kuhmilchallergie, sowie vor Neurodermitis, also dem atopischen Ekzem, schützen. Erstaunlicherweise zeigten zwei Studien aber auch, dass eine verlängerte Stillzeit über sechs Monate Kinder vor Atopien und Asthma nicht schützt, im Gegenteil sogar das Risiko erhöhen kann. Neurodermitis der Eltern ist aber das grösste Risiko für das Kinderekzem (7, 8).
ARS MEDICI: Sollte eine stillende Mutter generell auf bestimmte Lebensmittel verzichten? Wüthrich: Es können tatsächlich Spuren von aggressiven allergenen Nahrungsmitteln wie Kuhmilch, Hühnerei oder Getreide in die Muttermilch übergehen. Trotzdem wird ein präventiver Verzicht auf diese Nahrungsmittel durch die stil-
ARS MEDICI: Ist Sojamilch weniger allergen als Kuhmilch? Wüthrich: Bei Neugeborenen und Säuglingen mit erhöhtem Atopierisiko, welche nicht oder nur teilweise gestillt werden, empfehlen skandinavische Autoren stark hydrolysierte Säuglingsnahrungen. Von der Verwendung der Milch anderer Säugetiere wie Ziege, Schaf oder Pferd und von Sojapräparaten ist abzuraten, da kein wissenschaftlicher Hinweis für eine primäre Präventionswirkung besteht und der nutritive Wert als ungenügend betrachtet werden muss. Diese Milchsorten
«Sojapräparate sind ebenfalls allergen.»
und Sojapräparate sind ebenfalls allergen. ARS MEDICI: Vermindern Probiotika bei Kindern die Entwicklung von Allergien? Wüthrich: Laktobazillus- und Bifidusbakterien sind die bekanntesten Vertreter dieser Probiotika. Sie sollen durch eine Optimierung der Magen-Darm-Flora das menschliche Immunsystem günstig beeinflussen. Probiotika sind auch für Säuglinge und Kleinkinder problemlos zu verabreichen und sicher. Als Nebenwirkung werden lediglich die Stühle etwas weicher. Es gibt bisher noch keine guten Beweise für einen allergiepräventiven Effekt der Probiotika, auch wenn einzelne Studien dafür sprechen. Weitere Studien sind notwendig, bevor allgemeine Empfehlungen betreffend Zufuhr von Probiotika in der Schwangerschaft oder in der Ernährung von Säuglingen in Form angereicherter Milchprodukte gemacht werden können.
ARS MEDICI: Ist Impfen ein Risikofaktor für die Entwicklung von Allergien? Wüthrich: PD Dr. Roger Lauener und Frau Dr. Alice Wiesner vom Universitätskinderspital Zürich haben kürzlich die Fakten bezüglich Allergierisiko nach Impfungen zusammengestellt (10). In Finnland wurden aufgrund von Einträgen im Krankheitsregister die Krankheitsgeschichten von über 500 000
ARS MEDICI 16 ■ 2008 697
INTERVIEW
«Studien ergaben keinen nachteiligen Effekt des Impfens auf die Entstehung von
Allergien; vielmehr zeigte sich ein Trend, dass Kinder, die besonders komplett geimpft
worden waren, später etwas weniger häufig an Asthma und Neurodermitis leiden.»
jungen Menschen untersucht. 20 690 hatten in der Kindheit
Masern durchgemacht, weil sie nicht geimpft worden waren.
Nun untersuchte man, ob die jungen Erwachsenen vermehrt
an Allergien litten. Die nicht gegen Masern Geimpften hatten
als junge Erwachsene häufiger Neurodermitis, häufiger Heu-
schnupfen und häufiger Asthma. Bei einer im Februar 2007 er-
schienenen Studie aus den Niederlanden wurde bei über
2800 Kindern ab Geburt bis zum Alter von sieben Jahren die
gleiche Frage gestellt. Die meisten davon waren, dem hollän-
dischen Impfplan entsprechend, im Alter von zwei, drei und
vier Monaten gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio-
myelitis und Hirnhautentzündung geimpft worden. Auch bei
diesen Kindern aus Holland zeigte sich überhaupt kein nach-
teiliger Effekt des Impfens auf die Entstehung von Allergien.
In einer Studie aus Deutschland, bei der über 1300 Kinder mit
Geburtsjahr 1990 nachkontrolliert wurden, zeigte sich sogar
ein Trend, wonach diejenigen Kinder, die besonders komplett
geimpft worden waren, etwas weniger häufig an Asthma und
Neurodermitis litten. PD Dr. Lauener unterstreicht eine Tat-
sache, die bei der gesamten Diskussion rund um die Entste-
hung von Allergien selten erwähnt wird: 1979 hatte in Guinea-
Bissau eine Masernepidemie die grösstenteils ungeimpfte
Bevölkerung befallen. Mehr als 25 Prozent der ungeimpften
Kinder im Alter von weniger als drei Jahren sind damals an
den Folgen der Masernepidemie gestorben. Die Argumente
der Impfgegner, dem Kind die vom BAG empfohlenen Imp-
fungen wegen des möglichen Risikos einer späteren Allergie
vorzuenthalten, können nicht wissenschaftlich untermauert
werden.
■
*PIA-CH: Gruppe der pädiatrischen Immunologen und Allergologen der Schweiz, welche Empfehlungen zur Primärprävention von Allergien für Neugeborene und Säuglinge mit einem erhöhten Atopierisiko in Zusammenarbeit mit der Ernährungskommission der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie und der Fachkommission der Schweizerischen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie herausgegeben haben (Paediatrica 2004; 15 [3]: 40).
Literatur: 1. Ownby D.R. et al.: Exposure to 2 or more cats or dogs in the first year of life may reduce sub-
sequent risk of allergic sensitization to multiple allergens during childhood. JAMA 2002; 288: 963–972. 2. Hesselmar B. et al.: Does early exposure to cat or dog protect against later allergy development. Clinical Exp Allergy 1999; 29 (5): 611–617. 3. Roost H.P. et al.: Role of current and childhood exposure to cat and atopic sensitization. European Community Respiratory Health Survey. J Allergy Clin Immunol 1999; 104 (5): 941–947. 4. Ichikawa K. et al.: High prevalence of sensitization to cat allergen among Japanese children with asthma, living without cats. Clinical Exp Allergy 1999; 29 (6): 754–761. 5. Chan-Yeung M. et al.: Sensitization to cat without direct exposure to cats. Clinical Exp Allergy 1999; 29 (6): 762–765. 6. Empfehlung zur Primärprävention von Allergien für Neugeborene und Säuglinge mit einem erhöhten Atopierisiko. Paediatrica 2004; 15 (3): 40–43. 7. Bergmann R.L. et al.: Breastfeeding duration is a risk factor for atopic eczema. Clinical Exp Allergy 2002; 32 (2): 205–209. 8. Sears M.R. et al.: Long-term relation between breastfeeding and development of atopy and asthma in children and young adults: a longitudinal study. Lancet 2002; 360: 9601–9907. 9. Linneberg A. et al.: Alcohol during pregnancy and atopic dermatitis in the offspring. Clin Exp Allergy 2004; 34 (11): 1678–1683. 10. Lauener R., Wiesner A.: Begünstigen Impfungen Allergien? aha!news 2007; 3: 10–11.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
698 ARS MEDICI 16 ■ 2008