Transkript
VERNETZT
Netzängste
Netze, vernetzen, vernetzt — Schlagworte, die man heute überall hört und die nicht selten als Allheilmittel für die kranke Medizin gepriesen werden. Sie kommen nicht bei allen Ärzten und Ärztinnen gut an. «Meine» Patienten, «Ihr» Arzt, die sozusagen heilige Arzt-Patienten-Beziehung sind ideologisch ebenso aufgeladen. Sie bilden gleichsam den Gegenpol der Freiheit in der Arzt- und Therapiewahl, von der niemand mehr recht weiss, was sie bedeutet.
Netze sind in ihrer Bedeutung allerdings ambivalent: Fisch- oder Schmetterlingsnetze etwa fangen frei lebende Tiere ein, was für die Eingefangenen keineswegs erfreulich, für den Fischer oder Schmetterlingssammler aber ein guter Fang ist. Soziale Netze empfinden wir als positiv, ja unentbehrlich, um den Lebenskampf bestehen zu können. Sie stören uns nur, wenn uns die damit verbundene soziale Kontrolle zu eng wird. Und wenn ein Netz zur Hängematte wird, können wir
darin gar ausruhen, aber auch das nicht für immer …
Ärztenetze sind eine weitere Netzvariante, die hier Thema ist. Als ÄrztInnen können wir uns fragen, ob uns diese Netze Rückhalt geben, ob sie uns einfangen, ob wir selber das Netz sind oder sogar die Fischer, die damit einen guten Fang machen. Schon diese Unsicherheit macht Angst. Und sie wird stärker, wenn wir vor allem darauf schauen, wie Netze
unseren immer noch beneidenswert grossen Spielraum einengen, den wir als halbfreie Unternehmer haben.
Das engmaschige Netz Die Maschenweite von Netzen ist unterschiedlich. Wenn Ärztenetze den heutigen Anforderungen genügen wollen, müssen sie hoch organisiert sein. Verlangt sind Standards, Guidelines, Case- und DiseaseManagement, Performance-Messung, Qualitätsnachweis und wie sie alle heissen. Ist das nicht wie ein kafkaesker Prozess, den eine unfassbare Bürokratie gegen uns ÄrztInnen führt und Rechtfertigung verlangt in einer Anklage, die wir nicht kennen? Dabei war es einmal unser Ziel, den Patienten zu helfen.
Doch täuschen wir uns nicht: Dieses engmaschige Netz, in das wir verstrickt sind, ist kein Ärztenetz. Es ist das Netz unserer (auch medizinischen) Denkungsart, welche meint, alles und jedes im Griff haben zu können. Ärztenetze müssen stark sein, weil sie nur so den Raum offen halten können, in dem ÄrztInnen Menschen behandeln. Dies ist möglich, wenn sie die unvermeidliche Care-Management-Entwicklung mitmachen, vielleicht
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sogar anführen, ohne je über allen Programmen die Patienten aus den Augen zu verlieren. Eine fast übergrosse Herausforderung.
Das lose Netz – eine Illusion Manche Ärztenetze haben zwar die Notwendigkeit der Vernetzung erkannt und sich zunächst lose in Form von Vereinen organisiert, welche von ihren Mitgliedern kaum spürbare Veränderungen verlangen. Und sie zögern, den begonnenen Weg weiterzugehen. Sie haben Angst, eine neue und eigene Position innerhalb der Ärzteschaft einzunehmen und dafür zu kämpfen. Man kann dies als «falsche Bescheidenheit der Grundversorger» bezeichnen. Es ist auch die Angst, das eigene Berufsbild neu zu gestalten in einer Zeit, die unerbittlich weitergeht. Und es ist die berechtigte Angst vor der weiteren Bürokratisierung und Ökonomisierung der Medizin. Doch diese losen, ja schlaffen Netze können die weitere Entwicklung nicht beeinflussen.
Die Netze der andern Die Bildung modern organisierter Netze ist unvermeidlich. Die Frage ist, wer sie knüpft und führt. Die Grundversorger
haben immer noch die Chance, vorne dabei zu sein, aber die Zeit drängt. Nachdem die Krankenversicherer mit ihren HMOs die Ärzte vor 15 Jahren aufschreckten, entstanden die ersten ärzteeigenen Netze. Die Versicherer zogen sich dann für einige Jahre wieder zurück, doch jetzt folgt die zweite Welle. Die Zeit ist für die Versicherer günstiger, denn die Hausärzte sind müde und ihr knapper Nachwuchs weit eher bereit, im bequemeren Angestelltenverhältnis Medizin zu betreiben. Und die Versicherer müssen nicht von ihren Gesundheitszentren leben. Sie dienen ihnen vielmehr dazu, das Portal zum Medizinalsystem zu kontrollieren und eine Basis für die Versichertenakquisition aufzubauen. Ähnliche Interessen könnten Spitäler und andere Investoren haben.
Was bedeutet das für die Grundversorgung? Aus Patientensicht ist es vielleicht gar nicht so schlimm. Wir leben in der Zeit der Grossverteiler, warum nicht auch in der Medizin? Gesundheitscheck und Arztbesuch eingebaut ins Konsumerlebnis im Einkaufs- und Wellnesspark? Wir gehören schliesslich zum grössten Wirtschaftszweig des Landes.
Irgendwo in der Tiefe regt sich (jedenfalls bei mir) eine instinktive Abwehr gegen solche Gedanken. Ist Medizin und Arztsein nicht mehr als Konsum? Geht es nicht um Menschen, um ihre Beziehungen, ihr Leiden und ihre Endlichkeit?
Vernetzen oder versanden Wenn Medizin mehr ist als Konsum technischer Leistungen, braucht es selbstverantwortliche Ärztinnen und Ärzte, die Patienten behandeln, ohne auf den Markt, den Wettbewerb und die Ökonomie zu schielen. Wenn dies in Zukunft überhaupt noch möglich ist, dann am ehesten in Netzen, die von Ärzten geführt sind. Es müssen professionell organisierte Netze sein, stark genug, um Bürokratie und Ökonomie im Zaum zu halten. Wenn die jetzigen Hausarztnetze dies nicht schaffen, werden sie versanden und schliesslich nur noch die Fugen im gewaltigen Bau der technischen Medizin ausfüllen.
Dr. med. Hansueli Schläpfer Ärztenetz Säntimed AG Kasernenstrasse 30 9100 Herisau
E-Mail: hansueli.schlaepfer@saentimed.ch
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