Transkript
BERICHT
Sekundäre Kopfschmerzen erkennen
Die Bedeutung des Neurostatus
Kopfschmerzen sind in der Praxis ein häufiges Problem. Immer muss es auch darum gehen, sekundäre Kopfschmerzen rechtzeitig zu erkennen, da dies vitale Therapiekonsequenzen haben kann. Mit dieser Abgrenzung beschäftigte sich PD Dr. Hans H. Jung, Stellvertretender Leiter der Neurologischen Poliklinik, Universitätsspital Zürich, an einem Workshop während des Jahreskongresses der FMP am 5. Juni in Zürich.
HALID BAS
Kopfschmerzen gehören zu den häufigsten Krankheiten. Bei Frauen ist von einer Lifetime-Prävalenz von 88 Prozent, bei Männern von 68 Prozent auszugehen. 37 Prozent der Männer und Frauen berichten von mehrfachen Kopfschmerzepisoden pro Monat. Immerhin 3 Prozent leiden mehr als 180 Tage pro Jahr daran. Bei den primären Kopfschmerzen sind Spannungstypkopfschmerzen, Migräne und Cluster-Kopfschmerzen am häufigsten (Tabelle 1). Hans H. Jung erinnerte daran, dass auch primäre Kopfschmerzen gefährlich werden können, so sind bei Cluster-Kopfschmerzen Suizide bekannt, bei schwerer Trigeminusneuralgie kann es zu Mangelernährung und Exsikkose kommen. Die Häufigkeit von primären Kopfschmerzen steht auch in einem Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Umfeld. So sind sie dort, wo drängende existenzielle Probleme vorherrschen, deutlich weniger häufig. Hans H. Jung skizzierte mehrere Fallvignetten, anhand deren er auf sekundäre Kopfschmerzursachen hinwies, die es in der täglichen Praxis nicht zu verpassen gilt.
Fall 1 Eine 24-jährige Medizinstudentin berichtet von Kopfschmerzen, die pro Monat zweimal auftreten, einmal in Zusammenhang mit der Menstruation. Die Episoden dauern jeweils vier Stunden bis einen Tag und sind unterschiedlich schwer ausgeprägt. Bei schwerem Kopf-
Tabelle 1: Primäre Tabelle 1: Kopfschmerzen
■ Spannungstypkopfschmerzen ■ Migräne mit/ohne Aura ■ Cluster-Kopfschmerzen
■ Andere: — Hemicrania continua — Neu aufgetretener täglicher Kopf— schmerz — Primärer schlafgebundener Kopf— schmerz — SUNCT (short lasting unilateral neuralgi— form headache with conjunctival injec— tion and tearing) — Primärer Kopfschmerz assoziiert mit — sexueller Aktivität — u.a.m.
Hans H. Jung
schmerz empfindet sie Licht- und Lärmscheu, das Herumgehen ist ihr unangenehm, besser geht es, wenn sie sich hinlegt. Das Kopfweh spricht gut auf 1000 mg Acetylsalicylsäure an.
Hier liegt die Diagnose einer Migräne (ohne Aura) auf der Hand. Betroffen davon sind 6 Prozent der Männer und 12 bis 18 Prozent der Frauen. Die Erkrankung wird bei der Hälfte der Betroffenen nicht diagnostiziert, wie Jung festhielt. Ein EEG ist bei einem unkomplizierten Fall wie hier nicht indiziert. Weitere Abklärungen sind nur notwendig, wenn der Neurostatus Auffälligkeiten zeigt, ferner bei einer neu aufgetretenen Migräne mit Aura sowie bei Anfallshäufung. Bei der Anamnese ist unbedingt nach auslösenden Faktoren zu fragen (Medikamente etc.). Ein Kopfwehkalender ist nützlich bei häufigen Attacken. Therapeutisch wird man zunächst Acetylsalicylsäure empfehlen, andere nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) wirken
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häufig nicht besser, wusste Hans H. Jung. Triptane können bei ungenügendem Effekt von ASA verschrieben werden. Sehr wichtig ist aber die Erkenntnis, dass jeder zweite oder dritte Migränepatient unter medikamentös induziertem Kopfweh leidet, und dass dieses Phänomen auch bei Triptanen vorkommt, weshalb solche Medikamente nicht häufiger als zehn- bis zwölfmal pro Monat eingenommen werden sollten. Dies beantwortet auch die Frage nach einer medikamentösen Prophylaxe: Sie ist zu diskutieren, wenn es mehr als einmal pro Woche zu einem Migräneanfall kommt. Zu einer Basistherapie eignen sich Magnesium, Vitamin B2 (Riboflavin), Betablocker (Metoprolol [z.B. Beloc ZOK®]). Weitere Optionen sind Antiepileptika (Topiramat [Topamax®], das jedoch ein lästiges Kribbeln verursachen kann, oder Valproat [z.B. Depakine®]). Sibelium® kann versucht werden, wenn Schwindel ein wichtiges Problem ist, der Nutzen kann jedoch durch Gewichtszunahme, Sedation und Depressionen als unerwünschte Wirkungen eingeschränkt werden.
«Ein EEG ist bei einem
unkomplizierten Fall von
Migräne nicht indiziert.»
Fall 2 Die 40-jährige Hausfrau steht nach der Trennung vom Partner als alleinerziehende Mutter mit Sozialhilfe unter einer starken psychosozialen Belastung. Seit einigen Tagen fühlt sie sich abgeschlagen und müde. Seit zwei Tagen hat sie ihre üblichen starken Kopfschmerzen, Herumgehen ist ihr unangenehm, sie ist licht- und lärmempfindlich. Sie ruft in der Nacht den Notfallarzt an, da sie es nicht mehr aushalte, auch wenn sie sich hinlege. Bei der Untersuchung verhält sie sich wehklagend, der Neurostatus ist normal, ebenso der Allgemeinstatus. Insbesondere liegt kein Meningismus vor, und Blutbild, BSR, CRP sowie Urinstatus sind normal. Eine Computertomografie (CT) wird angeordnet und zeigt
Tabelle 2: Sekundäre Tabelle 2: Kopfschmerzen
■ Neurogen: — Trigeminusneuralgie
■ Infektiös/Entzündlich: — Arteriitis temporalis — zerebrale Vaskulitis — Meningitis/Enzephalitis
■ Vaskulär: — Gefässdissektion/Verschluss — Aneurysma/Infarkt/Blutung
■ Intrakranielle Raumforderung: — Tumor, Abszess, Blutung
■ Okulär: — Refraktionsanomalie — Glaukom
■ ORL: — Sinusitis — Otitis media
■ Kieferchirurgie: — Costen-Syndrom
■ Traumatologie: — Schädelhirntrauma — Whiplash Injury (HWS)
■ Rheumatologisch: — Zervikalsyndrom — systemischer Lupus erythematodes — Fibromyalgie
■ Allgemeinerkrankungen: — grippaler Infekt — arterielle Hypertonie — Phäochromozytom
■ Psychiatrie: — somatoforme Schmerzen
eine Thrombose des Sinus sagittalis und transversus rechts bis zur Vena jugularis; eine venöse Infarzierung liegt nicht vor. Bei Therapie mit Liquemin® kommt es innert Stunden zur Remission der Kopfschmerzen. In der Folge ist der Verlauf komplikationslos.
Ausschlaggebend war hier zunächst die Anamnese. Bekannt sind bei der Patientin Kopfschmerzen, aber jetzt ist es seit zwei Tagen einerseits zu einem Crescendo der Symptomatik gekommen, andererseits hat sich am Beschwerdebild
etwas geändert, indem der Kopfschmerz auch nachts und im Liegen anhält. Beides sind Warnzeichen (Tabelle 2). Die Sinusvenenthrombose betrifft häufig junge Erwachsene und Kinder, Frauen sind dreimal häufiger betroffen als Männer. Die Inzidenz nimmt wegen vermehrter Wahrnehmung und verbesserter Bildgebung zu, wie Hans H. Jung berichtete. Häufigstes Symptom sind Kopfschmerzen (bei 90%), die entweder langsam progredient oder perakut sein können. 10 Prozent haben keine Kopfschmerzen, bei 40 Prozent sind sie einziges Symptom. Fokale neurologische Zeichen sind bei der Hälfte der Betroffenen zu finden, 40 Prozent erleiden epileptische Anfälle, die je zur Hälfte partiell oder generalisiert sind. Kognitive Symptome, Vigilanzstörungen bis hin zum Koma sowie Hirndruckzeichen kommen vor. Bei den Laboruntersuchungen hilft die Bestimmung der D-Dimere weiter, allerdings ist dieser Test in 10 Prozent negativ. Zur Bildgebung wird die CT herangezogen, die Sensitivität der Magnetresonanztomografie (MRI) ist etwas höher, eine Angiografie ist bei positivem Tomogramm nicht notwendig. Selbst wenn eine venöse Infarzierung vorliegt, wird mit Liquemin therapiert, ausser wenn der Thrombose eine Gefässanomalie zugrunde liegt. Prothrombotische Zustände wie Schwangerschaft, Puerperium oder die Einnahme von oralen Kontrazeptiva erklären das Überwiegen beim weiblichen Geschlecht. Therapeutisch schliesst sich eine Antikoagulation für sechs, allenfalls auch nur für vier Monate an. In den schwereren Fällen müssen Hämatomevakuation, Dekompression und Hirndrucksenkung angestrebt werden. Bei 80 Prozent hinterlässt die Erkrankung keine oder nur minime Residuen. Die Mortalität wird gesamthaft mit 4 bis 7 Prozent angegeben.
Fall 3 Bei dem 45-jährigen Arzt ist etwa seit dem 20. Lebensjahr eine Migräne ohne Aura bekannt. Nach einem Transatlantikflug über Nacht ist er mit typischer Migräne aufgewacht. Es handelt sich um einen rechtsseitigen periorbitalen mittel-
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SEKUNDÄRE KOPFSCHMERZEN ERKENNEN
starken Schmerz, begleitet von Foto- und Phonophobie. Beim Rasieren zu Hause bemerkt er eine kleinere Pupille sowie ein hängendes Augenlid rechts. Der periorbitale Kopfschmerz und das HornerSyndrom legen den Verdacht auf eine Kartoisdissektion nahe, die mittels CT bestätigt werden kann.
Eine Karotisdissektion kann im Ultraschall vermutet werden. Die bildgeberische Bestätigung erfolgt am besten mittels MRI. Ein erfahrener Neuroradiologe kann aber eine Karotisdissektion auch im CT darstellen. Das Horner-Syndrom erklärt sich durch eine Schädigung der aufsteigenden sympathischen Nervenfasern in der Gefässwand der Karotis. Unter Umständen können auch N. hypoglossus oder oculomotorius involviert sein, da die Vasa nervorum betroffen werden, was eine periphere Hirnnervenneuropathie auslösen kann. Als Symptome sind Kopfschmerzen oder nur Schmerz ins Ohr bekannt. Zudem kann es zu einer Thrombusbildung mit arterio-arteriellen ischämischen Ereignissen kommen. Bei der Therapie sind die Alternativen Acetylsalicylsäure oder Antikoagulation ohne sicheren Vorteil. Bei spontanem Auftreten ist die Ursache unbekannt, diskutiert wird eine Bindegewebsstörung. Es gibt auch Berichte über exogene Ursachen wie direkte oder indirekte Traumata (v.a. Manipulationen an der Halswirbelsäule, Fussballspiel, Autounfall). Ein Rezidiv soll in ungefähr 10 Prozent der Fälle vorkommen. Eine Gefässdissektion ist nur eine Möglichkeit unter vielen Ursachen für sekundäre Kopfschmerzen, die die Tabelle 2 auflistet.
Fall 4 Die 69-jährige Patientin hat hin und wieder Migräne ohne Aura. Heute leidet sie an einer extremen Hemikranie ohne Begleiterscheinungen und erscheint deswegen notfallmässig in der Hausarztpraxis. Unter der Diagnose einer atypischen Migräne erhält sie ein Triptan, das zur Besserung führt. Nach Stunden hat sie erneut starke Schmerzen und erscheint auf der Notfallstation.
Hier muss der differenzialdiagnostische Gedanke sofort zu einer Subarachnoidalblutung gehen. Zu einer Warnblutung (sog. «sentinel leak») kommt es bei 20 bis 50 Prozent der Betroffenen. Meist geschieht dies im Monat vor der Subarachnoidalblutung. 20 Prozent der Patienten versterben vor Erreichen des Spitals. Die Symptomatik kann sehr unterschiedlich sein. Ein Drittel der Betroffenen leidet nur an isolierten Kopfschmerzen, bei zwei Dritteln liegen zusätzliche Symptome wie Nausea, Nackenschmerzen sowie visuelle oder sensomotorische Störungen vor. Für die Diagnose der Subarachnoidalblutung, aber auch anderer vital gefährdender Erkrankungen, die mit Kopfschmerz einhergehen, sind die Warnzeichen («Red Flags») wichtig (Tabelle 3). Alarmlampen sollten aufleuchten, wenn Patienten von erstmaligen Kopfschmerzen berichten, wenn die Qualität des Schmerzes als anders beschrieben wird als gewohnt, wenn Schmerzen oder Schmerzattacken an Intensität oder Häufigkeit zunehmen. Verdächtig sind auch ein Dauerschmerz ohne Pausen, ein schlagartiger Beginn sowie eine immer gleiche Lokalisation. Dass ein Kopfschmerz bei Subarachnoidalblutung vorübergehend auf Triptane reagiert, ist nichts Ungewöhnliches, wie Hans H. Jung anmerkte.
«Ein Meningismus muss
beim Anheben des Kopfes
blockieren.»
Neben der Charakterisierung des Kopfschmerzes ist anamnestisch auch nach begleitenden Auffälligkeiten im internistischen und neurologischen Bereich zu suchen. «An erster Stelle der neurologischen Abklärung ist auch heute die Anamneseerhebung von grösster Wichtigkeit», betonte Hans H. Jung. Wenn bei der Untersuchung pathologische Befunde erhoben werden, kann gezielt internistisch (Fieber, CRP, Blutbild) oder neurologisch weitergesucht werden. Beim Neurostatus kommt dem neuropsychologischen Bild (Bewusstsein, Kognition) grosse Bedeutung zu. Zur
Tabelle 3: Warnzeichen Tabelle 3: («Red Flags»)
... wenn Kopfschmerzen: ■ erstmalig ■ anders (als bisher) ■ zunehmend (Intensität, Häufigkeit) ■ Dauerkopfschmerz (keine Pausen) ■ mit schlagartigem Beginn («Explosion») ■ immer gleich lokalisiert (Seite, Ort)
... wenn anamnestisch begleitende Abnormitäten: ■ internistisch:
— Allgemeinzustands-Verschlechterung — Fieber, Gewichtsverlust — Erbrechen (insbesondere nüchtern) ■ neurologisch: — Persönlichkeitsveränderung — epileptische Anfälle — Seh-, Sprach-, Gleichgewichtsstörungen
... wenn pathologische Befunde vorhanden: ■ internistisch:
— Fieber — Labor (CRP, Blutbild) ■ neurologisch (global, fokal): — neuropsychologisch — Meningismus, Stauungspapillen — Okulomotorik, Paresen — Koordinationsstörung
Untersuchung gehört die Prüfung auf
Meningismus («Ein Meningismus muss
beim Anheben des Kopfes definitions-
gemäss blockieren»). Im Rahmen des
Kopfstatus muss im Augenhintergrund
nach Stauungspapillen gesucht werden,
und die Okulomotorik ist zu prüfen,
schliesslich ist auf Paresen, Koordina-
tions- und Gangstörungen oder Latera-
lisation zu achten.
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Halid Bas
Interessenlage: Diese Berichterstattung erfolgt industrieunabhängig.
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