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Titel
Erholende Ferienzeit
Untertitel
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Lead
Keine Ferien zu machen, wenn andere Kollegen das tun, ist genüsslich. Die eigenen Patienten sind alle im Ausland. Auch die Unbequemen. Man kann sich von seinen «eigenen» Passiv-Aggressiven, Depressiven und Hypochondern ein wenig erholen. Herrlich, die Dienstage ohne Frau F. mit der Fibromyalgie! Wunderbar friedlich, die Mittwoche ohne Herrn B., der als Erstes immer meine MPAs zusammenstaucht und dann bei mir herumgrummelt. Die noch im Lande weilenden «Schwierigen» der Kollegen, die jetzt bei mir, dem Ferienvertreter, jammern und motzen, verträgt man besser. Erstens kennt man sie noch nicht, und ihre Geschichten sind neu für einen.
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Rubriken — ARSENICUM
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13702
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arsenicum
K eine Ferien zu machen, wenn andere Kollegen
das tun, ist genüsslich. Die eigenen Patienten sind alle im Ausland. Auch die Unbequemen. Man kann sich von seinen «eigenen» Passiv-Aggressiven, Depressiven und Hypochondern ein wenig erholen. Herrlich, die Dienstage ohne Frau F. mit der Fibromyalgie! Wunderbar friedlich, die Mittwoche ohne Herrn B., der als Erstes immer meine MPAs zusammenstaucht und dann bei mir herumgrummelt. Die noch im Lande weilenden «Schwierigen» der Kollegen, die jetzt bei mir, dem Ferienvertreter, jammern und motzen, verträgt man besser. Erstens kennt man sie noch nicht, und ihre Geschichten sind neu für einen. Zweitens benehmen sie sich besser als beim Kollegen, denn sie sind glücklich, ihre Klagelieder bei einem neuen Doktor absingen zu können, der aufmerksam und mitfühlend zuhört. Dies tue ich aber nicht weil ich ein Gutmensch bin. Sondern weil ich weiss, dass ich dies nur drei Wochen lang machen muss – dann übernimmt wieder der gut erholte Kollege. In den Augen der meisten Patienten ist man die Verkörperung des calvinistischen Arbeitsethos – man ist der einzige Doc, der noch arbeitet. «Nie ist mein Arzt da!», klagen sie, was bei unseren tapferen Landärzten nun wirklich nicht stimmt. Ich widerspreche: «Ihr Hausarzt, der Dr. X, ist nur während maximal drei Wochen Ferien weg. Die 10 Tage Weiterbildung, die er ableisten muss, und während dener er nicht in der Praxis ist, verteilt er übers Jahr!» «Aber jetzt ist er weg!», maulen die Patienten. «Jetzt, wo ich ihn brauche». Und so ruht die medizinische Versorgung unserer Gegend auf meinen Schultern und auf denen vom Kollegen S., der 30 Kilometer entfernt schuftet. Wir sind Chrampfer in Weiss. Hüter der traurigen Seelen, die sich von ihren Hausärzten im Stich gelassenen fühlen, wenn die sich mal 14 Tage Urlaub gönnen. Wir sind Wegeiser der Warzen, Quickbestimmer, Zuckerdoktor und Kleinchirurgiechirurg. Erledigen den Kleinkram, der nicht universitär interessant, aber für den Patienten lästig ist. Weil wir eine touristisch interessante Gegend sind, kommt die grosse weite Welt zu uns. Staunend nehme ich zur Kenntnis, welch ein Wunderwerk der Technik eine japanische Insulinpumpe

ist. Beeindruckend ist der Brief der serbischen Kollegin, den sie ihrem polymorbiden Patienten mitgegeben hat, falls dieser zum Arzt müsse, während er in der Schweiz seinen ausgewanderten Sohn besucht: Die Diagnoseliste ist in bestem Latein und mit ICD10-Nummern verfasst, die Anamnese und Behandlungsempfehlungen in Englisch, die Medikamentenliste führt die Freinamen und die Markennamen auf. Bizarr war die Notfallkonsultation des amerikanischen Patienten, der augenscheinlich meinte, dass wir in der Schweiz noch keine Einweg-Spritzen haben. Er bestand darauf, dass ihm mit seinem eigenen mitgebrachten Material Blut entnommen würde, und kritisierte, dass meine MPA dabei keinen Mundschutz trug und ich mir die Hände nur wusch, aber nicht desinfizierte, bevor ich ihn berührte. «I do it afterwards!», knurrte ich und fühlte mich wie ein Urwaldarzt. Weitere Freuden zeigen mir, dass es Ferienzeit ist: Die genüssliche Lektüre der «Saure-Gurken-Zeit»-Zeitungen, inklusive der dümmlichen Glossen des Dr. Adel Abdel-Latif, das Verzehren von Fertigpizzas und Mikrowellen-Snacks auf der Terrasse über Mittag (meine Frau macht Urlaub von der Küche), das Möwenpick-Glacé, das wir uns in der Kaffeepause gönnen. Eine Verbrüderung der Hiergebliebenen findet statt. «Arbeiten Sie jetzt auch noch immer? Gehen Sie noch oder waren Sie schon?», fragen die anderen. Kollege S. ruft an, und wir ziehen zwölf Minuten genüsslich über Kollege B. her, dessen Inkompetenz uns bei jeder Vertretung auffällt. «Er sollte mal in eine Medical Summerschool mit einem Update-Kurs gehen, statt nach Mallorca!», schnödet S. Recht hat er. Erst als der Reisebus aus Schleswig-Holstein die Einfahrt blockiert, lege ich den Hörer auf. Aus dem Bus wanken zwölf rüstige Rentnerinnen mit Air-Sickness-Bags. Die Lebensmittelvergiftung haben sie sich noch in Deutschland geholt – als Arzt einer Tourismusregion muss man dies betonen. Mit fröhlichem Hupen fährt der Bus ab, nachdem alle zwölf behandelt wurden. Die Klatschbase vis-a-vis, die den Aufmarsch beobachtet hat, verbreitet in unserem Städtchen das Gerücht, dass sie zu mir in Bussen aus dem Ausland kämen – vermutlich würde ich Botox spritzen, abtreiben oder sei Exit/DignitasArzt. Als ich mich darüber ärgere, zischt meine Frau: «Du bist erholungsreif! Du solltest auch Ferien machen!»

Erholende Ferienzeit

646 ARS MEDICI 15 ■ 2008