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FORTBILDUNG
Chemotherapie in palliativer Intention
Tumorspezifische systemische antineoplastische Interventionen zur Symptomlinderung
Chemotherapie als systemische tumorspezifische Intervention kann als wertvolle Massnahme mit dem primären Ziel der Symptomlinderung eingesetzt werden. Oft wird dieser Begriff aber auch im Sinn der nicht kurativen Intervention mit dem primären Ziel der Tumorkontrolle angewendet. Die Chemotherapie in palliativer Intention wird idealerweise als Baustein einer umfassenden onkologisch-palliativmedizinischen Behandlung eingesetzt, welche weitere Möglichkeiten der multidimensionalen Symptomkontrolle, Kommunikation über Prioritäten in den letzten Lebensphasen sowie den Netzwerkaufbau der «Palliative Care» inklusive Angehörigenunterstützung umfasst.
Palliative Chemotherapie ist vom Mechanismus her zwar auf den Tumor gerichtet, soll aber im eigentlichen Sinn des Begriffs «palliativ» der Symptomlinderung dienen. Der Begriff palliative Chemotherapie wird jedoch viel breiter verwendet: ■ Chemotherapie mit dem primären Ziel, ein möglichst lan-
ges rückfallfreies Überleben zu erzielen, aber ohne definitive Heilung auf lange Sicht, wie zum Beispiel die TandemHochdosistherapie bei multiplem Myelom ■ «nicht kurative» Chemotherapie, zum Beispiel bei Patientinnen mit fortgeschrittenem Brustkrebs oder bei anderen soliden Tumoren mit dem Ziel, die Entwicklung von tumorspezifischen Symptomen zu verzögern (Symptomprävention) respektive eine Stabilisierung des Tumors bei asymptomatischen Patienten zu erreichen ■ «eigentliche» Chemotherapie in palliativer Intention mit dem primären Ziel der Symptomlinderung.
Diese Intentionen der Chemotherapie überlappen häufig. Entscheidungswege, die zum Einsatz der Chemotherapie in palliativer Intention führen, der Kontext der onkologischen Palliativmedizin, in welchem die Chemotherapie eingebettet ist, sowie die Festlegung und Beurteilung der Ergebniskriterien werden in diesem Artikel zusammengefasst.
FLORIAN STRASSER
Um die Wirkung der Chemotherapie auf spezifische Symptome wie Schmerz beurteilen zu können, ist die vorgängig optimierte Symptomkontrolle unter Beachtung von Symptominteraktionen hilfreich. Verwandt mit dem Begriff Symptomkontrolle ist der sogenannte klinische Benefit, welcher sich zusammensetzen kann aus Symptomlinderung (wie Schmerz), reduziertem Schmerzmittelverbrauch und der Verminderung eines ungewollten Gewichtsverlusts. Patienten mit fortgeschrittener unheilbarer Krebserkrankung erleiden meistens krebsassoziierte Beschwerden und Komplikationen, wie zum Beispiel Schmerzen, ungewollten Gewichtsverlust oder Atemnot, um nur ein paar wenige zu nennen (1). Dazu kommen die psychosozialen Belastungen, zunehmende Herausforderungen im Zusammenhang mit der Betreuung zu Hause und die Mitbelastung der Angehörigen (2, 3). In diesem Kontext wird oft eine systemische Chemotherapie in palliativer Intention eingesetzt.
Merksätze
■ Symptome können sich unter Chemotherapie bessern, auch wenn der Tumor nur stabil bleibt oder langsamer wächst.
■ In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass sich das subjektive Erleben vieler Patienten bezüglich Toxizität von den objektiven CTC-Kriterien unterscheidet.
■ Emotionale Beschwerden werden bei der Symptomkontolle häufig zu wenig berücksichtigt.
■ Es können unter Umständen andere Prioritäten dominanter sein als eine fokussierte Symptomkontrolle durch die Chemotherapie, wie zum Beispiel Zeit mit der Familie oder sich selbst, um an Trauerprozessen und am Abschied zu arbeiten.
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CHEMOTHERAPIE IN PALLIATIVER INTENTION
Tabelle 1: WHO-Definition des Begriffs Tabelle 1: «Palliative Care»
unheilbaren Stadiums und erfolgt bedarfsangepasst kontinuierlich bis zum Tod. Sie geht oft mit tumorspezifischen Massnahmen einher.
Palliativmedizin dient der Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit den Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen, und zwar durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, Einschätzen und tadellose Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Natur.
Pallative Care ■ lindert Schmerzen und andere belastende Symptome ■ bejaht das Leben und betrachtet das Sterben als normalen Prozess ■ will den Tod weder beschleunigen noch verzögern ■ integriert psychische und spirituelle Aspekte der Pflege ■ bietet jegliche Unterstützung, um dem Patienten zu einem mög-
lichst aktiven Leben bis zum Tod zu verhelfen ■ bietet den Familien Unterstützung bei der Bewältigung seelischer
Probleme während der Krankheit des Patienten und nach dessen Tod ■ arbeitet multi- und interdisziplinär, um den Bedürfnissen von Patienten und Angehörigen gerecht zu werden, dazu gehört gegebenenfalls auch die Beratung in Trauerfall ■ verbessert die Lebensqualität und kann auch einen positiven Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben ■ kann frühzeitig in der Erkrankung in Kombination mit lebensverlängernden Massnahmen angewendet werden, wie beispielsweise Chemo- und Radiotherapie ■ umfasst auch die notwendige Forschung, um Beschwerden oder klinische Komplikationen besser verstehen und behandeln zu können.
Was bedeutet Palliative Care in der Onkologie? In den letzten Jahren hat sich das Verständnis von Palliative Care entwickelt und verändert, von der schwerpunktmässig terminalen Betreuung in den letzten Wochen und Tagen und einem sogenannten «nicht kurativen» Betreuungsansatz mit Schwerpunkt auf Symptomlinderung («wenn die Hoffnung auf Heilung schwindet» [4]) hin zur modernen integrierten Palliativmedizin in der Onkologie. Letztere wird noch nicht in allen Krebszentren angeboten. Die European Society of Medical Oncology (ESMO) fördert deren Entwicklung durch ein Zertifizierungsprogram (ESMO Designated Center of Integrated Oncology and Palliative Medicine) (5, 6). Eine wichtige Grundlage ist die WHO-Definition der Palliative Care (Tabelle 1) (7). Integrierte Palliativmedizin in der Onkologie bedeutet, dass eine aktive, umfassende (multidimensionale, das heisst körperliche, psychische, soziale, spirituelle) Beurteilung, Behandlung und Betreuung der Patienten und ihrer Angehörigen erfolgt. Diese klinische Tätigkeit umfasst bereits die Betreuung bei der Diagnose eines fortgeschrittenen,
Ziele der Chemotherapie in palliativer Intention Es ist offensichtlich, dass krebsassoziierte Symptome verschwinden, wenn der Krebs durch Chemotherapie geheilt wird, auch wenn Patienten in der Nachsorge wiederum belastende Symptome, wie beispielsweise Müdigkeit, erleben. Häufig verbessern sich die Symptome und Syndrome (z.B. Fatigue-, Kachexie-, Verstopfungssyndrom), wenn eine Chemotherapie die Tumorgrösse und auch die Tumoraktivität positiv beeinflusst. Letztere lässt sich manchmal am Verlauf paraneoplastischer Syndrome und/oder anhand von Tumormarkern abschätzen (8–10). Dieser Zusammenhang zwischen Veränderung der Tumorgrösse oder -aktivität und der Symptomlinderung ist aber bei einer erheblichen Minderheit von Patienten nicht direkt sichtbar. Symptome können sich bessern, auch wenn der Tumor nur stabil (stable disease) bleibt oder langsamer (slowering of progression) weiterwächst (11, 12). Dies kann durch eine bremsende Beeinflussung der Tumoraktivität erklärt werden. Andererseits kann auch trotz Reduktion der Tumorgrösse eine Verschlechterung der tumorassoziierten Symptome auftreten (13, 14).
Evaluation des Therapieerfolgs Moderne onkologische Therapiekonzepte evaluieren daher prospektiv sowohl Tumorgrösse (Response), Toxizität wie auch sogenannte Patient-Reported Outcomes (PRO). PRO umfassen die – direkt gemessene – Befindlichkeiten von Patienten, wie zum Beispiel Schmerzen, Angst, Appetitlosigkeit, frühes Sättigungsgefühl oder Atemnot (15). Auch erfassen PRO verschiedene Dimensionen der Funktionsfähigkeit, zum Beispiel körperliche oder psychische, sowie die Rolle in der Familie. Ein Beispiel ist eine multizentrische Studie bei 409 Patienten mit fortgeschrittenem Mesotheliom, bei welchen eine sogenannte aktive Symptomkontrolle (ASC) verglichen wurde mit ASC plus Chemotherapie. Palliation wurde als Symptomprävention, -kontrolle oder -verbesserung definiert, direkt gemessen mithilfe etablierter Symptom- und Funktionserfassungsinstrumente. Es ergaben sich keine Unterschiede zwischen den Behandlungsarten. Patienten mit zusätzlicher Chemotherapie haben möglicherweise eine etwas längere Lebenszeit (8,5 versus 7,6 Monate). Die volle Publikation dieser Studie inklusive statistischer Endauswertung ist ausstehend (16).
Plazeboeffekt Es kann argumentiert werden, dass ein Plazeboeffekt der Chemotherapie besteht. Dieser kann für Interventionen zur Symptomkontrolle von wenigen Prozent bis zu zirka 40 Prozent geschätzt werden, wie es kürzlich eine kanadische Gruppe zusammengefasst hat (17). Bei Patienten mit fortgeschrittenen, unheilbaren Krebserkrankungen werden aber (noch) selten plazebokontrollierte, doppelblinde Studien mit
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Tabelle 2: Faktoren im Entscheidungsprozess zur Chemotherapie in palliativer Intention
1. Ziele der Chemotherapie (die «Intentionen»)
■ Zeit bis zur Tumorprogression verlängern: Zeit gewinnen ■ Symptomprävention: Stabilisierung, Verlangsamung des Tumorwachstums ■ Bei symptomatischen Patienten: Symptomlinderung
2. Entscheidungshilfen für die Zielformulierung der Chemotherapie
Kommunikation und Qualität des Entscheidungsfindungsprozesses ■ Krankheitsverarbeitung und -verständnis ■ Prognose (Tage bis Wochen, viele Wochen bis Monate, viele Monate bis Jahre)
Priorisierung im Palliative-Care-Kontext ■ Symptome (multidimensional: körperlich, emotional, sozial, spirituell)
Die am meisten belastenden Symptome sind Schmerz, Müdigkeit, Nausea, Atemnot, Appetitlosigkeit, Schwindel, Angst und Depression ■ Entscheidungen und Vorbereitungen im Hinblick auf die letzten Lebensphasen
Patientenverfügungen in juristischer, finanzieller, organisatorischer Hinsicht (Sterbeort, Abdankung usw.); Abschied («finish business»), Vermächtnisarbeit, Trauerarbeit usw. ■ Aufbau eines Netzwerks zur palliativen Unterstützung Angehörigenunterstützung abschätzen und koordinieren («Stundenplan») Professionelle Hilfe koordinieren und Anpassung der Kontaktmöglichkeiten ■ Doppelrolle als Angehöriger (Helfer und Trauernder) wahrnehmen
Nebenwirkungsprofil der Chemotherapie ■ Abschätzung gemäss etablierten CTC-Toxizitäts-Kriterien ■ Systematische, an die subjektiven Patientenerfahrungen angepasste Informationen
Re-Evaluationsmöglichkeiten ■ Behandlungsteam vereinbaren (Hausärzte, Onkologen, Palliativmediziner, Pflege)
3. Chemotherapie zur Symptomlinderung
Erwartete Tumorkontrolle (sog. Response) ■ Alter, Performancestatus, Komorbidität, Organfunktionen usw. ■ Antineoplastische Vorbehandlungen, Tumorhistologie
Dokumentierter Zusammenhang von Symptomlinderung und Tumorresponse ■ Erwarteter Zeitraum bis zum Erreichen der Linderung
Qualität der bisherigen Symptomkontrolle ■ Diagnose und Beurteilung des Symptoms ■ Symptominteraktionen und Risikofaktoren (Kognition, Emotionen, Sucht usw.) ■ Medikamentencompliance (inkl. adäquate Route)
Chemotherapie durchgeführt. Ein Beispiel ist die kanadische Phase-III-Studie bei 731 Patienten mit nicht kleinzelligem Bronchuskarzinom, welches progredient war nach vorgängigen Chemotherapien. Dabei wurde der Tyrosinkinasehemmer Erlotinib mit Plazebo verglichen. Primärer Endpunkt war die Überlebensdauer, sekundäre Endpunkte waren die Zeit bis zur Verschlechterung dreier vordefinierter Symptome, welche mit etablierten Symptomerfassungsinstrumenten gemessen wurden.
Die Unterschiede fielen mit 4,9 versus 3,7 Monate für Husten, 4,7 versus 2,9 Monate für Atemnot und 2,8 versus 1,9 Monate für Schmerzen zugunsten des Tyrosinkinaseinhibitors aus, und die körperliche Funktion und Lebensqualität waren besser (18).
Klinischer Benefit Eine pragmatische, zielorientierte Zusammenfassung einiger wichtiger PRO ist der sogenannte klinische Benefit. Die eigent-
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liche Clinical Benefit Response (CBR) wurde für Patienten mit Pankreaskarzinom etabliert. Beurteilt wurde ein Ansprechen auf die Chemotherapie bezüglich subjektiver Schmerzen, Analgetikakonsum, Körpergewichtsverlauf und funktionellen Allgemeinzustands (sogenannter Performance-Status) (19). Die CBR wird für einige andere Tumorarten (z.B. Ösophaguskarzinom, nicht kleinzelliges Lungenkarzinom, Mesotheliom) verwendet (20), und es werden klinische Studien durchgeführt mit CBR als primärem Ziel/Endpunkt (21). Der Begriff klinischer Benefit wird zum Teil aber auch anders verwendet, nämlich um den erreichten Effekt auf die Tumorgrösse durch eine Chemotherapie zu beschreiben (Zusammenfassung von komplettem und teilweisem Tumorrückgang sowie oft auch stabiler Tumorerkrankung) (22). Diese Extrapolation ist manchmal möglich, insbesondere bei kompletter Response, sie erlaubt aber sehr häufig keinen direkten Rückschluss auf das Befinden des Patienten, da – wie bereits weiter oben andiskutiert – die Toxizität der Behandlung und die Lebensqualität nicht genügend erfasst werden. Für den Prozess der Entscheidung, ob eine Chemotherapie dem Patienten mit seinen individuellen tumorassoziierten Beschwerden helfen kann, sollten daher wenn möglich vor allem Resultate von Studien einbezogen werden, die direkt tumorassoziierte Beschwerden gemessen haben. Der Zeitraum, um das Ziel zu erreichen, sollte konkret formuliert sein. Für Patienten mit begrenzter Lebenserwartung kann es wichtig sein, nach wenigen Wochen eine subjektiv erlebbare Wirkung der Chemotherapie zu erfahren und nicht erst nach einigen Monaten einen möglicherweise statistisch signifikanten, aber klinisch wenig spürbaren geringen Benefit zu erleben (23).
Belastung durch Chemotherapie und deren Toxizität Chemotherapie in palliativer Intention kann medikamentenspezifische Nebenwirkungen oder Toxizität zur Folge haben. Die Messung von Toxizität anhand der CTC-Kriterien (Common Toxicity Criteria, aktuelle Version 3.0) ist weltweit etabliert; sie wird durch den betreuenden Onkologen, die Pflegefachperson oder den Studienkoordinator aufgrund einer vorgegebenen Liste erfasst. Patientenbefindlichkeiten werden hier nur indirekt dokumentiert, weil die Kriterien thematisch und vom Schweregrad her definiert sind. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass sich das subjektive Erleben vieler Patienten bezüglich Toxizität von den objektiven CTC-Kriterien unterscheidet (24). Patienten können zum Beispiel eine Neurotoxizität viel früher als in den Alltag eingreifend erleben, als dies das CTC-Kriterium belegt (25). Auch kann die subjektive Belastung durch eine febrile Neutropenie mit Hospitalisation oder wegen Durchfällen erheblich sein. Neben-
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wirkungen, die wenig offensichtlich, aber doch belastend sind, wie Müdigkeit (26) oder psychosoziale Beschwerden (inklusive Belastungen durch unrealistische Hoffnungen) (27), können zu wenig beachtet werden. Bei Patienten mit mehrwöchigen Therapien wird häufig nur die maximale, einmal erreichte Toxizität dokumentiert, nicht aber die – oft belastende – Dauer dieser Toxizität oder Toxizitäten niedrigeren Grades (28).
Vergleich der Chemotherapie mit der «Best Supportive Care» Zur Beurteilung, ob eine Chemotherapie in palliativer Intention tatsächlich im Sinne eines symptomatischen oder klinischen Benefits zur Palliation beiträgt, sollte eine kompetente onkologisch-palliativmedizinische Beurteilung und Behandlung der Hauptbeschwerden erfolgt sein. Sonst könnte argumentiert werden, dass die Summe der Interventionen – inklusive, aber nicht «alleine», der Chemotherapie – zum beobachteten Benefit beigetragen haben. In randomisierten Studien zu Chemotherapie versus keine Chemotherapie wird in diesem Zusammenhang häufig der meistens recht schlecht definierte Begriff «Best Supportive Care» verwendet. Falls die Chemotherapie mit Schmerzkontrolle als eines der Ziele eingesetzt wird, ist zum Beispiel wichtig, dass die Risikofaktoren für Schmerzexpression, wie kognitive Einschränkung, psychosoziale Belastung, Suchtverhalten, bewegungsabhängige/inzidentale Schmerzen oder neuropathische Ausprägungen, erfasst werden (29). Auch sollten in die Beurteilung die Medikamentencompliance einbezogen und Patientenhindernisse für die Opiattherapie beachtet werden. Eine kontrovers geführte Diskussion betrifft die Qualität der Beurteilung und die Interventionen, wenn von «Best Supportive Care» gesprochen wird. Von verschiedenen Interventionen ist bekannt, dass die Fachkompetenz auf die Ergebnisse einen Einfluss haben kann. Für die Chirurgie ist beispielsweise etabliert, dass die Anzahl und Häufigkeit der von einem Chirurgen(team) durchgeführten totalen mesorektalen Resektionen einen Einfluss auf die Rezidivrate hat. Ein weiteres Beispiel ist das Phänomen, dass bei komplexen radioonkologischen Therapien für Lungenkrebs die Kompetenz und Leistungsfähigkeit des radioonkologischen Teams die krebsspezifische Überlebensrate der Patienten beeinflusst. Es kann hypothetisiert werden, dass die spezifische palliativmedizinische Kompetenz des behandelnden Arztes und des Teams zur Behandlung in komplexen Situationen mit Symptominteraktionen auch eine Rolle für das Ergebnis bei «Best Supportive Care» spielen kann. Dies ist für die Patienten nicht von direkter Bedeutung, aber für die Beurteilung des Stellenwerts der Chemotherapie. Vergleichende Studien zu dieser Fragestellung liegen noch keine vor. Zurzeit kann die Qualität der Betreuung nur grob abgeschätzt werden durch das Vorhandensein einer (zertifizierten) Ausbildung, das Volumen der spezifischen (onkologisch-palliativmedizinischen) Tätigkeit sowie der Orientierung an Qualitätsstandards inklusive Einsatz multidisziplinärer Teams.
Kernaufgaben: Priorisierung im Palliative-Care-Kontext Bei Patienten mit fortgeschrittener, unheilbarer Krebskrankheit, welche von verschiedenen Beschwerden betroffen sind, ist es aus palliativmedizinischer Sicht wichtig, für einen ausgewogenen Entscheidungsprozess die verschiedenen Prioritäten systematisch und regelmässig zu erheben und zu diskutieren. Diese Prioritäten oder «Kernelemente der Palliativmedizin» umfassen die multidimensionale Symptomkontrolle, Entscheidungs- und Vorbereitungsprozesse bei begrenzter Lebenserwartung, palliative Versorgungsnetzwerke sowie die Unterstützung der Familienmitglieder (30, 31). Dies schliesst auch ein, den Zeitraum abzuschätzen, der noch bis zum Tod bleibt, und dies behutsam (Prognosegespräch ohne Schätzung von konkreten Zahlen, aber von Zeiträumen) mit dem Patienten und den Angehörigen zu besprechen. Auf diesen Grundlagen können schliesslich Erwartungen formuliert und Massnahmen eingeleitet werden.
Symptomkontrolle Die multidimensionale Symptomkontrolle bedeutet, dass nicht nur körperliche Symptome, wie Schmerz, Atemnot, Erbrechen, Nausea oder körperliche Schwäche beurteilt und behandelt werden, sondern auch emotionale, soziale und spirituelle/existenzielle Symptome durch aktive Diagnostik in die Beurteilung eingehen (Screeninginstrumente). Insbesondere emotionale Beschwerden werden häufig unterdiagnostiziert (32), ebenso Symptominteraktionen (z.B. «total pain») oder die oben erwähnten Risikofaktoren für Symptomexpression (33).
Entscheidungsprozesse Um Entscheidungsprozesse und die Vorbereitung auf das Lebensende zu begleiten, inklusive der Frage nach dem Einsatz einer lindernden Chemotherapie, ist eine angepasste Kommunikation zentral (34). Diese umfasst oft Aspekte des Überbringens schlechter Neuigkeiten (breaking bad news) (35), den sogenannten doppelten Weg (auf das Schlimmste vorbereiten, auf das Beste hoffen) (36), die aktive Vorbereitung auf das Lebensende, sogenanntes «finish business» (mit z.B. Vermächtnisarbeit, Thematisierung von noch zu erreichenden Zielen und Träumen in der begrenzten Lebenszeit) und schliesslich das Aushandeln von Prioritäten. Diese können individuell sehr unterschiedlich sein. Die Betonung kann beispielsweise auf einer Verlängerung der Lebenszeit (für konkrete Ziele), der Linderung belastender Symptome, der Minimierung der Belastung durch Diagnostik, Arzt- und Spitalbesuche, mehr Zeit für Angehörige oder Ruhe für sich selbst liegen.
Versorgungsnetzwerk und Angehörige Das Netzwerk palliativer Versorgung sollte wenn möglich konkret und wiederholt auf Tragfähigkeit und Belastungen analysiert werden, insbesondere die Doppelbelastung von Angehörigen ist aktiv zu thematisieren. Angehörige brauchen Zeit und Raum, um sich als trauernde Personen auf den Tod des Ange-
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hörigen vorzubereiten (Trauerarbeit) und die wertvoll gewordene Zeit in der Beziehung zu leben. Gleichzeitig übernehmen Angehörige aber häufig viele Rollen, wie Advokat und Organisator für den Patienten oder Pflegeperson und Betreuer rund um die Uhr. In vielen Patientensituationen, die keine spezialisierte Behandlung durch eine integrierte Onkologie und Palliativmedizin benötigen (dies ist aber noch wenig definiert), können viele Aspekte dieser Kernaufgaben auch von entsprechend ausgebildeten und erfahrenen Einzelpersonen wie Onkologen, Hausärzten, Spitex und so weiter geleistet werden.
Entscheidungsprozesse zur Chemotherapie in palliativer Intention Bei Patienten mit fortgeschrittener, unheilbarer Krebserkrankung wird die Frage nach Chemotherapie in palliativer Intention implizit oder explizit in Anbetracht der Kernaufgaben der (onkologischen) Palliativmedizin gestellt (Tabelle 2). Es können so unter Umständen andere Prioritäten dominanter sein als eine fokussierte Symptomkontrolle durch die Chemotherapie, wie zum Beispiel Zeit mit der Familie oder sich selbst, um an Trauerprozessen und am Abschied zu arbeiten. Andererseits kann aber auch im Palliative-Care-Kontext eine Lebensverlängerung ein klares Ziel sein. Allerdings ist hier sehr wichtig, den kognitiven Zustand des Patienten, die emotionale Situation von Patient und Angehörigen und auch kollusionale Aspekte der Familie zu berücksichtigen.
Zusammenfassung Die Chemotherapie in palliativer Intention hat einen etablierten Stellenwert in der onkologischen Palliativmedizin. Sie wird möglicherweise in Palliative-Care-Situationen für die (ergän-
zende) Symptomkontrolle zu wenig genutzt. Andererseits ist
es wahrscheinlich, dass der Stellenwert der Chemotherapie
(Hoffnungssymbol) überbewertet wird, wenn eine breite Prio-
risierungsarbeit mit Fokus auf die vier Kernelemente ungenü-
gend erfolgt ist. Im klinischen Entscheidungsprozess ist eine
strukturierte, multidimensionale Erfassung des Patienten
wichtig mit dem Setzen von Prioritäten unter Einbezug aller
vier Kernelemente der Palliative Care. Falls eine Chemothera-
pie in palliativer Intention eingesetzt wird, sollten klare Stan-
dards der Symptomkontrolle vor der Chemotherapie sowie Er-
gebniskriterien, inklusive Zeiträume bis zum Erreichen dersel-
ben, definiert werden.
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Dank: Ich danke Frau Nicole Schenk, Projektmanagerin der onkologischen Palliativmedizin am Kantonsspital St. Gallen, für die editoriale Unterstützung, Herrn Daniel Kauffmann, Bibliothekar, für die prompte Vermittlung vieler Artikel, und den Kollegen Dr. med. Bruno Späti, Dr. med. Dieter Köberle und Dr. med. Aurelius Omlin für die kritisch-kollegial-konstruktive Durchsicht des Manuskriptentwurfs. Wir danken der Familie des Verstorbenen Josef Raimann ganz herzlich für die finanzielle Unterstützung durch eine Spende für diese und weitere Arbeiten zum Wohle der Patienten mit fortgeschrittenen Krebskrankheiten.
Dr. med. Florian Strasser Leiter Onkologische Palliativmedizin, Oberarzt mbF
Fachbereich Onkologie Departement Innere Medizin & Palliativzentrum
Kantonsspital St. Gallen Rorschacherstrasse 95, 9007 St. Gallen, Tel. 071-494 11 11
E-Mail: florian.strasser@kssg.ch
Interessenkonflikte: keine Literaturliste auf Anfrage beim Autor oder beim Verlag erhältlich: info@rosenfluh.ch
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