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Strukturwandel im Fussballsport — was die ambulante Versorgung von Innovationen im Fussball lernen kann
Im Juni hat die EM in der Schweiz und Österreich stattgefunden. Weit im Voraus war der Fussball eines der bestimmenden Themen in den Medien und den Diskussionsrunden.
Im Fahrwasser dieses Ereignisses lohnt es sich, den Fussball, genauer gesagt die Entwicklung in den letzten Jahren, näher zu betrachten. Über die EM hinaus offenbart er für die ambulante Versorgung interessante Einblicke, und auf den zweiten Blick sind deutlich sichtbare Gemeinsamkeiten für zukünftige Entwicklungen zu erkennen.
Wer hätte sich zu Zeiten von Ernst Happel, Sepp Herberger oder Udo Lattek vorstellen können, dass in der Zeitung solche Zitate zu lesen sind: «… es ist eine (neue) Welt, in der ein Trainer kein Trainer mehr ist, sondern ein Coach» (1) oder «Die Stärke eines erfolgreichen Trainers ist es zu delegieren»? (2) Gleichzeitig findet man ein paar Ausgaben später einen Artikel mit der Überschrift «Gläserne Profis», in dem berichtet wird, wie der italienische Sportwissenschaftler Riccardo Proiette mithilfe von Elektroden von den Fussballprofis des FC Bayern München «alle wichtigen Funktionsdaten des Kreislaufs, des hormonellen Systems und des zentralen Nervensystems der Spieler auf seinen Laptop» überträgt (3), damit er anhand dieser für jeden Spieler ein individuelles Trainingsprogramm erstellen kann.
Hier schliesst sich der Kreislauf der Gemeinsamkeiten zwischen den Innovationen im Fussballsport und in der ambu-
lanten Versorgung. Im jüngsten Gutachten des deutschen Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen ist zu lesen, dass in der Zukunft verstärkt multidisziplinäre Teams aus dem Gesundheits- und Sozialwesen in der primären Grundversorgung eingesetzt werden (4), was zu einer grundlegenden Veränderung der bisherigen Versorgungsstrukturen führen wird. Einhergehend mit dieser strukturellen Veränderung werden der Einsatz und die Standardisierung der Informations- und Datenverarbeitungstechnologie immer notwendiger und wird sich die Versorgung weiterentwickeln (5).
Was sind aber nun die konkreten Innovationen im Fussballsport?
Trainerteams – Betreuerstab Gemäss einer «Kicker»-Erhebung aus dem Jahre 2007 sind 137 Spezialisten in den 18 deutschen Bundesligateams im Einsatz (6). Die fortschrittlichsten Methoden finden sich bei einem aktuellen Aufsteiger in die 1. Bundesliga, dem TSG 1899 Hoffenheim. Dem Trainer Ralf Rangnick stehen insgesamt sieben weitere Spezialisten zur Verfügung, unter anderen der ehemalige Hockey-Bundestrainer Bernhard Peters. Aber auch der FC Bayern München hat nach der Verpflichtung von Jürgen Klinsmann seinen Trainerstab kräftig vergrössert. So unterstützen den ehemaligen Bundestrainer, neben dem Co-Trainer Martin Vasquez, mit Oliver Schmidtlein, Thomas Wilhelmi, Darcy Norman und Marcelo Martins gleich vier ausgewiesene Fitnessprofis in der täglichen Trainingsarbeit. Mit
Michael Henke wurde noch ein ausgewiesener Fachmann für die Spielanalytik und -beobachtung eingestellt, in dessen Aufgabenbereich unter anderen die Analyse der täglichen Trainingseinheiten an der Säbener Strasse fällt. Komplettiert wird der Betreuerstab durch Philipp Laux, in der Position des Sportpsychologen und Fortbildungsleiters. Zu seinem Aufgabenbereich zählen die individuelle Leistungsoptimierung mit den Bereichen Persönlichkeitsschulung, Stressbewältigung, Konzentrationsvermögen und die generelle Fortbildung der Spieler (7, 8).
Das Ziel dieser Ergänzungen ist, die Individualisierung des Trainingsbetriebs voranzutreiben, welche auf der Erkenntnis beruht, dass eine Person allein für eine zukunftsweisende Entwicklung des Spielerpotenzials nicht mehr ausreichend ist. Oder in den Worten des ehemaligen FC-Schalke-04-Trainers Mirko Slomka: «Somit können wir eine noch bessere Betreuung der Profis gewährleisten, auf ihre individuellen Bedürfnisse, Stärken und Schwächen noch besser eingehen.» (6)
Information and Communication Technology (ICT) im Fussball Neben der TSG 1899 Hoffenheim und dem FC Bayern setzen mittlerweile weitere Bundesligaclubs vermehrt die ICT für den Spiel- und Trainingsbetrieb ein. So wurde bereits 2004 die BayArena in Leverkusen mit fest installierten Bewegungssensoren ausgestattet. Mithilfe einer ausgefeilten Software wird eine komplette Bewegungsanalyse aller Spieler in 2-D-Animationsformat möglich, die
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jederzeit das gesamte Spielfeld erfasst und damit unabhängig vom Spielgeschehen wichtige Informationen an den Trainerstab liefert (9). Noch einen Schritt weiter geht die AC Milan, welcher ein bioanalytisches Institut samt komplexer ICT-Infrastruktur, das «Milan Lab», geschaffen hat. Im Milan Lab wird mittlerweile eine «Scorecard» mit einer 10-stufigen Skala über jeden Spieler erstellt. Im Bereich von 10 bis 8 gilt der Spieler als «topfit», fällt der Wert allerdings unter 4,7, sollte er pausieren. Durch eine soeben gestartete Kooperation mit Microsoft ist die Scorecard nun auch über ein Handy abrufbar (10).
Sicherlich, der Trainer oder nun besser gesagt der Coach ist letztlich verantwortlich für die Aufstellung und die taktische Einstellung der Spieler. Die ICT unterstützt das Team aber bei wichtigen Entscheidungen. «Wir nutzen die Videoanalyse insbesondere nach den Spielen als Lerninstrument. Es werden Spielszenen wie Blaupausen übernommen, und daraus entwickeln wir Übungs- und Spielformen für das Training. Videoanalysen sind nicht dazu da, aufzuzeigen, wer in welcher Situation Schuld an einem Gegentor hat. Es geht darum, systematische Dinge zu erfassen», hält Ralf Rangnick in einem Interview fest (11).
Ambulante Versorgung kann vom Fussball lernen Nun «Hand aufs Herz», wären solche Innovationen für die ambulante Versorgung nicht auch angebracht? Kann ein Arzt die mittlerweile hochkomplexe Betreuung, gerade chronisch Kranker, noch
alleine bewältigen, oder wäre nicht ein Behandlungsteam, bestehend aus einem Coach (Arzt) in enger Zusammenarbeit mit weiteren Disziplinen, zum Beispiel einem Gesundheitspsychologen, zur individuellen Gesundheitsoptimierung sinnvoll? Wäre nicht auch eine Scorecard für diese Patientengruppe hilfreich, die Auskunft über den aktuellen Gesundheitsstatus gibt und automatisch eine Mitteilung generiert, wenn sich bestimmte Werte verschlechtern, idealerweise gleich mit einer Benachrichtigung des Patienten und des Coachs auf das Natel? – Liesse sich so nicht eine bessere Betreuung der Patienten gewährleisten, welche auf ihre individuellen Bedürfnisse, Stärken und Schwächen noch besser eingeht?
Zum Schluss noch eine Anmerkung. Die geschilderten Entwicklungen im Fussball sind nicht besonders revolutionär. In England und Italien werden sie in vielen Mannschafen schon seit Jahren erfolgreich angewandt. Vielleicht ein Grund, warum im diesjährigen Champions-League-Finale mit Manchester und Chelsea gleich zwei englische Mannschaften aufeinander trafen und die AC Milan ein Jahr zuvor die Titel gewonnen hat!?
Gerade in England erstrecken sich diese
Innovationen nicht nur auf den Fussball,
wie einige eindrückliche Projektpräsen-
tationen am diesjährigen International
Forum on Quality and Safety in Health
Care in Paris gezeigt haben (12).
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1. Kramer, J. 2006: Im Fussball-Labor, in: Der Spiegel, 35, S. 122. 2. Neudecker, M. 2008: Sie sind Roboter, in: www.11Freunde.de. 3. o. V. 2007: Gläserne Profis, in: Der Spiegel, 28, S. 131. 4. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im
Gesundheitswesen: Kooperation und Verantwortung — Voraussetzung einer zielorientierten Gesundheitsversorgung, Gutachten 2007, Bonn. 5. Diverse Beiträge in: Oggier, W., Walter, A., Reichlin, S., Egli, M. (Hrsg.) (2008): Gesundheitswesen Schweiz im Umbruch, Trend Care AG, Sursee. 6. o. V. (2007): Muskelkater existieren nicht mehr, in: www.faz.net. 7. o. V. (2008): Zwei alte Hasen und zwei Neuzugänge, in: www.fcb.de 8. o. V. (2008): Klinsmann holt Henke zurück zum FC Bayern, in: www.fcb.de 9. Urlbauer, J. (2005): Neue Dimension in der Spielanalyse, in: BDFL-Jounral, 29. S. 35. 10. Dörin. K. (2008): Der eHealth-Kick, in: E-Health-Com, 3, S. 14—20. 11. o. V. (2008): «Dann gute Nacht, deutscher Fussball» Interview mit Ralf Rangnick, in: Kicker, 22 Mai 2008, S. 14—15. 12. http://internationalforum.bmj.com
Oliver Strehle
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