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FOEDERATIO MEDICORUM PRACTICORUM FOEDERATIO MEDICARUM PRACTICARUM
Kosten, Tarife und Einkommen — wie hängt das zusammen?
Die heiklen Zusammenhänge aus der Sicht der Krankenkassen am Jahreskongress der FMP am 5. Juni in Zürich
Der neue Direktor der Santésuisse, Stefan Kaufmann, liess in seinem Referat Verständnis für die Situation der Ärzte erkennen, sah in den Wirtschaftlichkeitsprüfungen nur eine notwendige Präventivmassnahme und glaubte sogar, in der Vertragsfreiheit nicht nur Chancen für die Versicherten, sondern auch für die Ärzteschaft zu erkennen.
HALID BAS
Der Tarmed ist zurzeit eine Realität, eine komplizierte Realität mit der unerhörten Regelungsdichte von mehr als 4500 Tarifpositionen, von denen allerdings nur knapp 140 rund 95 Prozent der in Rechnung gestellten Positionen ausmachen. Dieses Anrechnungsmodell wurde seinerzeit von den Ärzten angenommen, wie Stefan Kaufmann einleitend feststellte, und als Alternativen kämen nur ein Zeittarif oder Pauschalen infrage. Zentrales Element war und ist auch die sogenannte Kostenneutralität, ein Mechanismus, der beim Anstieg der Kosten zu einem Absinken des Taxpunktwerts (TPW) führt.
kosten einer Referenzperiode plus Kostenkorridor (ein Korrekturfaktor) und den Istkosten während einer Messperiode ein Gleichgewicht her. Stimmen Soll- und Istkosten überein, bleibt der TPW unverändert, liegen die Istkosten über den Sollkosten, wird ein neuer, tieferer TPW festgelegt. Wie Kaufmann erläuterte, beruht dieser Mechanismus auf der zentralen Annahme, dass die Anzahl der in Rechnung gestellten Taxpunkte konstant bleibt, also die Menge der vergangenen Istkostenperiode genau der
einer Mengenausweitung kommt. «Das allgemeine Bauchgefühl sagt einem, dass diese Annahme realitätsfremd ist», meinte Kaufmann, «frei praktizierende Ärzte verfolgen ein Einkommensziel und können aufgrund ihres Informationsvorsprungs die Nachfrage lenken. Dementsprechend wird eine Preissenkung mit einer Mengenerhöhung kompensiert.» Zum Beweis, dass dieses allgemeine Bauchgefühl nicht stimme, zog Kaufmann dann das Diagramm der Kosten-
«Mindestens 95 Prozent der Ärzte arbeiten qualitativ einwandfrei und wirtschaftlich.»
Eine Taxpunktabwertung führt nicht zu einer Mengenausweitung Diese Leistungs- und Kostenvereinbarung (LeiKoV) stellt zwischen den Soll-
Menge der zukünftigen Periode entspricht. Ein neu bestimmter TPW kann die ihm zugedachte Kostenkontrollfunktion somit nur erfüllen, wenn es nicht zu
und TPW-Entwicklung pro Kopf der Jahre 2004 bis 2006 heran (Abbildung 1). Das Beispiel der Ärzte im Kanton Bern zeigt, dass die Senkung des TPW um
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Veränderung Kosten (Kosten = Bruttoleistungen minus Medikamente nach Behandlungsdatum)
Korrelationskoeffizient = 0,5 8%
6%
4%
2% SZ
0%
ZG GR
–2%
LU ZH
–4%
SG
BL GL
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AR
–6% BS
–8% -8%
-6%
-4%
AI
-2% 0% 2% Veränderung TPW
VD TI JU
4% 6% 8%
Abbildung 1: Korrelation zwischen Taxpunktwert-(TPW-) und Pro-Kopf-Kosten-Entwicklung für die Jahre 2004 bis 2006
2 Prozent tatsächlich zu einer Kostenreduktion von 2 Prozent führte, die Menge der Taxpunkte also mehr oder weniger konstant blieb. Anders jedoch im Kanton Zürich: Hier wurde der TPW um 6 Prozent reduziert, die Kosten pro Kopf nahmen aber bloss um 2 Prozent ab. Die Zürcher Ärzte haben somit die Menge um 4 Prozent ausgeweitet und nicht konstant gehalten. Aus den streuenden Werten der einzelnen Kantone lässt sich aber doch eine positive Korrelation zwischen der Veränderung des TPW und der Veränderung der Pro-Kopf-Kosten eruieren (die schräg verlaufende Gerade im Diagramm). «Das allgemeine Bauchgefühl kann somit für die Periode 2004 bis 2006 nicht bestätigt werden», stellte Kaufmann fest. Ohnehin soll der jeweils gemäss LeiKoV neu festgelegte TPW keine strikte Kostenneutralität herstellen, denn er kann auch bestimmte Entwicklungen als Korrekturfaktoren berücksichtigen, beispielsweise demografische Veränderungen, den medizinisch-technischen Fortschritt, neue
Pflichtleistungen, Veränderung in der Angebots- und Nachfragestruktur sowie neue gesetzliche Rahmenbedingungen.
Wirtschaftlichkeitsverfahren sollen präventiv wirken Nach diesen allgemeinen Betrachtungen zur Kostensteuerung wandte sich Stefan Kaufmann jenem Problemkreis zu, der in diesem Zusammenhang am meisten Ängste, Wut und Diskussionen auslöst, der Wirtschaftlichkeitsprüfung einzelner frei praktizierender Ärzte. Wirtschaftlichkeitsverfahren haben mehrere Ziele. Zunächst eine präventive Zielsetzung: ■ unwirtschaftliches Verhalten soll erst
gar nicht entstehen ■ den Prinzipien von Wirksamkeit,
Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit soll im Sinne des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) nachgelebt werden ■ das gemeinsame Interesse von Ärzteschaft und Krankenversicherern soll gestützt werden.
«Keine medizinisch
angebrachte Behandlung
muss wegen Wirt-
schaftlichkeitsverfahren
verweigert werden.»
Weiter sollen Wirtschaftlichkeitsverfahren zu Verhaltensänderungen bei unwirtschaftlich arbeitenden Ärzten führen: Sie sollen lernen, wirtschaftlich zu arbeiten. Die vorgesehenen Sanktionen müssen dabei verhältnismässig sein, was eine genaue Anzeige und Begründung erfordert. Schliesslich sehen die Sanktionen auch Rückforderungen vor. Der Santésuisse-Direktor nahm sich sichtlich Zeit und Mühe, die Wirtschaftlichkeitsverfahren in einem guten Licht erscheinen zu lassen. So werde die Kostenstatistik um Alter und Geschlecht der Patienten, Kantonszugehörigkeit sowie Facharztgruppe bereinigt. Statistisch auffällige Ärzte (die berüchtigten 30% über dem Fachgruppen-Durchschnitt) erhielten die Möglichkeit, Praxisbesonderheiten zu begründen, und diese Begründungen würden in der Regel akzeptiert. «Dann ist die Diskussion beendet», versicherte Kaufmann. Unter den möglichen Praxisbesonderheiten nannte er hohes Durchschnittsalter der Patienten, viele Pflegeheimpatienten, viele chronisch Kranke, viele HIV- oder Drogenpatienten, viele psychisch Kranke sowie Spezialisierungen, etwa ambulante Operationen oder Chemotherapien. Kaufmann nahm auch die seit 2004 eingesetzte ANOVA-Methode zur Beurteilung der Praxiswirtschaftlichkeit in Schutz. Sie sei vom Bundesverwaltungsgericht abgesegnet und schaffe mit der Ausdehnung der Datenbasis auf die ganze Schweiz und der Berücksichtigung von Patientenalter und -geschlecht mehr Transparenz.
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2004 2005
Frei praktizierende Ärzte
17 228
Fälle mit mehr als 30% über den
Durchschnittskosten
2297
13,33%
Warnbriefe 766
4,45%
Gespräche
Rückforderungen 53 82
0,31%
0,48%
Frei praktizierende Ärzte
Fälle mit mehr als 30% über den
Durchschnittskosten
Warnbriefe
17 599
2599 693
14,77% Abbildung 2: Formelle Massnahmen zu den Wirtschaftlichkeitsprüfungen in den Jahren 2004 und 2005
3,94%
Gespräche
Rückforderungen
135 144
0,77%
0,82%
Ein Blick in die Statistik der formellen Massnahmen zur Wirtschaftlichkeitsprüfung in den Jahren 2004 und 2005 sollte die tatsächlichen Verhältnisse bei den Praxisüberprüfungen ins zahlen-
und einer Einschränkung der Therapiefreiheit sei damit unbegründet, meinte Stefan Kaufmann. Neuere Zahlen konnte der Santésuisse-Direktor «noch nicht» vorlegen. Sie wären interessant, um
«Die Qualität der Behandlung — auch wenn sie teuer ist — wird nicht tangiert.»
Krankheiten. Ohnehin arbeite Santésuisse «permanent» an der Anpassung und Verbesserung der Wirtschaftlichkeitsüberprüfungen. Der SantésuisseDirektor wiederholte die Botschaft der Krankenversicherer: «Keine medizinisch angebrachte Behandlung muss wegen Wirtschaftlichkeitsverfahren verweigert werden. Die Qualität der Behandlung – auch wenn sie teuer ist – wird nicht tangiert.»
mässige Lot rücken (Abbildung 2). Aus Sicht der Santésuisse ist alles im Rahmen: «Mindestens 95 Prozent der Ärzte arbeiten qualitativ einwandfrei und wirtschaftlich», so Kaufmann – wobei die Qualität offensichtlich als konform mit der Wirtschaftlichkeitsstatistik definiert wird. Warnbriefe sind eher selten, direkte Gespräche die Ausnahme, und zu Rückforderungen komme es nur in wenigen Fällen, in denen Ärzte ihre hohen Kosten weder begründen können noch wollen. Die Angst vor Verfahren
einen ansteigenden Trend bei der Häufigkeit von Wirtschaftlichkeitsverfahren und bei den Rückforderungen, wie er in den Zahlen der Jahre 2004 und 2005 zu erkennen ist, zu bestätigen oder zu widerlegen. «Insgesamt hat die Wirtschaftlichkeitskontrolle einen präventiven Effekt – die Zahlen beweisen dies», gab sich Kaufmann überzeugt: «Sie zielt nur auf schwarze Schafe.» Um das Verfahren zu verbessern, bräuchten die Krankenversicherer jedoch mehr Angaben der Leistungserbringer zu den behandelten
Vertragsfreiheit als Chance für Patienten und Ärzte? Zum Schluss rührte der SantésuisseDirektor – offenbar unbeeindruckt vom nur fünf Tage zurückliegenden Abstimmungsergebnis zum Gesundheitsartikel – recht tüchtig die Trommel für die Vertragsfreiheit. Sie stelle für die Versicherten gleich aus mehreren Gründen eine Chance dar: ■ Die Krankenversicherer werden genau
prüfen, welche Ärzte bei welchen Versichertensegmenten «beliebt» sind:
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«Auch wir sind der Meinung, dass der Tarmed für Grundversorger ungerecht ist.»
«Die einen mögen einen Arzt, der geduldig zuhört, die anderen wollen rasch ein Medikament verschrieben bekommen.» ■ Nicht mehr die Jagd nach guten Risiken, sondern ein attraktives Leistungserbringerportfolio nach transparenten Kriterien wird zum Verkaufsmittel der Krankenversicherer. Mögliche Auswahlkriterien wären unter anderem Preise, Behandlungserfolg, Kundenfreundlichkeit, Praxisinfrastruktur.
Auch die Ärzte sollten angesichts der Furcht vor dem Verlust des gesicherten Einkommens und des Wegfalls der freien Arztwahl ihre Chance nicht vergessen: ■ Möglichkeit zum Aushandeln besse-
rer Tarife für gute und begehrte Ärzte in Randregionen ■ Möglichkeit, in einer lukrativen Zusatzversicherung «Alle Ärzte» zu verdienen ■ Man wäre nicht mehr in allen Fällen an einen garantierten, starren Tarif gebunden.
Bei den Grundversorgern müsste auf- und anderswo müsste abgewertet werden In der engagierten Diskussion kamen individuelle, aber auch allgemein empfundene Probleme zur Sprache. So sei der
Austausch zwischen praktizierendem Arzt und den Krankenversicherern im direkten Kontakt eigentlich gut, dennoch stünden in den Medien die Ärzte ständig am Pranger, ein Zerrbild, an dem die Krankenkassenvertreter gern mitarbeiten. Kassen verlangten von den Ärzten immer grössere Transparenz, legten aber ihre eigenen Zahlen nicht auf den Tisch, so bleibe zum Beispiel unbekannt, welche Kosten die Wirtschaftlichkeitsprüfungen verursachen, die – wie Abbildung 2 zeigt – nur in 0,8 Prozent zu einer Rückforderung führen. Dem Unmut vieler Grundversorger brachte Stefan Kaufmann viel Verständnis entgegen. Auch ihm falle an der Ärzteschaft als Ganzes auf, dass der Tonfall in Streitpunkten oft rüde sei und kein Interesse an einem Ausgleich der ungleichen Verteilung der Einkommen unter den Ärzten bestehe. Diese Diskussion sei aber innerhalb der FMH zu führen: «Ihre Klagen müssen Sie dort deponieren.» Und: «Auch wir sind der Meinung, dass der Tarmed für Grundversorger ungerecht ist, und bringen dies bei den Tarmed-Suisse-Gesprächen zur Sprache.» Tarmed bevorzuge die Spezialisten, die besser organisiert seien, und die Vorgabe der Kostenneutralität habe den grossen Unterschied zementiert. Allerdings habe die LeiKoV auch ein Konvergenzziel, was bedeute, dass bei den Grundversorgern aufgewertet,
Präsident Dr. med. Hans-Ulrich Bürke Altstetterstrasse 150 8048 Zürich Tel. 044-431 77 87
Vizepräsident Dr. méd. Guy Evequoz Rue du Mont 16 1958 St-Léonard Tél. 027-203 41 41
Quästor Dr. med. Thomas Zünd Bahnstrasse 16 Postfach 130 8603 Schwerzenbach Tel. 044-825 36 66
Vorstandsmitglied Dr. med. Rudolf Hohendahl Zürcherstrasse 65 8406 Winterthur Tel. 052-203 04 21
FMP im Internet: www.fmp-net.ch
anderswo aber abgewertet werden müsse.
Santésuisse habe dazu ein eigenes Pro-
jekt, das sie auch zusammen mit den
Kantonen vorantreiben wolle.
Dass die LeiKoV zwar bei den ambulan-
ten Ärzten greife, jedoch nicht bei Spitä-
lern und Medikamenten, sei ein «Trauer-
spiel», wie Kaufmann einräumte. Schuld
seien hier aber die Kantone, die keine
Ausdehnung auf diese Kostenquellen
wollten. Falls die Einführung der Entgel-
tung nach DRG (diagnosis related
groups) im Spitalbereich zu einer Verla-
gerung der Kosten hin zum ambulanten
Ärztebereich führen sollte, würde Santé-
suisse rasch reagieren. «Die Pflicht zur
Wirtschaftlichkeit gilt nicht nur für
ambulante Ärzte, sondern auch für
Spitäler.»
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Halid Bas
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