Transkript
FORTBILDUNG
Harninkontinenz: Frauen sind öfter betroffen, Männer verschweigen sie häufiger
Inkontinenzformen und therapeutische Möglichkeiten
Während Frauen schon in jüngeren Jahren hin und
wieder unfreiwillig Urin verlieren können, treten die
Lower urinary tract symptoms, also Symptome des
unteren Harntrakts, kurz LUTS genannt, bei Männern
meist erst im letzten Lebensdrittel auf. Um die
bestmögliche Therapie zu gewährleisten, empfiehlt
sich jeweils eine sorgfältige Evaluation des Krank-
heitsbildes.
CLAUDIA REINKE
Frauen haben ein grösseres Inkontinenzrisiko als Männer und sind etwa zwei- bis viermal so häufig betroffen; dies liegt sowohl an der besonderen Anatomie des weiblichen Beckens als auch an den Belastungen, denen Muskulatur und Bindegewebe durch Schwangerschaften und Geburten ausgesetzt sind. Mit zunehmendem Alter erhöht sich die Anfälligkeit noch beträchtlich, da Tonus und Funktionsfähigkeit der Muskelfasern sowie die Elastizität des Bindegewebes weiter nachlassen (1). Laut Schätzungen sind etwa zwei Drittel aller Frauen mehr oder weniger harninkontinent, wobei Auftreten und Schweregrad von den jeweils zugrunde liegenden Funktionsstörungen der Blase abhängen. Die Prävalenz der weiblichen Harninkontinenz wird vielfach unterschätzt, da es sich um ein immer noch stark tabuisiertes Leiden handelt und die meisten Betroffenen beim Arzt nicht von sich aus über solche Beschwerden reden – nur eine von vier an Inkontinenz leidenden Frauen sucht aktiv ärztliche Hilfe (2). Blasenfunktionsstörungen mit oder ohne Harninkontinenz treten bei Männern in der Regel erst in höherem Alter auf; in der Altersgruppe der 75-Jährigen weisen sie dann den Frauen vergleichbare Prävalenzraten auf. Etwa 30 Prozent aller 50- bis 80-Jährigen leiden an mässigen bis schwerwiegenden LUTSSymptomen mit irritativen und obstruktiven Beschwerden, die meist durch eine altersbedingte benigne Prostatahyperplasie hervorgerufen werden. Häufig finden sich beim gleichen
Patienten auch Symptome einer hyperaktiven Blase (overactive bladder, OAB) mit plötzlichem Harndrang, häufigen Miktionen, mit und ohne Dranginkontinenz (3).
Symptome verweisen auf die Inkontinenzform Dem Krankheitsbild der Harninkontinenz können unterschiedliche anatomische oder neurologische Störungen zugrunde liegen, deren charakteristische Symptome auf die möglicherweise vorliegende Inkontinenzform schliessen lassen. Bei Frauen werden vor allem die Stressinkontinenz sowie die Dranginkontinenz und/oder eine Mischform dieser beiden beobachtet. Mehrheitlich bei Männern verbreitet sind die Dranginkontinenz sowie die obstruktionsbedingte Überlaufinkontinenz. Stressinkontinenz: Bei dieser Form der Harninkontinenz kommt es nach plötzlicher Anspannung der Bauchmuskulatur (z.B. bei körperlicher Anstrengung wie Heben oder Tragen sowie bei Husten, Niesen oder Lachen) und ohne bestehenden Harndrang zu einem tropfenweisen unwillkürlichen Urinverlust, der sofort wieder willentlich kontrolliert werden kann.
Merksätze
■ Bei Frauen werden vor allem die Stressinkontinenz sowie die Dranginkontinenz und/oder eine Mischform dieser beiden beobachtet. Mehrheitlich bei Männern verbreitet sind die Dranginkontinenz sowie die obstruktionsbedingte Überlaufinkontinenz.
■ Eine Harninkontinenz kann auch als Nebenwirkung verschiedener Medikamente auftreten.
■ Zur Basisdiagnostik gehört auch ein Miktionsprotokoll. ■ In der Behandlung der Stressinkontinenz steht die Stärkung des
urethralen Schliessmuskelsystems durch Beckenbodentraining an erster Stelle.
■ Benigne Prostatahypertrophie und hyperaktive Blase sind Krankheitsbilder, die offensichtlich zusammengehören. Wo nötig, sollten daher beide auch entsprechend behandelt werden.
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HARNINKONTINENZ: FRAUEN SIND ÖFTER BETROFFEN, MÄNNER VERSCHWEIGEN SIE HÄUFIGER
Tabelle 1: Medikamente mit möglichem Einfluss auf die Kontinenz (nach [1])
Können Stressinkontinenz begünstigen ■ Benzodiazepine ■ ACE-Hemmer ■ Alphablocker ■ Muskelrelaxanzien
Tabelle 2: Medizinischer Status und mögliche Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit der Harnblase (modifiziert nach [2])
Beeinträchtigungen der neuromuskulären Funktionen ■ Geburtenhäufigkeit und vaginale Entbindungen ■ Chirurgische Eingriffe im Beckenbereich ■ Prostataerkrankungen
Können Dranginkontinenz begünstigen ■ Cholinergika und Cholinesterase-Hemmer ■ Betablocker ■ Digitalis ■ Prostaglandin E1/E2
Können zu unvollständiger Blasenentleerung führen (Gefahr der Überlaufinkontinenz) ■ Beta-Sympathomimetika ■ Tri- und tetrazyklische Antidepressiva ■ Neuroleptika ■ Anticholinergika ■ Antiemetika ■ Phenytoin
Verantwortlich für diese Form der Inkontinenz, die insbesondere Frauen (<50 J.) betrifft, ist eine Funktionsschwäche des Schliessmuskels beziehungsweise der Beckenbodenmuskulatur. Dranginkontinenz: Charakteristikum der Dranginkontinenz ist der plötzlich auftretende Harndrang, der so stark sein kann, dass es bereits auf dem Weg zur Toilette zum unfreiwilligen Verlust grösserer Urinmengen kommen kann. Ursache ist eine hyperaktive Blase (overactive bladder OAB), die neben der Drangsymptomatik durch häufiges, auch nächtliches Wasserlassen gekennzeichnet ist. Etwa 50 Prozent aller Patienten mit hyperaktiver Blase leiden unter Dranginkontinenzepisoden. Bei Männern ist die Dranginkontinenz die häufigste Inkontinenzform. OAB-Symptome werden bei Frauen erst mit zunehmendem Alter (≥50 J.) vermehrt beobachtet; bei vorbestehender Stressinkontinenz kann es daher häufiger zur Mischinkontinenz kommen. Besondere Bedeutung erhält die Dranginkontinenz im fortgeschrittenen Alter: Sie führt nicht nur zu einer zunehmenden Beeinträchtigung der Lebensqualität, sondern ist – vor allem bei nächtlichen Drangepisoden – auch für inkontinenzbedingte Komplikationen, wie sturzbedingte Verletzungen und Knochenbrüche, verantwortlich. Überlaufinkontinenz: Diese vor allem bei Männern häufige Inkontinenzform äussert sich durch tropfenweisen Urinverlust bei gefüllter Blase. Ursachen sind unter anderem Abflussbehinderungen bei Prostatahyperplasie, Harnröhrenstrikturen oder eine mangelnde Blasenkontraktionsfähigkeit.
Beeinträchtigungen der sensorisch-motorischen Funktionen ■ Diabetes mellitus ■ Neurologische Erkrankungen ■ — M. Parkinson ■ — Multiple Sklerose ■ — Schlaganfall ■ — Wirbelsäulenverletzungen ■ — Spina bifida
Anormale Stressoren mit Wirkungen auf Harnvolumen und Blasendruck ■ Herzinsuffizienz ■ Chronisch obstruktive Lungenerkrankungen
Kognitive Beeinträchtigungen oder fehlende willkürliche Blasenkontrolle ■ Demenzerkrankungen ■ Psychische Erkrankungen
Evaluation durch Anamnese, Untersuchung und weiterführende Diagnostik Inkontinenzsymptome können sowohl durch Schliessmuskelschwäche oder Detrusorirritationen (z.B. chronische Blasenentzündungen, benigne Prostatahyperplasie) entstehen als auch neuromuskuläre oder kognitive Ursachen haben. Um dies abzuklären, sollte zunächst eine ausführliche Anamnese erhoben werden, da eine Harninkontinenz auch als Nebenwirkung verschiedener Medikamente auftreten kann. Dazu gehören vor allem Wirkstoffe, die den Druck der Urethra vermindern, die Restharnbildung fördern oder das Urinvolumen steigern (Tabelle 1). Blasenfunktionsstörungen können auch als Folge verschiedener Grunderkrankungen auftreten, die bei der Evaluation ebenfalls berücksichtigt werden müssen (Tabelle 2). Bei der körperlichen Untersuchung sollte die Funktionsfähigkeit der ableitenden Harnwege überprüft werden, und Restharnbildung, Blasenentzündungen sowie Fistelbildungen beziehungsweise (bei Frauen) Uterus- oder Vaginalprolaps sollten ausgeschlossen werden. Zur Basisdiagnostik gehört zudem ein Miktionsprotokoll. Eine urodynamische Untersuchung wird bei Frauen erst dann für sinnvoll erachtet, wenn sich aus Anamnese und klinischen Befunden keine eindeutige Diagnose ableiten lässt. Bei Männern, die unter LUTS
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mit Miktionsproblemen und Harninkontinenz leiden, sind urologische Abklärungen mit einer eingehenden Beurteilung der Prostata erforderlich.
Therapeutische Möglichkeiten Stressinkontinenz: In der Behandlung der Stressinkontinenz steht die Stärkung des urethralen Schliessmuskelsystems durch Beckenbodentraining an erster Stelle. Es handelt sich um eine effiziente und kostengünstige Massnahme, die bei leichten und mittleren Schweregraden und besonders bei jüngeren Patientinnen erfolgreich sein kann. Ein synergistischer Effekt soll sich bei Gabe des Serotonin/Noradrenalinwiederaufnahme-Hemmers Duloxetin ergeben, der die Kontraktilität des Sphinkters steigert, ohne die bewusste Blasenentleerung zu beeinträchtigen. Die Wirksamkeit von Duloxetin wurde in verschiedenen klinischen Studien belegt, allerdings wurde bei den so behandelten Patientinnen ein im Vergleich zur Gesamtpopulation um das Zweifache erhöhtes Suizidrisiko beobachtet – ein Effekt, der sich bei Duloxetin in seiner Eigenschaft als Antidepressivum so bisher nicht beobachten liess. Die FDA hat aus diesem Grund die Zusatzindikation «Stressinkontinenz» bisher abgelehnt (in der Schweiz ist der Wirkstoff für diese Indikation zwar registriert, aber nicht erhältlich). Wenn andere Behandlungsmöglichkeiten versagen, kann auch eine Operation in Erwägung gezogen werden. Als Standard gelten heute die spannungsfreien Schlingenverfahren, bei denen die weibliche Harnröhre mithilfe eines Tapes gestützt wird, um so den unfreiwilligen Harnverlust bei Belastung zu verhindern (Tension-free vaginal tape; transobturatorische Schlingenoperation). Dranginkontinenz: Die Dranginkontinenz, die zum Symptomenkomplex der OAB gehört, wird vor allem medikamentös behandelt, wobei Anticholinergika nach wie vor als Goldstandard gelten. Bis anhin ist zwar noch nicht im Detail geklärt, welche pathophysiologischen Mechanismen für die Drangsymptomatik ursächlich verantwortlich sind. Verschiedene Forschungsarbeiten weisen inzwischen jedoch darauf hin, dass hierfür möglicherweise eine vermehrte Expression muskarinerger M2-Rezeptoren in der Blasenschleimhaut verantwortlich sein könnte, deren Aktivierung sich nicht nur auf die glatte Muskulatur des Blasenmuskels (und damit auf die Blasenfunktion) auswirkt, sondern auch die efferenten und afferenten Reizleitungsbahnen moduliert (4, 5). Die Gabe von Anticholinergika hat sich bisher als wirksamste therapeutische Massnahme erwiesen, da diese Wirkstoffe über die Blockade der verantwortlichen Muskarinrezeptor-Subtypen M2 und M3 die sensorischen Funktionen des Urothels (M2) wie auch die Übererregbarkeit des Blasenmuskels (M2 und M3) gleichermassen beeinflussen können (6). Die im Zusammenhang mit der anticholinergen Therapie immer beobachteten Nebenwirkungen, wie zum Beispiel Mundtrockenheit, Obstipation oder Sehstörungen, resultieren aus der weiten Verbreitung der M3-Rezeptoren in anderen Organen und Geweben des Körpers, die durch die Therapie in ihrer Aktivität – je nach Rezeptoraffinität des eingesetzten Wirkstoffs – mehr oder weniger stark beeinträchtigt werden.
Derzeit sind fünf verschiedene antimuskarine Wirkstoffe zur Therapie der hyperaktiven Blase zugelassen: Oxybutynin (der älteste für diese Indikation zugelassene Wirkstoff), Tolterodin, Trospiumchlorid, Solifenacin und Darifenacin. Alle Substanzen sind aufgrund der besseren Verträglichkeit in retardierten Darreichungsformen (extended- bzw. slow-release) zur einmal täglichen Einnahme verfügbar. Von Oxybutynin wurde zudem eine transdermale Applikationsform entwickelt (Tabelle 3). Qualitativ gute, plazebokontrollierte Studien, die den direkten Vergleich zwischen den verschiedenen Substanzen erlauben, sind nur partiell vorhanden. Aus den gewonnenen Erkenntnissen lässt sich jedoch ableiten, dass letztlich alle verfügbaren Anticholinergika gleich gut für die Behandlung der hyperaktiven Blase geeignet sind. Die breite Palette der verfügbaren antimuskarinen Substanzen erlaubt jedoch, aufgrund der unterschiedlichen pharmakodynamischen (Rezeptorselektivität) und pharmakokinetischen (Applikationsform) Eigenschaften der Wirkstoffe, eine individuell auf den Patienten angepasste Therapie. Im Einzelfall entscheidet dies über den therapeutischen Benefit, die Patientenakzeptanz und Compliance der Behandlung. Während Trospiumchlorid und Tolterodin eine ausgewogenere Selektivität von M3 gegenüber M2 zeigen, weisen Oxybutynin und Solifenacin eine deutlich höhere und Darifenacin eine hohe M3-Selektivität auf. Die stärkere M3Blockade geht mit einer etwas besseren Wirksamkeit einher, andererseits scheinen Substanzen wie Tolterodin oder Trospiumchlorid von ihrem Nebenwirkungsprofil her (Mundtrockenheit, Obstipation) etwas besser verträglich zu sein (5). Gesamthaft gesehen, weisen diese neuen Anticholinergika gegenüber älteren Substanzen ein deutlich reduziertes Nebenwirkungsprofil bei vergleichbarer Wirksamkeit auf. In diesem Zusammenhang sei die prospektive, randomisierte, doppelblind geführte OPERA-Studie zur Wirksamkeit der beiden Retardformulierungen von Oxybutynin (10 mg) und Tolterodin (4 mg) erwähnt. In beiden Behandlungsgruppen zeigte sich eine vergleichbare Abnahme der Inkontinenzepisoden; zu Miktionshäufigkeit und Erreichen der Kontinenz gab es in der Oxybutynin-Gruppe sogar bessere Resultate, diese Patienten berichteten jedoch deutlich häufiger über Mundtrockenheit als die mit Tolterodin behandelten (7). Auch als transdermale Arzneiform erwies sich Oxybutynin im Vergleich zu den konventionellen (immediate-release-)Formulierungen von Tolterodin und Oxybutynin als wirksam. Die Mundtrockenheit scheint durch die dermale Applikation schwächer ausgeprägt, allerdings kommt es wegen unerwünschter Hautveränderungen am Applikationsort häufiger zum Therapieabbruch. Zu Tolterodin existieren aus den letzten zehn Jahren die weitaus meisten plazebokontrollierten Daten, die sich zudem durch hohe Patientenzahlen, den Einsatz validierter Fragebögen und die meisten in die Befragung einbezogenen Lebensqualitäts-Kriterien auszeichnen. Es ist damit hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit der bis heute am besten dokumentierte Wirkstoff zur Behandlung der hyperaktiven Blase. Mit Solifenacin, einem M3-selektiveren Anticholinergikum, steht ein Wirkstoff zur Verfügung, der aufgrund der retardierten
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Tabelle 3: Anticholinergika zur Behandlung der hyperaktiven Blase
Wirkstoff
Dosierung
Kommentare
Oxybutynin Lyrinel® Oros (extended release)
Ditropan® (immediate release) Kentera® (transdermal)
5, 10, 15 mg, einmal täglich
Wirkungen und Nebenwirkungen etwa mit Tolterodin vergleichbar. Ehemals Goldstandard; hohe Nebenwirkungsrate Kein First-Pass-Effekt; Hautveränderungen am Applikationsort möglich
5 mg, dreimal täglich
3,9 mg/24 h, zweimal wöchentlich
Tolterodin Detrusitol® SR (slow release)
4 mg, einmal täglich
In vitro höhere Selektivität für M3-Rezeptoren nachgewiesen
Fesoterodin Toviaz®* (slow release)
4—8 mg, einmal täglich
Flexible Dosierung kann Therapieerfolg verbessern
Trospiumchlorid Spasmo-Urgenin® Neo
20 mg, zweimal täglich
Quaternäres Amin; nicht ZNS-gängig
Solifenacin Vesicare® (slow release)
5—10 mg, einmal täglich
Flexible Dosierung und längere Halbwertszeit können Therapieerfolg verbessern
Darifenacin Emselex® (slow release)
7,5—15 mg, einmal täglich
M3-Rezeptor-spezifisch; weniger ZNS-Nebenwirkungen
* In der Schweiz noch nicht zugelassen
5- und 10-mg-Formulierung als Einmalgabe erstmals eine individuelle Dosistitration erlaubte. Die STAR-Studie verglich die jeweils einmal tägliche Einnahme von Solifenacin (5 mg und 10 mg) mit Tolterodin SR 4 mg. In der niedrigeren Dosis zeigte Solifenacin eine vergleichbare Wirksamkeit (Verminderung von Harndrang, Miktionsfrequenz und Inkontinenzepisoden) gegenüber Tolterodin 4 mg. Die Dosissteigerung auf 10 mg ergab jedoch einen deutlichen Therapiegewinn gegenüber der Vergleichsmedikation. In der niedrigeren Dosierung zeigte die Rate der Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit (18,2% vs. 14,5% [8]) und Obstipation (3,0 vs. 1,2% [8]) für Tolterodin marginal günstigere Ergebnisse. Bei Dosiseskalation auf 10 mg kann die Mundtrockenheit unter Solifenacin auf 21 Prozent steigen (9). Mit Darifenacin ist ein weiterer antimuskariner Wirkstoff verfügbar, für den eine hohe M3-Selektivität nachgewiesen werden konnte und der ebenfalls zwei Dosierungsmöglichkeiten (7,5 und 15 mg) in einer einmal täglich einzunehmenden Retardformulierung bietet. Die klinische Wirksamkeit wurde in mehreren randomisierten Doppelblindstudien gegenüber
Plazebo untersucht, wobei jeweils eine gute Wirksamkeit mit deutlicher Abnahme der Inkontinenzepisoden sowie Besserung der Miktionshäufigkeit, Blasenkapazität und der Drangsymptomatik – ohne kardiale oder ZNS-wirksame Nebeneffekte – zu beobachten war. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören auch hier Mundtrockenheit und Obstipation. Zwei-JahresDaten (10) zeigten eine hohe Therapietreue (66,3% der Studienteilnehmer nahmen das Medikament noch nach 24 Monaten); die Therapieabbruchrate wegen Nebenwirkungen lag in dieser Zeitspanne bei 8,9 Prozent. Die wöchentlichen Inkontinenzepisoden liessen sich unter Darifenacin im Mittel um 80 bis 86 Prozent (p<0,001) reduzieren. In Kürze ist die Markteinführung von Fesoterodin, einem weiteren mit Tolterodin strukturverwandten Anticholinergikum zur Therapie der OAB-Symptome, zu erwarten. Der Wirkstoff, der in einmal täglich einzunehmenden Dosierungen von 4 und 8 mg verfügbar sein wird, wurde inzwischen in zwei gross angelegten, kontrollierten doppelblinden Studien untersucht (11, 12). In den relevanten klinischen Endpunkten (Dranginkontinenzepisoden/24 h, Miktionshäufigkeit, medianes Miktionsvolumen)
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liessen sich statistisch signifikante Besserungen erzielen, wobei die höhere Dosierung bessere Resultate ergab. Mundtrockenheit erwies sich auch hier als häufigste Nebenwirkung.
LUTS und OAB bei Männern – sind Anticholinergika sinnvoll? Blasenfunktionsstörungen mit LUTS und OAB galten bei Männern lange ausschliesslich als Zeichen einer bestehenden Prostatahyperplasie (BPH). Ergebnisse der EPIC-Studie (13), eine epidemiologische Untersuchung zur Prävalenz von OAB und LUTS, haben dies kürzlich widerlegt. Speichersymptome wurden hier mit 51,3% doppelt so häufig angegeben wie Entleerungssymptome (25,7%), wobei 48,6 Prozent der Männer über Nykturie und 10,8 Prozent über plötzlichen Harndrang (10,8%) beziehungsweise Dranginkontinenz (5,4%) berichteten. Zwar liegt bei diesen Männern tatsächlich eine BPH vor, bei einigen dieser Patienten wird die Drangsymptomatik jedoch nicht nur durch die infravesikale Obstruktion, sondern zusätzlich durch eine Funktionsstörung des Detrusors ausgelöst. Solche Patienten leiden dann – trotz Therapie mit Alphablockern oder 5-alpha-Reduktasehemmern – weiterhin unter Harndrang und erhöhter Miktionsfrequenz, auch nach transurethraler Prostataresektion. Bisher wurde der Einsatz von Anticholinergika bei Männern mit BPH stets zurückhaltend beurteilt, da man das Risiko eines Harnverhalts als Folge einer anticholinergen Therapie nicht eingehen wollte. Dennoch wurde der Einsatz von Anticholinergika bei OAB und BPH in den letzten Jahren in verschiedenen plazebokontrollierten Studien erfolgreich untersucht. Dabei liessen sich im Vergleich zu Plazebo weder erhöhte Harnverhaltraten noch signifikante Veränderungen des maximalen Harnflusses beobachten. Eine optimale Symptomlinderung konnte beispielsweise durch die Kombination eines Alphablockers mit einem Anticholinergikum erzielt werden, wie die 2006 publizierte TIMES-(Tolterodine and Tamsulosin in Men with LUTS Including OAB: Evaluation of Efficacy and Safety)-Studie zeigte. In dieser doppelblinden, plazebokontrollierten und randomisierten Studie wurde erstmals die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Tolterodin SR (4 mg/Tag) in Kombination mit dem Alphablocker Tamsulosin (0,4 mg/Tag) untersucht. 80 Prozent der kombiniert behandelten Patienten berichteten nach Abschluss der Studie von einem signifikanten Nutzen der Kombinationstherapie (Besserung von Drangsymptomatik mit Inkontinenzepisoden, Harndrang, Miktionsfrequenz und Nykturie sowie der Prostatasymptome) gegenüber 62 Prozent in der Plazebogruppe (<0,001). Kein signifikanter Behandlungserfolg liess sich dagegen mit einer Tamsulosin- (71%; p=0,06) oder Tolterodin-SR-Monotherapie (65%; p=0,48) erreichen. Die Inzidenz eines akuten Harnverhalts lag in der Kombinationsgruppe bei 0,4 Prozent (Tolterodin SR 0,5%; Tamsulosin und Plazebo 0%). Dieses Ergebnis lässt den Schluss zu, dass BPH und OAB Krankheitsbilder sind, die offensichtlich zusammengehören. Wo nötig, sollten daher beide auch entsprechend behandelt werden – zumal OABSymptome die Lebensqualität oft erheblich beeinträchtigen.
Fazit Wie das umfangreiche Datenmaterial zeigt, ist Harninkontinenz kein reines Frauenleiden, vielmehr sind Männer und Frauen mit zunehmendem Alter gleichermassen betroffen. Symptome des unteren Harntrakts sind demnach so weit verbreitet, dass der Begriff «Volkskrankheit» nicht zu hoch gegriffen sein dürfte. Untersuchungen zur Lebensqualität zeigen jedoch, dass Frauen oft besser mit ihrer Inkontinenz umgehen können als betroffene Männer, die dann zu Depressionen neigen. So lange der Schweregrad, das Ausmass der Belastung und die damit verbundenen sozialen Beeinträchtigungen es erlauben, verschweigen die Betroffenen lieber ihre Blasen- und Inkontinenzprobleme. Harninkontinenz und OAB bleiben daher häufig lange unbehandelt, was angesichts der verfügbaren, modernen Behandlungskonzepte nicht sein müsste. Bei sorgfältiger Evaluation und Diagnostik kann zahlreichen Patienten und Patientinnen mit einer individuellen, dem jeweiligen Krankheitsbild angepassten Therapie geholfen werden. ■
Dr. Claudia Reinke Schützenmattstrasse 1
4051 Basel E-Mail: claudia.reinke@medsciences.ch
Interessenkonflikte: keine
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