Transkript
NACHGEFRAGT
«Es wird aufgrund der Richtlinien individualisiert entschieden nach Risiko-Nutzen-Analyse, transientem oder permanentem Risikofaktor, Mobilität und Alter»
Interview mit Prof. Dr. Jürg H. Beer, Chefarzt der Medizinischen Klinik am Kantonsspital Baden/AG
ARS MEDICI: In der ENDORSE-Studie, einer multinationalen Querschnittsuntersuchung, stand die Schweiz mit einem sehr hohen Anteil an Patienten unter Thromboembolie (TE)-Prophylaxe sehr gut da. Internistisch hospitalisierte Patienten erhielten aber seltener eine leitliniengerechte Prophylaxe als chirurgische Patienten. Prof. Dr. med. Jürg H. Beer: Ihre Vorbemerkung ist wichtig: Sowohl chirurgische wie internistisch hospitalisierte Patienten erhalten in der Schweiz tatsächlich konsequenter die TE-Prophylaxe. Oft ist sogar ein «Überschiessen» festzustellen, dass nämlich Patienten, die eigentlich nicht qualifizieren, trotzdem eine Prophylaxe erhalten, wie Studien von H. Bounameaux gezeigt haben. Andere Studien haben ebenfalls höhere Raten bei chirurgischen Patienten bestätigt.
ARS MEDICI: Woran liegt das? Beer: Die Gründe für diese Diskrepanz sind vielschichtig: ■ Beim chirurgischen Patienten liegt die Auslösung oder min-
destens die Rückfrage betreffend Thromboseprophylaxe oft in den Händen der Pflege, die dies konsequent erfragt. ■ Da ein grosser Teil hospitalisierter Patienten qualifiziert, scheint sich der TE-Prophylaxe-«Reflex» hier günstig auszuwirken. ■ Die Situation des chirurgischen Patienten ist auch zeitlich eindeutiger: Der Patient tritt ein und wird operiert: Der Zeitpunkt der Operation an sich löst direkt die Frage aus. ■ Die modellhafte Prophylaxe beispielsweise in der Orthopädie entspricht einer langjährigen Tradition. Sie ist Schulbeispiel und Studien-Objekt für jedes neue, in der TE-Prophylaxe eingesetzte Medikament und der Startschuss für Vergleichsstudien. ■ Ebenfalls aus der Orthopädie kommen ursprünglich die Studien über die Effektivität der längeren Dauer der Prophylaxe, zum Beispiel 4 bis 6 Wochen. ■ Internistische Patienten sind polymorbid und haben 4 bis 5 Hauptdiagnosen, darunter zum Teil auch eine Blutungs-
anamnese und/oder eine Niereninsuffizienz mit einer Clearance unter 30 ml/min., was gelegentlich vor einer Prophylaxe zurückschrecken lässt. Medikamentöse Interferenzen wie die doppelte Aggregationshemmung mit Aspirin und Clopidogrel geben Anlass zu Nutzen-RisikoÜberlegungen.
ARS MEDICI: Die Metaanalyse von Lironne Weil et al. findet sowohl unfraktioniertes Heparin wie niedermolekulare Heparine effektiv zur Verhinderung von TE-Ereignissen, kann aber keinen Einfluss auf die Gesamtsterblichkeit erkennen. Erhalten möglicherweise die falschen Patienten eine pharmakologische TE-Prophylaxe? Beer: Obwohl zum Teil sicher Patienten, die für eine Prophylaxe nicht qualifizieren, trotzdem eine Heparinprophylaxe erhalten, hat dies wohl kaum entscheidenden Einfluss auf die Gesamtsterblichkeit und «verwässert» höchstens etwas die Daten.
ARS MEDICI: Was gibt es denn für andere Erklärungen? Beer: Mögliche Gründe sind: Die Studiendauer respektive die Beobachtungsdauer ist eventuell nicht genügend lang. Die Power der Studien genügt nicht. Es liegen multiple andere Diagnosen vor, die unabhängig von der thromboembolischen Problematik zum Tod führen und die Mortalität anderweitig beeinflussen. Schliesslich spielt auch die Dauer der Beobachtungszeit ein Rolle: Thromboembolische Komplikationen respektive tödliche Lungenembolien können mit einiger Latenz, sogar von Wochen, auftreten.
ARS MEDICI: Welches sind bei internistischen Patienten die wichtigsten Indikationen für eine pharmakologische TE-Prophylaxe? Beer: Zunächst sind dies erworbene Risikofaktoren, etwa Status nach tiefer Venenthrombose, Malignom, Antiphospholipidantikörper, Hormontherapie oder Chemotherapie
638 ARS MEDICI 14 ■ 2008
NACHGEFRAGT
lyse, transientem oder permanentem Risikofaktor, Mobilität und Alter. Bei wieder vollständiger Mobilität und transientem Riskofaktor setzen wir meist noch bei oder vor Austritt ab, bei anderen Patienten wird die Prophylaxe jedoch niederschwellig für einige Tage weitergeführt (ARTEMIS-Studie: 6 bis 14 Tage), meist nach Instruktion des Patienten oder der Angehörigen zur Selbstapplikation, allenfalls der Spitex. Die klinische Kontrolle und die Messung der Thrombozyten erfolgt nach spätestens einer Woche durch den Hausarzt.
ARS MEDICI: Welche Präparate setzen Sie dabei ein? Beer: Praktisch immer ein niedrigmolekulares Heparin (Enoxaparin [Clexane®], Dalteparin [Fragmin®] oder Nadroparin [Fraxiforte®]). Sehr gute Daten bestehen auch für das Fondaparinux (Arixtra®).
Professor Jürg H. Beer
(speziell auch Thalidomid, Lenalidomid). Ferner Immobilisation für mehr als 3 Tage, Dehydratation, Alter über 50 Jahre, zerberovaskuläre Insulte mit Parese, nephrotisches Syndrom, schwere COPD oder allgemein schwere Entzündungsreaktion. Schliesslich sind angeborene Risikofaktoren (Faktor-V-Leiden, Prothrombingenmutation, Protein-S-, Protein-C-Mangel, Antithrombin-III-Defizienz, Dysfibrinogenämie) eine Indikation zur TE-Prophylaxe beim hospitalisierten Patienten.
ARS MEDICI: Wie lange wird die TE-Prophylaxe an Ihrem Krankenhaus durchgeführt? Beer: Zunächst gemäss den allgemein anerkannten Richtlinien (vgl. dazu auch neueste ACCP-Guidelines in Chest 2008): Es wird individualisiert entschieden nach Risiko-Nutzen-Ana-
ARS MEDICI: Hat unfraktioniertes Heparin neben den niedermolekularen Heparinen noch einen Platz? Beer: Für niereninsuffiziente Patienten mit einer Clearance unter 30 ml/min hat das unfraktionierte Heparin sicher noch seinen Platz. Es wird zunehmend jedoch auch hier durch die niedermolekularen Heparine (welche allenfalls dosisadaptiert nach Anti-Xa-Messung verabreicht werden) und wohl in Zukunft durch neue orale Faktor-Xa-Hemmer und die direkten Thrombinhemmer verdrängt.
ARS MEDICI: Wie handhaben Sie die Nachbehandlung durch den Hausarzt? Beer: Der Hausarzt wird telefonisch und per Fax orientiert. Er übernimmt die Kontrolle der Thrombozytenzahl und die Überwachung (Kreatinin, gelegentlich Anti-Xa-Aktivität). Die Spitex oder die Heimpflege respektive der Patient selber spritzen das Heparin, dies möglichst in den Oberschenkel.
ARS MEDICI: Herr Professor Beer, wir bedanken uns für das Interview.
Die Fragen stellte Halid Bas.
ARS MEDICI 14 ■ 2008 639