Transkript
FORTBILDUNG
Was treibt Obstipierte zum Arzt?
Neue Studienergebnisse zu den alten Krankheitsbildern Chronische Verstopfung und ReizdarmSyndrom
Angesichts der medizinischen und ökonomischen Be-
deutung der häufigen funktionellen Darmleiden ist die
Forschungstätigkeit rege und liefert laufend neue Er-
kenntnisse, wenn auch keine wirklichen Durchbrüche.
MEDSCAPE
Am Jahrestreffen des American College of Gastroenterology waren die beiden häufigsten funktionellen Störungen, die chronische Verstopfung und das Reizdarm-Syndrom, naturgemäss ein sehr wichtiger Themenbereich. In dieser Übersicht aus Medscape werden einige auch für die Praxis interessante neue Studien kurz zusammengefasst.
Chronische Verstopfung Symptome und Diagnose Was unterscheidet Individuen mit chronischer Verstopfung, die beim Arzt Hilfe suchen, von denen, die dies nicht tun? In einer Studie mit mehreren validierten Fragebögen wurde bei 1022 Versicherten einer grossen Health Maintenance Organisation (HMO) im mittleren Alter von 66 Jahren (68% Frauen) erforscht, wie häufig «Gesunde», die keinen Arzt aufsuchten, Verstopfungssymptome aufwiesen. Überraschenderweise entsprachen 40 Prozent den Rom-III-Kriterien für chronische Obstipation. Solche Individuen hatten jedoch höhere Lebensqualitätsscores, weniger körperliche Beeinträchtigung und geringere Blähungen und Schmerzen als die Vergleichspersonen, die wegen Verstopfung den Arzt aufsuchten. Offenbar ist es nicht die Verstopfung an sich, sondern es sind die Begleitsymptome wie Aufgetriebensein und Schmerz, die die Obstipierten zum Arzt treiben. In einer retrospektiven Studie ergab sich bei pädiatrischen Patienten mit Verstopfung, dass immerhin 18 Prozent auch noch im frühen Erwachsenenalter anhaltende Symptome hatten und 6 Prozent mindestens ein Medikament zur Förderung der Stuhlentleerung einnahmen. Verschiedene ökonomische Studien haben gezeigt, dass chronische Verstopfung (mit oder ohne Reizdarmsymptomatik) durch die ausgelösten Kosten auch für das Gesundheitswesen ins Gewicht fällt. Diese Kosten entstehen in erster Linie durch
behandlungsbedürftige Komplikationen wie Analfissuren, Rektalulzera, Hämorrhoiden (mit oder ohne Blutung), Darmverschluss und Stuhlimpaktation. Eine adäquate Behandlung der chronischen Obstipation ist also auch im Hinblick auf die Komplikationen und ihre Kosten sinnvoll. Die medizinischen Kosten von chronischer Verstopfung und Reizdarm-Syndrom mit Obstipation waren in einer neuen Studie vergleichbar, die Reizdarmpatienten hatten jedoch pro Sechs-Monats-Periode 1,3 Krankheitstage mehr. Bei pädiatrischen Obstipationspatienten ist der Stellenwert der anorektalen Manometrie umstritten. Eine präliminäre Studie fand eine positive Korrelation zwischen der Häufigkeit von Stuhlinkontinenz- und Stuhlverhaltungssymptomen und Manometriemesswerten als Hinweis, dass diese eingehende Abklärung klinisch nützlich sein könnte. Zwei Studien beschäftigten sich mit klinischen Untersuchungen bei obstruktiven Störungen des Defäkationsmechanismus. Sie zeigen, dass auch eine sorgfältige Anamnese gegenüber der Manometrie unterlegen sein kann, aber eine sorgfältige digitale Rektaluntersuchung auch heute zur Aufdeckung einer dyssynergen Defäkation eine gute Sensitivität (81%) und einen sehr guten positiven prädiktiven Wert (99%) hat.
Merksätze
■ Verschiedene ökonomische Studien haben gezeigt, dass chronische Verstopfung (mit oder ohne Reizdarmsymptomatik) durch die ausgelösten Kosten auch für das Gesundheitswesen ins Gewicht fällt.
■ Die sorgfältige digitale Rektaluntersuchung hat zur Aufdeckung einer dyssynergen Defäkation eine gute Sensitivität und einen sehr guten positiven prädiktiven Wert.
■ Bewährte Mittel zur Therapie der chronischen Obstipation bleiben PEG-3350 (Makrogol) und Lactulose.
■ Klinische Guidelines und Übersichtsartikel betonen, dass das Reizdarm-Syndrom nicht Rest eines diagnostischen Ausschlussverfahrens sein sollte, sondern als Diagnose nach eingehender Anamnese (Warnzeichen?) und körperlicher Untersuchung zustande kommen sollte.
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FORTBILDUNG
Zur Bestimmung der Kolontransitzeit werden seit zwei Dekaden radioopake Marker eingesetzt, die aber wegen der Abdomenröntgenbilder eine gewisse Strahlenbelastung bedeuten. Heute werden in Studien Messsendekapseln erprobt, die den Kolontransit ebenfalls erfassen lassen.
Behandlung Aus einer weiteren Fragebogenuntersuchung geht hervor, dass Patienten mit chronischer Verstopfung eher einen Arzt aufsuchten als Patienten mit obstipationsdominiertem ReizdarmSyndrom, aber weniger verschreibungspflichtige Laxativa und frei erhältliche Abführmittel einnehmen als diese. Patienten mit «einfacher» Verstopfung waren mit den Ergebnissen der Laxanzientherapie eher zufrieden als Reizdarmpatienten und litten auch seltener unter schweren Medikamentennebenwirkungen. Medikamente sind eine häufige Ursache einer sekundären Obstipation. Häufigste Verursacher sind Opiate, Eisen und Anticholinergika. In einer über 28 Tage laufenden, randomisierten, doppelblinden, plazebokontrollierten Multizenterstudie untersuchten DiPalma und Mitautoren die Wirksamkeit von PEG-3350 (Polyethylenglykol [Makrogol], z.B. Transipeg®) bei 100 Patienten mit Verstopfung, die Medikamente einnahmen, von denen bekannt ist, dass sie eine Obstipation verursachen können. Den primären Endpunkt, Symptomlinderung während der Beobachtungsperiode, erreichten 78 Prozent der PEG3350-Patienten, gegenüber 39 Prozent in der Plazebogruppe. Auch sekundäre Parameter wie Stuhlfrequenz und -konsistenz oder mühsame Defäkation waren unter PEG-3350 signifikant besser beeinflusst. Allerdings hatten die mit PEG-3350 behandelten Patienten im Vergleich zur Plazebogruppe häufiger Nebenwirkungen wie Nausea, Diarrhö oder Flatulenz. Ernsthafte Nebenwirkungen wurden jedoch ebenso wenig beobachtet wie Elektrolytveränderungen. Umwälzende Bereicherungen der medikamentösen Therapie bei Obstipation scheinen nicht in Sicht, jedenfalls wurden keine neuen Daten zu Lubiproston, einem Prostaglandin-E1-Abkömmling, der die Typ-2-Natriumkanalrezeptoren aktiviert, präsentiert. Damit bleiben in den USA gegen chronische Verstopfung nur PEG-3350 und Lactulose (in der Schweiz z.B. Duphalac®, Rudolac®) offiziell zugelassen.
Reizdarm-Syndrom Symptome, Ätiologie und Diagnose In der PROGRESS-Studie zeigte sich anhand validierter Fragebogenerhebungen, dass Patienten mit Reizdarm und Obstipationssymptomatik während einer einjährigen Beobachtungszeit im Vergleich zu Patienten mit gastroösophagealer Refluxerkrankung (GERD) in ihren Alltagsaktivitäten und bei der Arbeit signifikant stärker beeinträchtigt waren und öfter die Stelle verloren. Die durchschnittliche Absenzzeit betrug 10 Stunden pro 40-Stunden-Woche, was die hohen direkten und indirekten Kosten des Reizdarm-Syndroms miterklärt. Reizdarmpatienten mit schweren Symptomen haben selten eine schwerere pathophysiologische Störung als solche mit
leichteren Symptomen. Vielmehr erfahren sie ihre Beschwerden aufgrund begleitender Angst, Depression, Somatisierungsstörung oder schlechter ausgebildeter Bewältigungsstrategien als belastender. In eine solche Richtung zeigen auch die bei ihnen gehäuft vorkommenden weiteren Erkrankungen wie Fibromyalgie, Migräne, interstitielle Zystitis, Temporomandibularschmerz oder Dyspareunie. Auch verschiedene neue psychologische Studien sprechen dafür, dass in ein effektives Management des Reizdarm-Syndroms auch Angst, Somatisierung, Depression und Selbststigmatisierung mit einzubeziehen sind. Frauen erkranken häufiger am Reizdarm-Syndrom, was die Vermutung nahelegt, dass ätiologisch auch Geschlechtshormone etwas beitragen dürften. Eine kleine Studie fand jetzt, dass Männer mit Reizdarm-Syndrom (14 mit Obstipations-, 24 mit Diarrhösymptomatik) im Vergleich zu gesunden Kontrollen tiefere Spiegel von Testosteron und geschlechtshormonbindendem Globulin aufwiesen. Wie der pathophysiologische Mechanismus aussehen könnte, bleibt unbekannt. Bei Reizdarmpatienten sind neben gestörter gastrointestinaler Motilität auch vegetative Symptome wie Flush und Schwitzen häufig. Soeben verlief allerdings eine Studie negativ, die einen Zusammenhang mit adrenergen Alpha-2-Rezeptor-Genotypen suchte. In einer Fragebogenuntersuchung aus der Mayo-Klinik ergab sich bei 1784 Antwortenden eine Beziehung zwischen diarrhöbetontem Reizdarm-Syndrom und Kolondivertikulose. Was deren Natur genau sein könnte, bleibt offen. Immer wieder ist zu beobachten, dass sich ein Reizdarm-Syndrom nach einem vorangegangenen Infekt eingestellt hat. Kleine Studien fanden jetzt, dass in Kolonbiopsien von Reizdarmpatienten mehrere Zytokine reduziert waren, die für die Schleimhautabwehr wichtig sind. Hier liegt zurzeit ein interessantes Forschungsgebiet. Ganz anders eine letzte in dieser Übersicht kolportierte kleinere Studie zu den möglichen Krankheitsmechanismen: Hier ergab sich, dass Reizdarmpatienten, die exzessiv Methan ausschieden, vermehrt an Aufgetriebensein und Verstopfung litten, während Leidensgenossen mit übermässiger Wasserstoffgasausscheidung eher zu Diarrhö, imperativem Stuhldrang und Fruchtunverträglichkeit neigten. Klinische Guidelines und Übersichtsartikel betonen, dass das Reizdarm-Syndrom nicht Rest eines diagnostischen Ausschlussverfahrens sein sollte, sondern als Diagnose aufgrund von eingehender Anamnese unter Berücksichtigung von Warnzeichen und körperlicher Untersuchung zustande kommen sollte. Für vielbeschäftigte Praktiker wäre allerdings auch ein verlässlicher diagnostischer Test willkommen. Gerade führte aber die Erprobung einer Testbatterie aus C-reaktivem Protein, fäkalem Calprotectin und Lactoferrin zu enttäuschenden Ergebnissen.
Therapie Wo die entsprechenden Möglichkeiten vorhanden sind, werden Patientenschulungs- und Verhaltenstrainingsprogramme
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eifrig erforscht, im Allgemeinen mit vielversprechenden Ergebnissen. Dabei geht es weniger um eine Beeinflussung der Häufigkeit der Symptome (die auf diesem Weg kaum zu erzielen ist) als um eine Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen durch einen anderen Umgang mit ihrem Leiden. Unter den somatischen, medikamentösen Therapien finden in dieser amerikanischen Übersicht zu Neuheiten etablierte Reizdarmbehandlungen, etwa mit Mebeverin (Duphalac®), keine Erwähnung. Inzwischen gibt es hingegen eine offene Studie an rund 100 Reizdarmpatienten, die für das aus dem Darmlumen nicht resorbierte Breitspektrum-Antibiotikum Rifaximin (in der Schweiz zurzeit nicht eingeführt) bei einem Drittel ein vollständiges Verschwinden der Symptome dokumentiert. Die methodisch nicht überzeugende Untersuchung verlangt zumindest nach weiteren, grösseren, randomisierten und plazebokontrollierten Studien. Aus 13 randomisierten kontrollierten Studien zu Probiotika beim Reizdarm waren gerade einmal 3 auswertbar. Als einziges Probiotikum kann sich Bifidobacterium infantis (Infloran®) auf ausreichende Evidenz stützen. Ob andere Probiotika bei Reizdarm ebenfalls wirksam sind, müsste durch Studien geklärt werden. Gewisse Reizdarmpatienten weisen Zeichen einer geringgradigen Schleimhautentzündung auf. Eine Vergleichsstudie stellte 334 Patienten entweder Mesalazin (z.B. Asacol®) allein oder Mesalazin plus das Probiotikum Lactobacillus boulardii während eines Monats, jeweils dreimal täglich, zur Verfügung. Zu Studienende sahen die Autoren, dass Stuhlfrequenz, Bauchschmerzen und Blähungen in beiden Gruppen signifikant abgenommen hatten. Angesichts von Plazeboansprechraten von 30 bis 50 Prozent beim Reizdarm-Syndrom ist hier das Fehlen eines Plazebobehandlungsarms schmerzlich. Zudem sollten klinische Studien beim Reizdarm-Syndrom wegen der Chronizität des Leidens im Minimum über zwölf Wochen laufen. An der erwähnten vegetativen Dysfunktion im Rahmen des Reizdarm-Syndroms versuchte eine Studie mit dem Betablocker Pindolol (Visken®) anzusetzen. Sie verlief negativ. Hinsichtlich globaler Symptomscores und Bauchschmerzen beziehungsweise -beschwerden brachte eine Studie mit dem R-Enantiomer von Verapamil hingegen ein positives Ergebnis. Denkbar ist eine günstige Beeinflussung der Reizdarmsymptomatik durch den Kalziumblocker über eine Beeinflussung der glatten Muskulatur im Darm. ■
Brian E. Lacy (GI Motility Laboratory, Dartmouth-Hitchcock Medical Center, Lebanon, New Hampshire): Update on the diagnosis and treatment of chronic constipation and irritable bowel syndrome. Im Internet einsehbar unter: www.medscape.com/viewarticle/565388 (Zugriff am 31.3.2008).
Interessenkonflikte: Dr. Lacy deklariert Forschungsgelder von Prometheus, Medtronic und Novartis sowie bezahlte Vortragstätigkeit für Novartis and Takeda.
Halid Bas