Transkript
FORTBILDUNG
Wann Psychotherapie, wann Antidepressiva?
Behandlung von Depressionen bei Erwachsenen
Erste Anlaufstelle für die meisten Patienten mit De-
pressionen ist der Hausarzt. Doch werden depressive
Störungen in der Allgemeinpraxis häufig nicht dia-
gnostiziert, was unter anderem daran liegt, dass zwei
Drittel der depressiven Patienten hauptsächlich über
somatische Beschwerden klagen.
BMJ
Um herauszufinden, ob hinter den körperlichen Symptomen eine Depression steckt, sollte der Arzt mit dem Patienten nicht nur über dessen somatische Beschwerden diskutieren, sondern möglichst auch erfassen, wie es um seine psychische Gesundheit steht. Dazu eignen sich offene Fragen, sodass der Patient schildern kann, wodurch die Beschwerden seiner Ansicht nach bedingt sind. Ausserdem sollte der Arzt fragen, ob den Beschwerden einschneidende Lebensereignisse vorausgegangen sind, schreiben Markku Timonen und Timo Liukkonen im «British Medical Journal». Patienten mit chronischen internistischen Erkrankungen, Schmerzsyndromen, unklaren körperlichen Beschwerden sowie Menschen, die vor Kurzem einen Schicksalsschlag erlitten haben, weisen ein erhöhtes Risiko für Depressionen auf. Hier kann mithilfe zweier Fragen ein einfaches DepressionsScreening erfolgen: ■ Haben Sie sich im vergangenen Monat häufig nieder-
geschlagen, deprimiert oder hoffnungslos gefühlt? ■ Hatten Sie im vergangenen Monat häufig keine Lust oder
kein Interesse, bestimmte Dinge zu erledigen oder etwas zu unternehmen? Bejaht der Patient eine oder beide Fragen, sollte man fragen, ob er Hilfe in Anspruch nehmen möchte. Die Diagnose «Depression» wird klinisch gestellt, wenn die bekannten Kriterien einer Depression erfüllt sind.
Behandlung in der Akutphase Über 80 Prozent der depressiven Patienten werden in Einrichtungen der Primärversorgung behandelt. Patienten mit psy-
chotischen Merkmalen oder akuter Suizidalität sollten an einen Spezialisten überwiesen werden. Das gilt auch, wenn Patienten auf die Behandlung nicht ansprechen oder an rezidivierenden Depressionen leiden.
Psychologische Behandlung: Bei leichter Depression empfiehlt das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) einen Kontrolltermin innerhalb von zwei Wochen, wenn der Patient eine Intervention ablehnt oder wenn der Arzt meint, dass sich die depressive Störung spontan zurückbildet (watchful waiting). Alle anderen Patienten mit leichter Depression sollten darüber beraten werden, wie sie sich selbst helfen können. Darüber hinaus sollten sie kurze psychologische Interventionen (6 bis 8 Sitzungen) erhalten, einschliesslich Problemlösetherapie, kognitiver Verhaltenstherapie und Beratung. Diese drei Verfahren sind auch bei mittelschwerer Depression wirksam. Antidepressiva werden zur Initialbehandlung der leichten Depression wegen des ungünstigen Nutzen-RisikoProfils nicht empfohlen. Bei mässiger bis schwerer Depression haben sich strukturierte psychologische Interventionen (16 bis 20 Sitzungen) in verschiedenen Studien als wirksam erwiesen. Positive Ergebnisse liegen für die individuelle kognitive Verhaltenstherapie, die interpersonelle Therapie und die interpersonelle Gruppentherapie
Merksätze
■ Eine Depression wird in der Hausarztpraxis häufig nicht erkannt, insbesondere wenn der Patient ausschliesslich über somatische Beschwerden klagt.
■ Bei leichter Depression sind psychosoziale Massnahmen die Behandlung der ersten Wahl.
■ Bei mittelschwerer bis schwerer Depression sind strukturierte psychologische Interventionen wie kognitive Verhaltenstherapie oder interpersonelle Therapie und Antidepressiva wirksam.
■ Die kombinierte Anwendung von Antidepressiva und kognitiver Verhaltenstherapie ist bei mittelschwerer bis schwerer Depression sowie bei chronischer Depression wirksamer als die alleinige antidepressive Pharmakotherapie.
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FORTBILDUNG
vor. Wenn ein Zusammenhang zwischen Beziehungsproblemen und Depression vorliegt, kann eine Paartherapie hilfreich sein.
Medikamentöse Behandlung: Zahlreiche randomisierte kontrollierte Studien (RCT) belegen, dass trizyklische Antidepressiva, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) und selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer bei Major Depression wirksamer sind als Plazebo. Darüber hinaus besteht eine gute Evidenzlage für das serotonerg-adrenerg wirkende Mirtazapin (Remeron®). Eine Cochrane-Review und Metaanalyse von 194 RCT kamen zu dem Ergebnis, dass das trizyklische Antidepressivum Amitriptylin (Saroten® Retard , Tryptizol®) mindestens so wirksam ist wie andere Trizyklika oder SSRI, es wird aber nicht so gut vertragen wie SSRI. Im Allgemeinen sind SSRI besser verträglich als trizyklische Antidepressiva. Das NICE empfiehlt SSRI als Mittel der ersten Wahl bei Depression.
Kombinationstherapie: Bei mittelschwerer bis schwerer Depression und bei chronischer Depression ist die Kombination aus kognitiver Verhaltenstherapie und einem Antidepressivum nachweislich besser wirksam als die alleinige Gabe eines Antidepressivums. In einer relativ kleinen randomisierten Studie war die Kombination aus interpersoneller Therapie und einem Antidepressivum wirksamer als die alleinige interpersonelle Therapie.
Wenn die Akutbehandlung nicht greift Unabhängig von der gewählten Behandlungsmodalität muss sorgfältig überwacht werden, ob der Patient auf die Therapie anspricht. Mit strukturierten Instrumenten kann der Schweregrad der Symptomatik und der funktionelle Status erfasst werden. Die Wirksamkeit der antidepressiven Therapie sollte zwei bis vier Wochen nach Behandlungsbeginn überprüft werden, wobei Skalen zur Fremd- oder Selbstbeurteilung verwendet werden können. So kann ein Mitarbeiter des Praxisteams beispielsweise mithilfe der Hamilton-Depressionsskala überprüfen, ob und in welchem Umfang sich die Symptomatik gebessert hat. Wenn Patienten nach vierwöchiger medikamentöser Behandlung oder nach vier- bis achtwöchiger psychologischer Behandlung nicht wenigstens eine mässige Besserung aufweisen, sollte die Diagnose überdacht und die Therapietreue überprüft werden. Liegt tatsächlich eine Depression vor und wurde der Patient bisher psychologisch behandelt, kann die Intensität der Psychotherapie geändert oder ein anderes psychotherapeutisches Verfahren zur Anwendung kommen. Alternativ kann auf eine medikamentöse Therapie umgestellt oder ein Antidepressivum zusätzlich zur Psychotherapie verabreicht werden. Wurde der Patient bisher medikamentös behandelt, kann man auf ein anderes Präparat wechseln. Kam als erstes Medikament ein SSRI zum Einsatz, kann nun ein anderes SSRI oder ein Antidepressivum aus einer anderen Medikamentenklasse verabreicht werden.
Tipps für den Nichtspezialisten
■ Innerhalb von ein bis zwei Wochen nach der Erstvorstellung sollte eingeschätzt werden können, ob bei dem Patienten eine Depression vorliegt.
■ Denken Sie an die Möglichkeit einer bipolaren Störung und fragen Sie, ob bei dem Patienten früher schon einmal eine Manie oder Hypomanie bestand.
■ Fragen Sie, ob der Patient an Suizidgedanken, Halluzinationen oder Wahnideen leidet.
■ Machen Sie sich mit einigen verfügbaren Antidepressiva erster und zweiter Wahl vertraut und informieren Sie sich über deren Wirksamkeit, kurz- und langfristige Nebenwirkungen sowie Interaktionen mit anderen Medikamenten.
■ Ein Mitglied des Praxisteams sollte eine der üblichen Skalen zur Fremdbeurteilung beherrschen, um die Wirksamkeit der Behandlung überprüfen zu können.
■ In der Akutphase sollten sich die Patienten ein- bis zweimal wöchentlich vorstellen, anschliessend einmal im Monat oder alle zwei Monate.
Ausreichend lange behandeln Ist eine Remission eingetreten, sollten Antidepressiva noch für etwa sechs Monate gegeben werden, denn dies senkt das Rückfallrisiko, wie zahlreiche Untersuchungen belegen. Das zur Akutbehandlung erfolgreich eingesetzte Antidepressivum sollte in unveränderter Dosierung weiter genommen werden. Wenn es nicht zum Rückfall kommt und der Patient keine prophylaktische Behandlung benötigt, wird das allmähliche Ausschleichen des Antidepressivums über einen Zeitraum von vier Wochen empfohlen.
Erhaltungstherapie/prophylaktische Behandlung
Depressionen neigen zum Rezidiv (in der Primärversorgung
sind 30 bis 40% der Patienten mit Depression hiervon betrof-
fen), deshalb ist bei Patienten mit einem hohen Rezidivrisiko
eine prophylaktische Behandlung indiziert. Ein Psychiater
oder ein in der Sekundärversorgung tätiger Spezialist sollte
die Notwendigkeit einer Erhaltungs- oder prophylaktischen
Therapie überprüfen. Eine erhöhte Rezidivgefahr besteht bei-
spielsweise nach drei oder mehr Episoden einer Major Depres-
sion, nach schweren Episoden mit Suizidalität und psycho-
tischen Symptomen oder wenn es nach Absetzen des Anti-
depressivums zu einem Rückfall kam.
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Markku Timonen (Institute of Health Sciences, University of Oulu, Finland) et al.: Management of depression in adults. BMJ 2008; 336: 435—439.
Interessenkonflikte: Beide Autoren geben Verbindungen zu verschiedenen Pharmafirmen an, von denen sie Referentenhonorare oder Forschungsgelder erhalten haben.
Andrea Wülker
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