Transkript
Wann ist Metformin wirklich kontraindiziert?
Laktatazidose und Herzinsuffizienz differenziert betrachten
FORTBILDUNG
Ursprünglich standen die Biguanide im Ruf, gehäuft
lebensgefährliche Laktatazidosen zu verursachen.
Dieses Caveat ist mit dem heute einzig verbliebenen
Wirkstoff Metformin nicht mehr relevant. Aber wie
steht es um die Verabreichung beim Typ-2-Diabetiker
mit Herzinsuffizienz?
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Insbesondere die UK Prospective Diabetes Study (UKPDS) hat eindrücklich gezeigt, dass Metformin bei übergewichtigen Typ2-Diabetikern mit einer geringeren kardiovaskulären Mortalität assoziiert ist als Sulfonylharnstoffe oder Insulin und auch die Gesamtmortalität verringerte, was bei den Vergleichstherapien bei gleich guter Blutzuckerkontrolle nicht beobachtet wurde. Dennoch sorgen Ängste vor möglichen Nebenwirkungen vielerorts offenbar für Verunsicherung, sodass Metformin Zuckerkranken, die eigentlich davon profitieren würden, vorenthalten wird. Tatsächlich enthalten die heutigen Arzneimittelinformationen eine längere Liste von Kontraindikationen und Vorsichtsmassnahmen (Kasten). Die Autoren haben in der Literatur nach Evidenz für den Einsatz von Metformin bei Vorliegen von Kontraindikationen, besonders bei Patienten mit Herzinsuffizienz, gesucht.
Laktatazidose Die meisten Daten stammen noch vom seit Langem vom Markt genommenen Wirkstoff Phenformin. Dort wurde die Inzidenz der Laktatazidose auf 0,25 bis 1 Fall pro 1000 Patientenjahre geschätzt. Für Metformin liegt sie jedoch um ein Vielfaches darunter: 0 bis 0,09 Fälle pro 1000 Patientenjahre. Diese geringere Inzidenz könnte jedoch durch eine striktere Befolgung der Kontraindikationen nach den Erfahrungen mit Phenformin bedingt sein. Diesen Einwand entkräften die Autoren mit etlichen Literaturquellen, die dokumentieren, dass die Laktatazidoseinzidenz trotz zunehmenden Einsatzes auch bei Vorliegen von Kontraindikationen sehr tief blieb. Allerdings handelt es sich dabei um Beobachtungsstudien mit ihren methodischen
Schwächen. Dennoch stützen sie die Auffassung, dass Metformin bei Patienten mit Typ-2-Diabetes eine extrem seltene Ursache für eine Laktatazidose ist, und dies sogar bei Vorliegen von Kontraindikationen wie Nieren-, Leber- und Herzversagen, wie die Autoren hervorheben.
Herzinsuffizienz Typ-2-Diabetiker haben im Vergleich zu Nichtdiabetikern ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer kongestiven Herzinsuffizienz. Eine Studie bezifferte diesen Unterschied auf 30,9 Fälle pro 1000 Personen pro Jahr im Vergleich zu 12,4/1000 Personenjahre, also eine 2,5-fache Erhöhung. Der Unterschied war in den jüngeren Altersgruppen sogar noch ausgeprägter. In der gleichen Studie bestimmten Alter, ischämische Herzerkrankung, schlechtere Blutzuckerkontrolle sowie höherer Body-Mass-Index die Prädiktoren für eine Herzinsuffizienz. Die UKPDS schätzte die Herzversageninzidenz bei Typ-2-Diabetikern auf 2,3 bis 11,9/1000 Personenjahre. Umgekehrt ist Diabetes bei Patienten, die mit Herzinsuffizienz hospitalisiert weden, ein unabhängiger Prädiktor. Besonders hoch ist dieses Risiko bei Frauen. Die Herzinsuffizienz wird jedoch gewöhnlich unter den Kontraindikationen für Metformin aufgezählt (Kasten), weshalb vielen Typ-2-Diabetikern diese Behandlung vorenthalten wird.
Merksätze
■ Metformin ist bei Typ-2-Diabetikern, die kein Nieren-, Leber- oder Herzversagen haben, nicht mit einem erhöhten Laktatazidoserisiko verbunden.
■ Trotz zunehmender Missachtung der Kontraindikationen ist die Laktatazidoseinzidenz nicht gestiegen; Metformin könnte also auch bei «Kontraindikationen» sicher sein.
■ Der Einsatz von Metformin bei Patienten mit Herzinsuffizienz könnte mit einer geringeren Morbidität und Mortalität einhergehen, ohne dass es zu vermehrten Hospitalisationen oder erhöhten Laktatazidoserisiken kommt.
■ Die traditionellen Kontraindikationen für Metformin sollten besser erforscht und erneut beurteilt werden.
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FORTBILDUNG
Kontraindikationen und Warnhinweise für Metformin (nach Arzneimittel-Kompendium der Schweiz)
Kontraindikationen
■ Überempfindlichkeit gegenüber Metformin oder einem der Hilfsstoffe
■ diabetische Ketoazidose, diabetisches Koma und Präkoma ■ Nierenfunktionsstörungen oder Niereninsuffizienz (Serumkreatinin > 135 μmol/l
bei Männern und > 110 μmol/l bei Frauen) ■ akute Zustände mit Beeinträchtigung der Nierenfunktion, wie Dehydratation
(Diarrhö, wiederholtes Erbrechen), schwere Infektion, hohes Fieber, schwere hypoxische Zustände (Schock, Septikämie), Harnwegsinfektionen
■ Untersuchungen mit intravaskulärer Anwendung jodhaltiger Kontrastmittel (i.v.-Urografie, Angiografie usw.)
■ akute oder chronische Leiden, die eine Gewebshypoxie verursachen können, wie kardiale oder respiratorische Insuffizienz, kürzlich zurückliegender Myokardinfarkt, Schock
■ Leberinsuffizienz
■ akute Alkoholintoxikation, Alkoholismus
■ Schwangerschaft, Stillzeit
Warnhinweise
■ Laktatazidose: Sehr seltene (3 Fälle pro 100 000 Patientenjahre), aber ernste metabolische Komplikation, die mit einer hohen Mortalität assoziiert ist, wenn keine frühzeitige Behandlung erfolgt. Sie kann als Folge einer Metforminakkumulation auftreten. In den bislang bekannten Fällen von Laktatazidose unter Metformin litten die betroffenen Patienten an einer ausgeprägten Niereninsuffizienz. Die Inzidenz von Laktatazidose kann und soll durch regelmässiges Überwachen auch metforminunabhängiger Risikofaktoren, wie schlecht kontrollierter Diabetes, Ketoazidose, längeres Fasten, exzessiver Alkoholkonsum, Leberinsuffizienz und jegliche hypoxische Zustände, reduziert werden. Bei Verdacht auf Laktatazidose sollte Metformin abgesetzt und der Patient unverzüglich hospitalisiert werden.
■ Nierenfunktion: Weil Metformin über die Nieren ausgeschieden wird, sollten die Serumkreatininwerte vor Behandlungsbeginn und danach in regelmässigen Abständen kontrolliert werden. Besondere Vorsicht ist in Fällen angezeigt, bei denen sich die Nierenfunktion durch zugrunde liegende prädisponierende Faktoren oder allfällig verwendete Begleitmedikation verschlechtern könnte.
■ Jodhaltige Kontrastmittel: Metformin sollte vor oder zum Zeitpunkt der Untersuchung abgesetzt werden und frühestens 48 Stunden nach der Kontrastmitteluntersuchung und nur nach Überprüfung der Nierenfunktion und bei Vorliegen normaler Werte wiederverwendet werden.
■ Chirurgische Eingriffe: Metformin sollte 48 Stunden vor einer geplanten grösseren Operation abgesetzt und frühestens 48 Stunden danach wieder eingenommen werden.
■ Bei operativen Eingriffen oder anderen Ursachen für eine Dekompensation des Diabetes sollte die Applikation von Insulin in Erwägung gezogen werden.
■ Metformin alleine führt nicht zu Hypoglykämien. Jedoch ist Vorsicht geboten, sobald Metformin in Kombination mit Insulin, Sulfonylharnstoffen oder anderen hypoglykämischen Wirkstoffen angewandt wird.
Neuere Studien weisen jedoch darauf hin, dass Metformin in dieser Situation nicht absolut kontraindiziert sein muss und sogar nützlich sein könnte. Metformin verbessert die glykämische Kontrolle und hat einen günstigen Einfluss auf andere kardiovaskuläre Risikofaktoren inklusive Lipide.
Kanadische Populationsdaten Die Gesundheitsdatenbank der kanadischen Provinz Saskatchewan erlaubte die Beobachtung von 8866 Diabetikern, die anfangs der Neunzigerjahre neu auf orale Antidiabetika eingestellt worden waren. Unter Metforminmonotherapie verstarben 13,8 Prozent, unter Metformin plus Sulfonylharnstoff 13,6 Prozent und unter Sulfonylharnstoffmonotherapie 24,7 Prozent. Die kardiovaskuläre Mortalität betrug 7,0, 6,4 und 11,6 Prozent. Auch dies ist eine Beobachtungsstudie, ausserdem ist nicht sicher, ob die verschriebenen Medikamente auch tatsächlich genauso eingenommen wurden.
Kanadische Herzinsuffizienzdaten Eine Verlaufsstudie beobachtete 1833 Patienten mit bekannter Herzinsuffizienz und denselben Therapien (Metformin allein/Sulfonylharnstoff allein/Kombination). Nach einem Jahr und Adjustierung für Alter, Geschlecht, Begleitmedikationen und Arztkonsultationen wegen Herzinsuffizienz fanden die Autoren für Metformin allein (Hazard Ratio [HR] 0,66; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,44–0,97) oder in Kombination mit anderen Antidiabetika (HR 0,54; 95%-KI 0,42–0,70) eine reduzierte Mortalität aller Ursachen im Vergleich zur Sulfonylharnstoffmonotherapie. Auch die Langzeitmortalität nach bis zu neun Jahren lag tiefer (Sulfonylharnstoff allein 52%, Metformin allein 33%, Kombination 31%). Die Hospitalisationshäufigkeit aller Ursachen war unter Metforminmonotherapie sowohl nach einem Jahr als auch langfristig signifikant tiefer. Einwände sind auch hier, dass es sich um eine Beobachtungsstudie anhand von Registerdaten handelt und dass über die Schwere der Herzinsuffizienz und eine allfällige begleitende eingeschränkte Nierenfunktion nichts bekannt war.
US-amerikanische Herzinsuffizienzdaten Masoudi und Mitautoren kamen zu ähnlichen Beobachtungen bei Patienten mit Insulinsensitisern (Metformin und Glitazone). Die
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WANN IST METFORMIN WIRKLICH KONTRAINDIZIERT?
Behandlung mit einem Glitazon (HR 0,87; 95%-KI 0,80–0,94) oder mit Metformin (HR 0,86; 95%-KI 0,78–0,97) war mit signifikant tieferen Sterberisiken assoziiert. Eine günstige Beeinflussung der Mortalität ergab sich jedoch für Sulfonylharnstoff und Insulin nicht. Das Hospitalisationsrisiko war unter Glitazonen höher (1,06; 95%-KI 1,00–1,09) und unter Metformin tiefer (0,92; 95%-KI 0,92–0,99). Hier handelte es sich um eine retrospektive Kohortenstudie, die mit Vorsicht betrachtet werden sollte, da sie für viele Störfaktoren offen ist.
Schlussfolgerungen Eine zunehmende Datenmenge lässt heute darauf schliessen, dass eine Metforminbehandlung nicht zur Laktatazidose führen wird, wenn keine weiteren dazu beitragenden Faktoren vorliegen. Wichtiger ist die Konsequenz, dass eine Behandlung mit Metformin bei Patienten mit isolierter Herzinsuffizienz nicht absolut kontraindiziert ist und vielmehr therapeutisch nützlich sein kann. Bei solchen Patienten ist das Laktatazidoserisiko vernachlässigbar und steht nicht mit Metforminplasmakonzentrationen in Zusammenhang. Liegt aber gleichzeitig
eine anderes Organversagen vor, besteht ein Risiko. Metformin
bietet einen stärker ausgeprägten kardiovaskulären Schutz als
aus der antihyperglykämischen Wirkung allein erklärbar wird
und ist daher die Therapie der Wahl für Typ-2-Diabetes. Der
Entschluss eine Metforminbehandlung bei Vorliegen einer
Herzinsuffizienz zu beenden oder weiterzuführen sollte indi-
vidualisiert erfolgen.
■
A.A. Tahrani et al. (Department of Diabetes and Endocrinology, University Hospital of North Staffordshire, Stoke-on-Trent/UK): Metformin, heart failure, and lactic acidosis: is metformin absolutely contraindicated? BMJ 2002; 335: 508—512. doi: 10.1136/bmj.392555.669444.AE.
Interessenlage: Die Autoren deklarieren keine Interessenkoflikte zu haben und ihre Ausführungen nicht im Auftrag zu publizieren.
Halid Bas
Der Beitrag «Nur Metformin bei Diabetikern mit Herzinsuffizienz ohne Risiko» auf Seite 393 referiert eine neue Metaanalyse zu Morbidität und Mortalität unter verschiedenen Antidiabetika.
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