Transkript
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Gefährliche Jahre
Eine kurze Geschichte des männlichen Klimakteriums
Gesundheitsprobleme des alternden Mannes haben in den vergangenen Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit erfahren. In diesem Zusammenhang ist auch die Debatte über die «männlichen Wechseljahre» erneut aktuell geworden. Der vorliegende Beitrag zeigt den erstaunlichen wissenschaftlichen Wandel, den die Vorstellung von Wechseljahren beim Mann im Laufe der Geschichte durchlaufen hat, ihr anhaltendes Konfliktpotenzial und ihren – oftmals widersprüchlichen – Bedeutungsreichtum. Darüber hinaus soll deutlich gemacht werden, dass es sich hierbei keinesfalls um ein medizinimmanentes Phänomen handelt, sondern dass kulturelle Kontexte, politische Konstellationen und ökonomische Dynamiken mitzudenken sind, will man die Struktur dieser Debatte besser verstehen.
HANS-GEORG HOFER
Die Vorstellung, dass Männer im mittleren und höheren Alter durch eine Lebensphase beschleunigter Veränderungen im Körper gehen, reicht weit zurück. Schon in der Medizin der Antike und der Frühen Neuzeit war von «klimakterischen Jahren» die Rede. Ausgehend vom Begriff des «Klimakteriums» (von griechisch klimax = Leiter, Stufe beziehungsweise von klimaktis = Leitersprosse), kreiste die Vorstellung von einem stufenförmig verlaufenden Lebensweg des Menschen. Die Zahleneinheit 7 spielte hierbei – als wiederkehrendes Stufenjahr – eine besondere Rolle: Von der Geburt bis zum Tod war das menschliche Leben immer wieder tiefgreifenden Veränderungen unterworfen, die im Siebenjahresrhythmus auftraten.
So brachten die frühen Stufenjahre beschleunigte Phasen des Wachstums und der Reifung mit sich, die unmittelbar am Körper beobachtet werden konnten: Mit 7 Jahren verloren Kinder ihre Milchzähne und bekamen ihre bleibenden Zähne; mit 14 Jahren waren die Knaben in der Pubertät und wurden zu Männern; mit 21 Jahren kamen der Bart sowie ein grösseres Mass an Verstand hinzu; mit 28 Jahren war der Höhepunkt der körperlichen Stärke des jungen Mannes erreicht. Im höheren Lebensalter brachten die Stufenjahre ebenso Veränderungen mit sich. Es waren Phasen des beschleunigten Niedergangs oder gar des abrupten Verlustes an Kraft, Jahre des plötzlichen Auftretens von Krankheiten und der verstärkten Gefahren für Körper und Gemüt. Unter den Stufenjahren im Alter stach das 63. Lebensjahr als annus climactericus maximus hervor. In der Antike wurde diesem Jahr eine erhöhte Sterblichkeit zugeschrieben. So glaubte etwa der römische Universalgelehrte Marcus Terentius Varro, nachweisen zu können, dass diese auffallend häufig im 63. Lebensjahr gestorben waren. Spätantike Autoren wie Julius Firmicus Maternus nannten dieses Lebensjahr androklas («männerzerbrechend»). In der Frühen Neuzeit tauchte die Redewendung vom «Klimakterischen Jahr» erneut in zahlreichen gelehrten Schriften auf und dürfte auch Eingang in die Laienkultur gefunden haben. Wenn auch die Bedeutung der Zahlenmystik rund um das Klimakterium erheblich variierte und umstritten blieb, so war mit diesem Begriff ein Sinn- und Deutungsangebot verbunden, das die lebensweltlichen und körperlichen Erfahrungen der Menschen strukturierte (Stolberg 2007; Hofer 2007a). Im frühen 17. Jahrhundert gratulierten sich Männer öffentlich zum überstandenen annus climactericus, wie 1609 der kaiserliche Poet und Historiograf Abraham Hossmann einem Bekannten im böhmischen Oderwitz, Leonhard von Megkaw: «Gratulation. Und frewdenreiche Glückwünschung wegen gesunder volführung oder aussgestandenen gefährlichen […] 7. Stuffen Jahres, zu Latein Annus Climactericus genannt […] Dabey man sich zuerinnern hat der seltzamen zufälle die einem jeden in solchen wechsel jahren zu begegnen pflegen.» Mit dem Aufstieg der naturwissenschaftlichen Medizin, die auf exakte, experimentell bestimmbare und nachprüfbare Methoden der Wissensgewinnung setzt, wurde das Gedankengut von den Stufenjahren zunehmend als astrologische Spekulation und haltlose Zahlenmystik angesehen. Im bürgerlichen Leben
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des 19. Jahrhunderts spielten Vorstellungen von bestimmten Lebensaltern und insbesondere grafische Darstellungen von der Lebenstreppe jedoch eine anhaltend bedeutende Rolle. Und auch jene Ärzte, die um 1900 ihre privatärztliche Tätigkeit mit wissenschaftlicher Forschung zu verbinden suchten, waren von den Perioden- und Stufenlehren fasziniert. So versuchte der Berliner Arzt und Privatgelehrte Wilhelm Fliess, die menschliche Lebensspanne mit all ihren Schwankungen und Wechselfällen zu strukturieren. In eine ähnliche Richtung gingen die Forschungen des Wiener Psychologen Hermann Swoboda, der 1917 eine voluminöse Studie über «Das Siebenjahr» vorlegte und darin die These vertrat, dass eine rhythmische Abfolge den psychologischen und biologischen Lebensverlauf eines jeden Menschen prägen würde. Jahrzehnte später sollte auch die Lehre vom Biorhythmus des Menschen auf dieses Gedankengut zurückgreifen.
Freud und Mendel: Das männliche Klimakterium
als Nervenkrankheit
Die moderne medizinische Diskussion über das Klimakterium
des Mannes wurde an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhun-
dert von Nervenärzten ins Rollen gebracht. Schon 1895 hatte
der junge Wiener Nervenarzt Sigmund Freud im Zuge seiner
Auseinandersetzung mit den sexualpathologischen Aspekten
der Neurasthenie postuliert: «Es gibt Männer, die wie die
Frauen ein Klimakterium zeigen und zur Zeit ihrer abnehmen-
den Potenz und steigenden Libido Angstneurose produzieren.»
Freud ging hierbei von einer starken Steigerung der sexuellen
Erregbarkeit von Frauen und Männern im Klimakterium aus,
die nicht nur im Gegensatz zur nachlassenden Potenz stehe,
sondern auch eine Überforderung der Psyche zur Folge habe.
Jahre später, in seinen amerikanischen Vorlesungen «Über Psy-
choanalyse» (1909), wiederholte Freud diese Ansicht: «Es gibt
auch beim Mann ein ‹Klimakterium› mit den abfolgenden
Krankheitsdispositionen.» Um welche aber handelte es sich
hierbei?
1910 trat der Berliner Nervenarzt Kurt Mendel
mit einem Aufsatz an die Öffentlichkeit, der die
Anerkennung des Klimakteriums des Mannes
als Krankheitskategorie forderte. Mendel be-
schrieb darin zahlreiche Fälle von alternden
männlichen Patienten, welche über Beschwer-
Kurt Mendel (1874–1946)
den berichteten, die denen von Frauen in den Wechseljahren verblüffend ähnlich waren:
«In jedem einzelnen meiner Fälle», so Mendel, «wurde über
Blutwallungen nach dem Kopfe, Angstgefühl mit plötzlichem
Schweissausbruch, Herzklopfen, Brustbeklemmung, allgemeines
Mattigkeitsgefühl und Schlaflosigkeit geklagt.» Darüber hinaus
sei es bei diesen Patienten zu nervösen und psychischen Symptomen gekommen, wie sie auch Frauen im Klimakterium aufzuweisen hätten: emotionale Labilität, Gedächtnisschwäche, Launenhaftigkeit und melancholische Verstimmungen. Das Klimakterium des Mannes setzte laut Mendel bei Männern zwischen dem 47. und 57. Lebensjahr ein und war als ein episodenhafter Zustand aufzufassen, der nach zwei oder drei Jahren wieder vorübergehe. Beunruhigend war das Climacterium virile also nicht. Männer, die dieses «kritische Alter» durchliefen, könnten beruhigt ihrer «völligen Wiederherstellung entgegensehen». Der Hinweis auf ein Klimakterium beim Mann half sowohl Freud als auch Mendel, die Beschwerden einer hervorstechenden Patientengruppe der nervenärztlichen Praxis – Männer aus dem Bürgertum zwischen 45 und 60 Jahren – besser zu verstehen (Hofer, 2007a). So wie Freud stand auch Mendel mit seinem Konzept des Climacterium virile eindeutig unter dem Einfluss der Neurasthenielehre, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zum dominanten Erklärungsmuster für psychische und emotionale Leiden von Männern aufgestiegen war. Dementsprechend wurde das männliche Klimakterium als eine Nervenkrankheit angesehen: «Die Triebfeder der Energie des Mannes bleibt sein Nervensystem. […] Um die Wechseljahre des Mannes zu heilen, müssen wir sein Nervensystem behandeln.» (Bernard Hollander, 1910) Ihren klimakterischen Patienten verordneten die Nervenärzte ein breites Spektrum an elektrotherapeutischen, balneologischen und psychotherapeutischen Praktiken: Trinkkuren und Sanatoriumsbehandlungen, elektrische Duschen und Körperfaradisation sowie eine ausführliche Aussprache mit dem Kranken würden die Beschwerden lindern.
Die Wechseljahre als Hormonmangelproblem So kontrovers die Debatte über das männliche Klimakterium geführt wurde; in der Frage der Ursache brachten die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg weitgehenden Konsens. Nicht mehr das Nervensystem, sondern die Keimdrüsen, Vorgänge der «inneren Sekretion», waren für das Altern verantwortlich. «Ein Mann ist so alt wie seine Keimdrüsen», hatte der Wiener Verjüngungsforscher Eugen Steinach behauptet. Die 1920er und 1930er Jahre brachten intensive Phasen der Sexualhormonforschung, zu diesem Zeitpunkt das aussichtsreichste Forschungsfeld der neu entstandenen Endokrinologie. Charakteristisch für diese Forschungen war eine enge Kooperation mit der pharmazeutischen Industrie, die über leistungsfähige Laboratorien, spezialisierte Mitarbeiter sowie über finanzielle Ressourcen verfügte. Als Beispiel dafür kann der Wettlauf um das «männliche» Hormon Testosteron gelten. An unterschiedlichen Orten wurde unter Hochdruck an der Aufklärung der Struktur des männlichen Keimdrüsenhormons gearbeitet: In den Laboratorien von Ciba in Basel, Schering in Berlin und Organon in Amsterdam forschten in scharfer Konkurrenz Forschergruppen zur Struktur und der synthetischen Gewinnung der Sexualhormone. Mehrere Tonnen tierischer Drüsen (vor allem Stierhoden) und
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Tausende Liter männlichen Harns dienten hierbei als Ausgangsmaterialien. Parallel dazu wurde im Hinblick auf die quantitative Bestimmung von Hormonen eine Vielzahl von Tierexperimenten durchgeführt. 1935 gelang – nahezu zeitgleich – den Forschergruppen rund um die Biochemiker Adolf Butenandt in Berlin, Ernst Laqueur in Amsterdam und Leopold Ruzicka in Basel die Isolierung (Laqueur) und synthetische Gewinnung (Ruzicka, Butenandt) des Testosterons.
1939 wurden Adolf Butenandt und Leopold Ruzicka mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Die Isolierung und synthetische Gewinnung von Sexualhormonen beider Geschlechter war insbesondere für die therapeutische Verwendung von Hormonen von Bedeutung, da es von nun an möglich war, eine beliebige und genau dosierbare Menge herzustellen. Vor diesem Hintergrund erwies sich die synthetische Herstellung von Hormonen als grosse Erleichterung. Ende der 1930er Jahre boten Schering mit Testoviron, Ciba mit Perandren und Organon mit Hombreol erstmals solche Hormonpräparate für Männer an. Sie waren nicht allein zur Behandlung der Unterfunktion der männlichen Keimdrüsen gedacht, sondern sollten auch Störungen der geschlechtlichen Entwicklung von Jungen (Hypogonadismus) beseitigen helfen (Sengoopta, 2006). Im nationalsozialistischen Deutschland wurde Testoviron schnell zum Bestseller: Allein im Jahr 1943 wurden knapp 700 000 Ampullen dieses Injektionspräparats verkauft. In welchen medizinischen Institutionen und Kontexten dieses Präparat zur Anwendung kam, konnte bisher noch nicht geklärt werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die rasche und weite Verbreitung von Testoviron in den frühen 1940er Jahren im engen Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Arbeits- und Leistungsmedizin zu sehen ist. Im «totalen Krieg» hatte das Injizieren von Sexualhormonen die Reaktivierung und Erhaltung körperlicher Höchstleistungen zum Ziel. Gleichzeitig lassen sich für die Zeit des Zweiten Weltkriegs kaum noch deutschsprachige Veröffentlichungen über die Wechseljahre des Mannes nachweisen. Offensichtlich geriet das Climacterium virile ins Abseits. Die Gründe dafür liegen sicherlich nicht nur in den mangelnden klinischen Anwendungsmöglichkeiten dieses Konzepts sowie in der Überlagerung durch regimekonforme Forschungsinteressen wie etwa der Infertilitätsforschung und der Reproduktionsmedizin; sie haben auch mit den im Nationalsozialismus verstärkten Konstruktionsprozessen «harter» und «biologisch eindeutiger» Männlichkeiten zu tun. Dies wird nicht nur am Beispiel der Vermarktungsrhetorik von Testoviron deutlich, die in den Kriegsjahren maskuline Leistungsfähigkeit gegen-
über Formen männlicher Fragilität und Verweiblichung scharf abgrenzte. Auch in den einschlägigen medizinischen Diskussionsforen und auf ärztlichen Fortbildungsveranstaltungen wurden die «Physiologie und Pathologie des Mannes» auf soldatische Männlichkeitsideale hin ausgerichtet.
Altern und Männlichkeit im Wirtschaftswunder
An Prinzipien der eindeutigen Geschlechterdifferenz hielt auch
die in den 1940er und 1950er Jahren stark wachsende medi-
zinische Alternsforschung fest, deren Leitfigur der Leipziger
Gerontologe Max Bürger wurde. Bürger vertrat das Konzept
der – wie er es nannte – «sexualdualistischen Nosologie»:
Alternde Männer und alternde Frauen hatten laut diesem
Konzept a priori verschiedene Körper mit jeweils spezifischen
Eigenschaften und spezifischen Krankheiten. In der Gynäkolo-
gie galt die Menopause beziehungsweise das Klimakterium als
eine nahezu jede Frau betreffende und behandlungsbedürftige
Lebensphase, der man mit Hormontherapien effektiv entge-
gentreten konnte. Demgegenüber hatte die Vorstellung von
Wechseljahren beim Mann keinen Platz.
Dies bedeutet nicht, dass die Thematik des «alternden Man-
nes» plötzlich verschwunden war – im Gegenteil: Die 1950er
Jahre brachten eine intensive Debatte über die Gesundheits-
probleme von Männern mittleren Alters. Ein abrupter Abfall
der Leistungsfähigkeit und Schaffenskraft, vorzeitige Alters-
erscheinungen und verfrüh-
ter Tod – all das wurde in der
Nachkriegszeit intensiv dis-
kutiert. «Wenn man schon in
früheren Zeiten von einem
Leistungsknick im fünften
Lebensjahrzehnt sprach, so
muss man heute noch viel
stärker mit diesem Leistungs-
abfall rechnen», hiess es An-
fang der 1950er Jahre in
einer pharmazeutischen Wer-
bebroschüre, die dem Men-
«Okasa»: Broschüre der Hormo-Pharma, Berlin (1950er Jahre)
schen über 40 mittels eines Hormon- und Vitaminpräparats die Erneuerung der
Kräfte versprach: «Ein grosser Teil derer, die heute arbeiten, um
wieder auf die Beine zu kommen, spüren das Nachlassen der
Kräfte, den Schwund der Leistungsfähigkeit, den Verschleiss.»
Allerdings: Wer über Altern und Leistungsfähigkeit von Män-
nern in den 1950er Jahren sprach, tat dies nicht mehr mit dem
Hinweis auf erschöpfte Nerven oder hormonelle Veränderun-
gen, sondern auf Herz- und Kreislauferkrankungen. Unter dem
Schlagwort der «Managerkrankheit» wurden Bluthochdruck
und Herzinfarkt zu typischen Krankheiten einer Zeit, die im
Übergang von einer Zusammenbruchs- zu einer Modernisie-
rungsgesellschaft stand. Männer zwischen 45 und 60 Jahren,
die in leitenden Stellungen in Wirtschaft, Industrie und Politik
tätig waren; aber auch Journalisten, Ärzte und Lehrer galten
als besonders gefährdet die Managerkrankheit zu erleiden.
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Charakteristisch für die Rede von der Managerkrankheit war der stereotyp gebrauchte Hinweis auf ein von Hetze und Zeitdruck gekennzeichnetes Berufsleben. Beklagt wurde die «Amerikanisierung des Alterns», die einseitig zulasten der Gesundheit von Männern gehe. Das «Wirtschaftswunder», so erschien es vielen, war nur um den Preis von vorzeitig gealterten Männern zu bekommen. Der historische Erklärungszusammenhang rund um die Konjunktur der Managerkankheit in den 1950er und 1960er Jahren hat solcherart viel mit den politischen und ökonomischen Wandlungsprozessen in Westdeutschland zu tun. Erst Ende der 1960er Jahre begann sich im Zuge der expandierenden Andrologie die medizinische Aufmerksamkeit erneut dem männlichen Klimakterium zuzuwenden. 1969 etwa sah der Hamburger Androloge Carl Schirren die männlichen Wechseljahre als «eine Realität, dessen Kenntnis für den Arzt von besonderem Wert sein dürfte». Endokrinologische und biochemische Untersuchungsmethoden, die das langsame Absinken der Androgenproduktion des Mannes erfassten, wurden hierbei mit neurozirkulatorischen und psychiatrischen Beschwerden in einen Zusammenhang gebracht. Der «klimakterische Beschwerdekomplex des Mannes» (Wolfgang Nikolowski) war wiederentdeckt und stiess unter begrifflichen und konzeptionellen Neuschöpfungen wie Andropause oder PADAM (partielles Androgen-Defizit des alternden Mannes) auf immer stärker werdendes Interesse in medizinischen und medialen Öffentlichkeiten.
Der neue Streit um die Wechseljahre des Mannes In den 1990er Jahren hat die Thematik der männlichen Wechseljahre einen weiteren Aufmerksamkeitsschub erfahren. Dazu hat eine Reihe von Gründen und Einflussfaktoren beigetragen, die hier nur kurz erwähnt werden können. Zu nennen sind die wissenschaftlichen und professionspolitischen Interessen der Andrologie und der Anti-Aging-Medizin, die von politischer Seite zunehmend als förderungswürdig angesehene Männergesundheitsforschung, die Absatzinteressen der pharmazeutischen Industrie, die Männer zwischen 45 und 60 als kaufkräftige Klientel entdeckt haben, ein generell stark angestiegenes mediales Interesse an geschlechterspezifischen Gesundheitsfragen sowie das in den vergangenen Jahren rasch wachsende Angebot der «Webmedizin», das zunehmend auch von Männern in mittleren und älteren Jahren in Anspruch genommen wird (Hofer 2007b). Kritisch zu sehen an der erneuten Debatte um die männlichen Wechseljahre ist neben der wenig sinnvollen dichotomischen Zuspitzung des Themas auf «Fakt» oder «Fiktion» die Überbewertung hormoneller Erklärungsansätze sowie – daraus resultierend – die Reduktion alternder Männer auf ihren Testosteronspiegel. Die andrologische Forschung hat bisher wesentliche Fragen der Hormonsubstitution beim alternden Mann unbeantwortet gelassen. Es ist nach wie vor offen, welche Bedeutung Hormone insgesamt für den Gesundheitszustand, die Leistungsfähigkeit, die Sexualität, die Stimmungslage sowie für die kognitiven Eigenschaften des altern-
den Mannes haben. Ebenso unklar ist, wie der Normbereich
für den Testosteronspiegel «des alternden Mannes» eruiert und
allgemein definiert werden kann und welche Parameter hierfür
heranzuziehen sind. Die bisherigen Studien bestätigen den
Verdacht, dass sich eine biochemisch eindeutige Trennschärfe
nicht einziehen lässt für jene komplexen körperlichen, menta-
len und emotionalen Veränderungen, die Männer als Wechsel-
jahre empfinden mögen. Ein nachgewiesener Androgenman-
gel muss nicht unbedingt die Ausbildung von klinischen Sym-
ptomen zur Folge haben; umgekehrt können ältere Männer
mit überdurchschnittlich hohen Testosteronwerten eine Reihe
von Symptomen ausbilden, sodass in diesen Fällen von einer
Hormonersatztherapie keinerlei therapeutische Effekte zu
erwarten sind. Schliesslich besteht auch Uneinigkeit darüber,
welche Applikationsformen des Testosterons – oral, intramus-
kulär oder transdermal – zum Einsatz kommen sollten.
Angesichts dieser Unsicherheiten erscheint der in populären
Männergesundheitsbüchern häufig vorgetragene hormonelle
Fortschrittspositivismus unangebracht. Der Ansatz, alles auf
Hormone zurückzuführen, ist viel zu mechanistisch und greift
als monokausale Erklärung für Altersbeschwerden beim Mann
zu kurz. Hier gilt es, von der differenzierter geführten Diskus-
sion über die Wechseljahre bei Frauen zu lernen. Wenig hilf-
reich sind freilich auch Versuche, die männlichen Wechsel-
jahre pauschal als Erfindung der pharmazeutischen Industrie
zu «entlarven» und somit als eingebildete Beschwerden in
Bausch und Bogen zu verwerfen; die Gesundheitsprobleme al-
ternder Männer existieren wirklich, und manche ähneln frap-
pierend jenen von Frauen in den Wechseljahren. Es ist an der
Zeit, die Diskussion darüber mit mehr Gelassenheit und vor
allem Problembewusstsein zu führen.
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Anschrift des Verfassers: Dr. Hans-Georg Hofer
Medizinhistorisches Institut, Universität Bonn Sigmund-Freud-Strasse 25, D-53105 Bonn
E-Mail: hans-georg.hofer@ukb.uni-bonn.de Internet: www.mhi.uni-bonn.de
Interessenkonflikte: keine deklariert
Weiterführende Literatur: Hofer, Hans-Georg: Medizin, Altern, Männlichkeit: Zur Kulturgeschichte des männlichen Klimakteriums, in: Medizinhistorisches Journal 42 (2007), Heft 2, S. 210—245. [Hofer 2007a] Hofer, Hans-Georg: Climacterium virile, Andropause, PADAM. Zur Geschichte der männlichen Wechseljahre im 20. Jahrhundert, in: Martin Dinges (Hg.): Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800 bis ca. 2000 (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte-Beihefte 27). Stuttgart 2007, S. 123—138. [Hofer 2007b] Sengoopta, Chandak: The Most Secret Quintessence of Life. Sex, Glands, and Hormones, 1850—1950, Chicago 2006. Stolberg, Michael: Das männliche Klimakterium. Zur Vorgeschichte eines modernen Konzepts (1500–1900), in: Martin Dinges (Hg.): Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel, ca. 1800 bis ca. 2000, Stuttgart 2007, S. 105—121.
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