Transkript
FORUM
Fight or Flight: Wenn wir mit dem Patienten zum Notfall werden
Aggression im klinischen Alltag ist häufig. Die Endpunkte Mord und Selbstmord, bei umgekehrten Vorzeichen, sind ähnlich wenn nicht identisch. Mit dem Wenden der Agression gegen Ärztin oder Arzt beginnt das Sägen am tragenden Ast. Erreicht das Geschehen existenzielle Bedrohung von Ärztin oder Arzt ist der Ast durchgesägt. Spätestens dann droht Zerstörung: Es geht um meistern oder gemeistert werden.
MAX KÄLIN
Distanz einen Bewaffneten1 beherrschen). Es folgte ein Augezu-Auge-Geplänkel worauf sich Herr X zurückzog. Ich erstattete Anzeige auf Anraten seines Psychiaters, der meinte Herr X müsste therapeutisch aus dem Verkehr gezogen werden. Das soll dann tatsächlich auch geschehen sein.
Zusammenfassung
Aggression im klinischen Alltag ist häufig und reicht von der Bagatelldrohung bis zum Mord. Die Bewältigung dieser Situation benötigt Vorbereitung. Diese umfasst das Erkennen des Rollenwechsels von Arzt-Patient in Gegner-Gegner, Wissen um die eigenen dialogischen Möglichkeiten (Talk-down), und Wissen um die eigenen physischen Möglichkeiten und um die Grenzen bis zu denen man bereit ist diese einzusetzen. Jede Praxis braucht ein Gewaltdispositiv.
Fall eins Um 9 Uhr bekam ich von der Klinik die Nachricht, Herr X hätte eine Morddrohung gegen mich hinterlassen. Es bestehe kein Zweifel. Herr X war seit ein paar Jahren Patient bei mir. Neben allgemeinmedizinischen Problemen war er manisch-depressiv mit einer Neigung zu Nötigung und physischer Gewalt. Von seinem Psychiater wusste ich, dass er zwei Jahre zuvor eine Pistole besessen hatte, und ich wusste nicht, ob die Polizei ihm diese abgenommen oder belassen hatte. Ich rief die Polizei an, Antwort: «Es sei ja nichts passiert … üblicherweise passiere nichts … derartige Drohungen seien Alltag … im Übrigen solle ich mich wieder melden.» Um 14 Uhr, ich war allein in meiner Praxis, läutete es und Herr X stand vor mir. Er trug einen Mantel, die rechte Hand in der Manteltasche. Er lächelte leise und sagte er habe ein Problem. Ich: «Sicher.» Herr X: «Darf ich hereinkommen?» Ich: «Sicher nicht.»
Unsere Distanz betrug etwa zwei Meter. Ich hielt seinen rechten Ellbogen im Auge. Ich war bereit ihn bei der geringsten Ellbogenbewegung anzugreifen (mit Glück kann man auf diese
Analyse von Fall eins Die grundsätzliche hippokratische Verpflichtung primum nil nocere2 als moralische Voraussetzung unseres Handelns, als eine der Bedingungen die Vertrauen zwischen Arzt und Patient erst möglich macht, hat eine stillschweigende Voraussetzung. Patient und Arzt wenden sich zusammen gegen die Krankheit und nicht gegeneinander. Aber genau diese Voraussetzung ist hier ausser Kraft gesetzt, der Patient bedroht den Arzt statt sich mit ihm gegen eine Bedrohung zu verbünden. Die Rolle ArztPatient ist somit gewandelt in die Rolle Gegner-Gegner. Die Diagnose heisst «Arzt-Patient zu Gegner-Gegner Rollenwechsel» (AP zu GG). Damit gelten situationsbezogen neue therapeutische Regeln, insbesondere «Fight or Flight»3 (Kampf oder Flucht). Die Intervention kann hier auch die Körperverletzung des zum Aggressor gewandelten Patienten zulassen.
1 Natürlich konnte ich nicht wissen, ob ich einem Bewaffneten gegenüberstand, und falls ja, ob er die Waffe durchgeladen, entsichert oder am Druckpunkt hatte. Die Situation ist analog zu einer Schusswaffe an sich: Bis man sie entlädt, ist sie als geladen zu betrachten.
2 Diese Formulierung wird dem römischen Arzt Scribonius Largus (1. Jahrhundert AD) zugeschrieben. 3 Walter Bradford Cannon (1871—1945) prägte 1915 diesen Begriff.
384 ARS MEDICI 9 ■ 2008
F I G H T O R F L I G H T: W E N N W I R M I T D E M PAT I E N T E N Z U M N OT FA L L W E R D E N
Zu beachten — für Praktikerinnen und Praktiker
■ Es ist ratsam sich mental auf derartige Situationen vorzubereiten. Diese Vorbereitung beinhaltet zuerst eine Klärung der Haltung die man gewillt ist einzunehmen. Ordne ich mich dem primum nil nocere grenzenlos unter oder nicht? Diese Klärung gemacht zu haben ist wichtig, um überflüssigen Gedanken, die im Ernstfall Zaudern begünstigen, nicht auch noch ausgesetzt zu sein. Für die Diagnose «AP zu GG» stehen etwa 5 Sekunden zur Verfügung. Dann sollte das Notfalldispositiv greifen. Die Machtumkehr hat stattgefunden, die schwächende Wirkung der Machtumkehr meist noch nicht. Sie braucht oft länger4 bis zur vollen Ausbildung. Einen Goliath zu unterschätzen ist dumm, vor ihm Angst zu haben katastrophal. In dieser Situation setzt Angst nicht ungeahnte Kräfte frei, sondern sie lähmt und reduziert die Optionen gewaltig. Ab «AP zu GG»-Diagnose gilt der Rat: entspannte Atmung bei Wachheit und 100-prozentige Handlungsbereitschaft. Erfahrung zeigt, dass diese Haltung im unmittelbaren Handlungsvorfeld5 oft beim Gegenüber ankommt und abkühlend wirkt.
■ Wie weit bin ich mental gewillt einzustecken? Auch wenn ich wegen körperlicher Einschränkungen mir vieles gefallen lassen müsste, ist es wichtig zu wissen wo die Grenzen im Ernstfall liegen. Diese Einsicht in das eigene Wesen reduziert die Wahrscheinlichkeit emotionaler Kontrollverluste und begünstigt die Dialogfähigkeit im Handlungsvorfeld (Talk-down).
■ Wie weit bin ich physisch fähig zu gehen bei Überlegenheit? Um einen Menschen mit sanften Mitteln, ohne ihn zu verletzen, zu beherrschen, braucht es erfahrungsgemäss einen Gewichtsvorteil von gut 20 kg, Ausdauer und viel Training6. Die notwendige Ausdauer ist nicht zu unterschätzen, da einmal engagiert bis zum Entsatz durchgehalten werden muss.
■ Wie weit bin ich physisch gewillt zu gehen bei Unterlegenheit? Unterlegenheit ist relativ und in einem gewissen Masse kompensierbar durch den Schaden, den ich bereit bin dem Aggressor oder der Aggressorin zuzufügen.
■ Das Problem keinesfalls unterschätzen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen mit langjähriger Praxis erzählen haarsträubende Erlebnisse. Diejenigen, die von Patientinnen oder Patienten vermöbelt wurden, verloren alle ihre Praxen und mussten über Jahre in Behandlung. Es scheint, dass derartig verursachte Ängste und Kränkungen schwer zu überwinden sind. Der oft erteilte Rat sich nicht zu wehren, unabhängig davon ob man entsprechende Fähigkeiten hat, kommt zu einem hohen Preis.
■ Jede Praxis braucht ein Gewaltdispositiv (analog dem HerzKreislauf-Stillstand-Dispositiv): 1. Polizei7. 2. Fluchtwege. Gefangene Räume vermeiden. Wo kann man um Hilfe rufen und wird wahrscheinlich gehört (Fenster, Balkon)? Aus welchen Fenstern kann man springen?
■ Hinweise zur medikamentösen Schnelltranquilisation 8. Diese ist selten möglich und nachdem Hilfe eingetroffen ist meist unnötig. Voraussetzung ist eine O2-Kontrolle mit Pulsoximeter. Haloperidol (Haldol®): 2,5 mg bis 10 mg i.m. oder i.v. Chlorpromazin (Chlorazin®): 25 mg bis 50 mg p.o. oder i.m. Olanzapin (Zyprexa®): 2,5 mg bis 10 mg i.m.
4 Angststarre mit fast sofortigem Eintreten kommt vor. Ob das auf einen zutreffen könnte ist schwer abzuschätzen. Hier hilft die Rückschau wie man sich in Gefahrensituationen verhalten hat und welches Mass an Risikoaversion man allgemein einhält. Verwandt dazu ist der Totstellreflex, der in gewissen Situationen Überleben begünstigen kann. Beide Reflexe sind ihrer Natur nach nicht steuerbar.
5 Gemeint ist hier die gespannte Atmosphäre bei drohender körperlicher Auseinandersetzung. Selbstverständlich gelten hier das Verbale und das Averbale, in einem erweiterten Sinne, ebenfalls als Handlung.
6 Es gelang mir in zwei Situationen Tobende über gut eine Viertelstunde sanft in Schach zu halten. In beiden Fällen waren es Frauen mit einem Gewicht von zirka 50 kg, ich wiege zirka 70 kg. Im einen Fall handelte es sich um eine Suizidale, die sich aus einem Fenster stürzen wollte, und im anderen Fall um eine Frau, die im Muttergotteswahn die Welt mit einem Hammer zur Räson zwingen wollte.
7 In den eigentlichen Notsituationen (inklusive Typ «fürsorgerischer Freiheitsentzug») ist meine Erfahrung mit der Polizei sehr gut. Ich ersuche immer um mindestens zwei Polizisten, inklusive möglichst eine Polizistin. Überlegenheit der Zahl und Weiblichkeit entschärfen ungemein.
8 Richard Viken: Combative Delirium. American Family Physician. 2008, 77 (No. 2): 237—238.
Fall zwei Vor mehr als zwanzig Jahren bewarb ich mich um eine Stelle als Arzt in einem Spital in New York. Vor dem Interview ergab sich folgender Dialog: Sie: «Heute morgen wurde der Mörder von Dr. Y verhaftet.» Ich: «Oh?» Sie: «Er war Schöffe in einem Kunstfehlerverfahren gegen Dr. Z gewesen in dem dieser frei gesprochen wurde.» Ich: «Oh?» Sie: «Er scheint dieses Urteil als ungerecht empfunden zu haben. Um es zu korrigieren hat er Dr. Z aufgesucht, diesen nicht gefunden, und dann halt Dr. Y erschossen.»
Analyse von Fall zwei Hier spielt Geheimnisvolles. Betrachten wir ein okzidentales und ein orientales Erklärungsmodell. Die Griechen sahen es so: Atropos (␣, die Unabwendbare), älteste der drei Moiren, hat als Zerstörerin die Aufgabe den Lebensfaden zu durchtrennen (ihre nordische Kollegin ist Skuld, die jüngste der drei Nornen). Die schicksalhafte Todeszeit wird bei der Geburt unabänderlich festgelegt und ist vom Menschen anzunehmen. Kommt die Zeit des Sterbens, so kann keine menschliche Handlung in das Geschehen eingreifen. Die Hindus sahen es anders. Ihr Karmamodell des Universums ist komplexer. Es trifft die Annahme, dass die Situation eines Wesens durch Handlungen in seiner jetzigen Existenz und
ARS MEDICI 9 ■ 2008 385
FORUM
Handlungen in allen vorherigen Existenzen bedingt ist. Da das Modell die Wirkungen der Handlungen vieler Existenzen, inklusive der Gegenwärtigen, berücksichtigt, wird ein Wesen Schmied seines eigenen Glücks und Unglücks. Aus griechischer Sicht wäre der Tod von Dr. Y Konsequenz eines externen Mechanismus und aus hinduistischer Sicht Konsequenz eines Geschehens zwischen Mörder, Dr. Z und Dr. Y. Vordergründig anerkennen beide Sichtweisen die Kategorien Opfer und Täter, hintergründig kann bei den Griechen eine Konsequenz wie der Tod nur manifest werden, wenn sie in einem göttlichen Plan verankert ist und bei den Hindus nur wenn die wirkenden Ursachen und Bedingungen dazu reif sind. Obschon weder für das eine noch das andere Modell eine empirische Basis besteht, noch sich Testbarkeiten abzeichnen, spielt es eine Rolle, ob man einer dieser Erklärungsformen oder einem vollständig agnostischen Standpunkt Plausibilität einräumt. Derartige hintergründige Ahnungen haben einen Einfluss auf das Denken und Handeln im Allgemeinen, aber insbesondere auch in der existenziellen Bedrohung.
Analyse allgemein Obigen Fällen ist eine fast augenblickliche Verschiebung der Machtverhältnisse gemeinsam. Diese Verschiebung ist allgemein pathognomonisch, sie ist Kardinalsymptom. Wir sind uns als Ärztinnen und Ärzte gewohnt uns in einer Position der Macht, fundiert auf Wissen, Können und Autorität zu fühlen und daraus zu handeln. Wir sind es nicht gewohnt diese wirklich infrage gestellt zu sehen. Ein bisschen vielleicht, aber nicht auf existenzielle Art. Wir sind uns gewohnt uns mit Argumenten unter Zuhilfenahme von Autorität und Magie durchzusetzen, bei gleichzeitiger und ungeprüfter Überzeugung, dass dies unseren Patientinnen und Patienten am besten dient. Voraussetzung, dass das gelingt, was es meistens tut, ist
Einsicht in die Begrenztheit unseres Wissens und Könnens und
damit eine glaubwürdige innewohnende Bescheidenheit. Wir
lernen diese Bescheidenheit, auch als Echtheitszeichen unse-
res Standes gewertet, von Vorbildern in unserem Beruf und
durch die hippokratische Tradition als Ganzes. Im besten Fall
wird sie Teil unseres Wesens und im schlechtesten Fall Fassade
und damit Auslöserin von Aggressionen im machttieferen
Gegenüber.
Genau wie wir bei linksseitigen Brustschmerzen zuerst an
einen Herzinfarkt denken müssen, dürfen wir bei einer «AP zu
GG»-Transition nicht auf hintergründige Hemmungen (ethi-
sche oder andere) der Patientenseite zählen. Weiter müssen
wir beachten, dass unsere eigenen hintergründigen Hem-
mungen uns in dieser Situation nicht behindern, lähmen oder
zerstören. Die auf die «AP zu GG»-Diagnose folgende Interven-
tion muss unsere ethischen Hemmungen, unsere mentalen
und physischen Fähigkeiten, und die Bereitschaft der Nil-
nocere-Grenzüberschreitung berücksichtigen. Diese Grenzüber-
schreitung kann man offen lassen oder begrenzen. Ein Christ
kann beispielsweise hier die Haltung einnehmen: Ich werde
versuchen den Aggressor zu beruhigen. Greift er mich an,
werde ich ihn nicht physisch schädigen. Dann opfere ich mich
im Kontext der übergeordneten Lehre Jesu und nehme alle
Konsequenzen in Kauf. Ein Grenadier: Ich werde mit sanften
Mitteln eingreifen, aber nicht mit harten. Und wenn das nicht
genügt, dann soll geschehen was geschieht.
■
Anschrift des Verfassers: Dr. med. Max Kälin
Arzt für Allg. Medizin FMH Badenerstrasse 334 8004 Zürich
E-Mail: maxkalin@gmail.com
386 ARS MEDICI 9 ■ 2008