Transkript
FORTBILDUNG
Fibromyalgie – ein Problem der Psyche!
Bagatellbefunde werden zur Konzessionsdiagnose erhoben
Bei der sogenannten Fibromyalgie handelt es sich nicht um ein klar definiertes, organisches Krankheitsbild, sondern um ein funktionelles Schmerzsyndrom, das nur deshalb meist dem rheumatologischen Formenkreis zugeordnet wird, weil die Projektion seelischer Störungen häufig in den Bewegungsapparat erfolgt.
Merksätze
■ Die Fibromyalgie ist kein klar definiertes Krankheitsbild, sondern ein funktionelles psychovegetatives Schmerzsyndrom, das meist auf einer seelischen Störung beruht.
■ Organische Ursachen lassen sich bei der Fibromyalgie nicht finden. Häufig werden jedoch Bagatellbefunde zu Konzessionsdiagnosen ohne Krankheitswert erhoben.
CHRISTOF SPECKER
Der Krankheitsbegriff Fibromyalgie, den man bis 1976 noch gar nicht kannte, liefert bei Google (Stand Januar 2008) 8,2 Millionen Treffer internationaler Webseiten. Der Begriff Fibromyalgie (FM) oder Fibromyalgie-Syndrom (FMS) beschreibt das Krankheitsbild eines «chronisch-behindernden» Schmerzsyndroms, auch als «Muskel-» oder später «Weichteilrheuma» bezeichnet. Das American College of Rheumatology (ACR) veröffentlichte 1990 Klassifikationskriterien für das FMS (Kasten Übersicht).
Soma versus Psyche Es haben sich in der Rheumatologie zwei Sichtweisen dieses Krankheitsbilds entwickelt. Eine, die eine noch nicht erkannte organische Erkrankung (z.B. im Sinne eines chronischen Virusinfekts oder auch einer Autoimmunopathie) als Ursache annimmt, und eine, die eine psychische Erkrankung mit gestörtem Schmerzempfinden vermutet. Die Tatsache, dass seit nunmehr fast 30 Jahren immer wieder «Neuigkeiten» zur Ursache und vielfältige, zum Teil abstruse Therapien als erfolgreich angepriesen werden, macht eine organische Störung unwahrscheinlich. Ich interpretiere die Einordnung des Krankheitsbilds in den Formenkreis der rheumatischen Erkrankungen als eine Folge des ansonsten erfolglosen Versuchs, durch eine «Szientifizierung» der Fibromyalgie mehr Seriosität, Verständnis und Therapieerfolge zu erlangen, und sehe die Fibromyalgie als psychosomatische Störung an.
Zwar gibt es wissenschaftliche Hinweise dafür, dass Patienten mit Fibromyalgie eine «erlernte» oder «engrammierte» Erniedrigung der Schmerzschwelle und eine gestörte Schmerzverarbeitung aufweisen. Die Argumentation von Brückle und Zeidler, nach deren Ansicht sich die Frage nach einer psychischen oder somatischen Ursache der Erkrankung gar nicht stellt, da die Krankheitsgenese nach heutigen Vorstellungen im Sinne eines biopsychosozialen Modells durch psychische, somatische und soziale Faktoren bedingt sei, ist für mich ein weiterer Beweis für eine fehlende organische Ursache. Man schätzt, dass inzwischen etwa 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung, davon über 80 Prozent Frauen, von einem FMS betroffen sind. Die Prävalenz wäre damit doppelt so hoch wie die der rheumatoiden Arthritis. Es findet sich eine Häufung der FM im 4. bis 6. Dezennium und oft eine Akzentuierung im Klimakterium. In Krisen- und Notzeiten, in ländlicher Umgebung und bei geringerem Bildungsstand nimmt die Inzidenz ab. In der ehemaligen DDR war das FMS kaum bekannt, wird aber inzwischen in den neuen Bundesländern fast so häufig diagnostiziert wie in den alten.
Ist die Fibromyalgie eine Diagnose? Bei der sogenannten Fibromyalgie handelt es sich nicht um ein klar definiertes, insbesondere auch nicht um ein organisches rheumatologisches Krankheitsbild, sondern um ein funktionelles, psychovegetatives Schmerzsyndrom, das meist auf einer depressiv gefärbten seelischen Problematik beruht. Es wird nur deshalb meist dem rheumatologischen Fachgebiet zugeordnet,
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BAGATELLBEFUNDE WERDEN ZUR KONZESSIONSDIAGNOSE ERHOBEN
Abbildung: Die 18 sogenannten Tender-Points bei der Fibromyalgie
weil die Projektion seelischer Störungen häufig in den Bewegungsapparat erfolgt. Gleiche oder assoziierte Symptomenkomplexe finden sich jedoch auch in anderen Fachgebieten (z.B. Tinnitus, Spannungskopfschmerz, funktionelle Herzbeschwerden, Reizdarmsyndrom, Dysmenorrhö usw.). Es gibt «fliessende» Übergänge zu anderen funktionellen Syndromen wie zum Beispiel dem Multiple-Chemical-Sensitivity-(MCS-)Syndrom und neurotischen Störungen.
Typische Symptome für die Fibromyalgie sind: ■ Polytopie: Beschwerden in mehreren topografisch nicht zu-
sammengehörenden Körperregionen, wobei keine Folgen einer akuten oder chronischen Überbeanspruchung (einschliesslich repetitiver Bewegungsabläufe oder andauernder Zwangshaltung) vorliegen. ■ Inaquädanz: inadäquate, affektiv gefärbte Schilderungen der Beschwerden (s.o.). ■ Ungenauigkeit (Diffusität): Auf Nachfragen können keine genauen Angaben über Lokalisation und zeitliches Auftreten gemacht werden (überall – mal hier, mal dort – immer gleich – immer schlimmer – schon immer). ■ Diskrepanz: Objektiv leichte körperliche Arbeiten werden subjektiv als schwere Überforderung erlebt, zum Beispiel das Auftreten von Schmerzen bei alltäglichen Verrichtungen. ■ Gesprächigkeit: schwer unterbrechbarer Redefluss, weitschweifend, wiederholend, pathetisch. ■ Suggestibilität: erhöhte Empfänglichkeit, leichte Beeinflussbarkeit (schon beim Zeigen auf eine potenziell schmerzhafte Stelle äussert der Patient eine Schmerzreaktion). ■ Persistenz: Lang dauernde, wiederholt vorgebrachte Klagen über körperliche Beschwerden werden trotz gründlicher
Abklärung, bei der sich kein adäquater Befund erheben lässt, immer wieder vorgetragen. ■ Inkonstanz: Trotz der Persistenz (s.o.) wechselt das Ausmass beziehungsweise die Schilderung der Symptomatik zum Teil kurzfristig (Ablenkungen), zum Teil mittelfristig (Urlaub, Arbeit) oder langfristig (z.B. depressive Phasen bei Schicksalsschlägen). Mit in den Bereich der Suggestibilität gehört dabei auch oft ein vorübergehendes Ansprechen auf therapeutische Bemühungen, das meist umso ausgeprägter ist, je «einschneidender» die Massnahme ist oder empfunden wird. Dies erklärt nicht nur, warum bei FMS-Patienten die Zahl an operativen Eingriffen höher ist als in der gleich alten Normalbevölkerung, sondern auch, warum Operationen oft mit «Heilungen» der Beschwerden einhergehen, auch wenn sie gar nichts mit der Körperregion zu tun hatten (Cholezystektomie, Hysterektomie). Leider halten diese allerdings nicht lange an, und die Patienten entwickeln wieder gleiche Beschwerden oder ähnliche auf einem anderen Fachgebiet (s.u.). ■ Nervosität: Zittern, Muskelspannung, Herzklopfen, Schwitzen, Unfähigkeit, sich zu entspannen, Sich-gestresst-fühlen, innere Unruhe, Konzentrationsstörungen und Rastlosigkeit. ■ Depressivität: Hinweise auf gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Verlust der Genussfähigkeit, Antriebsminderung, morgendliches Tief, Appetit-, Gewichts-, Libidoverlust. ■ Funktionelle Beschwerden ausserhalb des Bewegungssystems: Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen, frühes Erwachen, unerholsamer Schlaf, verstärkte Traumtätigkeit), Kopfschmerzen, Migräne, kardiovaskuläre (Herzphobien, Kreislaufregulationsstörungen, Herzstiche), urogenitale (Dysurie, Menstruationsbeschwerden) Beschwerden, Atembeschwerden.
Übersicht: Klassifikationskriterien des FMS (ACR 1990)
1. Ubiquitäre Schmerzen Die Schmerzen gelten als ubiquitär, wenn beide Körperhälften, Ober- und Unterkörper sowie die Wirbelsäule («Rücken») betroffen sind.
2. Mindestens 11 von 18 sogenannten Tender-Points schmerzhaft auf leichten Druck (4 kp) Ein Tender-Point (Abbildung) gilt dann als «positiv», wenn der Patient bzw. die Patientin (spontan) angibt, dass die Palpation schmerzhaft war.
Die Klassifikation als Fibromyalgie gilt dann als erfüllt, wenn beide Kriterien für mindestens 3 Monate vorhanden sind. Das Vorliegen einer zweiten klinischen Störung schliesst die Diagnose einer Fibromyalgie nicht aus.
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FORTBILDUNG
Die Fibromyalgie …
… ist keine fest umrissene Diagnose, sondern ein soziales und sozialmedizinisches Problem einer von Medien (Werbung) geprägten Gesellschaft, in der Anbieter von Wellness- und Anti-Aging-Produkten oder von paramedizinischen Gesundheitsleistungen den Menschen suggerieren wollen, man könne auch im Alter immer jung, frisch und beschwerdefrei bleiben. Merkantile Interessen, Machbarkeitswahn und Irrglaube verleugnen dabei die Grenzen und Unvollkommenheit der menschlichen Existenz.
werden. Dies hat zur Folge, dass Fibromyalgiepatienten überdurchschnittlich häufig diagnostische oder therapeutische Eingriffe (Operationen) über sich ergehen lassen. Komplikationen oder Folgeschäden solcher diagnostischer oder therapeutischer Massnahmen werden dann als endgültiger Beweis für das Vorliegen einer organischen Erkrankung gewertet. Wenn der Nutzen solcher Massnahmen in Zweifel gezogen wird, verweisen Betroffene und oft auch behandelnde Ärzte auf «Erfolge» in der Behandlung und negieren, dass diese entweder nur von vorübergehender Natur waren (Suggestibilität, s.o.) oder bald von der nächsten Erkrankung «abgelöst» werden.
■ Hypochondrie: unbegründete Furcht, an einer schweren Krankheit zu leiden, beziehungsweise eine solche zu bekommen (z.B. im Rollstuhl landen, Karzinophobie).
■ Arzt-Patienten-Beziehung: Häufiger Wechsel, beidseitig als unangenehm erlebte Arzt-/Therapeutenbeziehung, sich entwickelndes Misstrauen, hartnäckiges Fordern neuer Untersuchungen, häufiger Wechsel der Medikamentenverordnung, Aufbau von Aggression beim Arzt.
■ Psychosomatische Vordiagnosen: Der Patient gibt an, dass bereits von anderen Ärzten Diagnosen, wie zum Beispiel «vegetative Dystonie», «nervöse Störung», «depressive Verstimmung», geäussert worden seien.
■ Kontroverse Beurteilung in Vorbefunden: Der Patient beruft sich auf zum Teil widersprüchliche körperliche Diagnosen, die die Beschwerdesymptomatik nicht erklären (z.B. degenerative Wirbelsäulenveränderungen, schiefes Becken, Gleitwirbel, M. Scheuermann).
■ Therapieresistenz: erlebte Unwirksamkeit von Massnahmen oder Medikamenten, unter Umständen nach kurzfristigem Ansprechen, erhöhte Nebenwirkungsbereitschaft. Die Patienten lehnen alle vorgeschlagenen Massnahmen ab.
Der Teufelskreis der Fibromyalgie Die Erkrankung entwickelt sich meist aus einem Spannungsfeld der Unzufriedenheit mit privaten oder beruflichen Lebenssituationen und des Gefühls einer deutlich eingeschränkten körperlichen Belastbarkeit. Hierdurch entsteht dann ein «Teufelskreis» zwischen dem, was der Patient zu leisten bereit ist (aus der Überzeugung, dies auch körperlich nicht zu können), und dem, was er in einem immer mehr auf die Erkrankung beziehungsweise den Symptomenkomplex fokussierten Alltag, der zunehmend durch Nichtstun, Isolation, soziale Deprivation und Selbstmitleid geprägt wird, dann auch nicht mehr leisten kann.
Eingriffe als Folge von Bagatellbefunden Organische Ursachen, die die Beschwerden der Patienten erklären, lassen sich bei diesem «Krankheitsbild» nicht finden, wobei aufgrund einer meist intensiven und oft inadäquaten Diagnostik überzufällig häufig Bagetellbefunde zu Konzessionsdiagnosen ohne eigentlichen Krankheitswert erhoben
Behandlung der Fibromyalgie: komplex und
unbefriedigend
Therapeutisch werden allgemein roborierende und ablenkende
Massnahmen wie Sport, Krankengymnastik, Muskelentspan-
nungsübungen, Beschäftigungs- und Verhaltenstherapie emp-
fohlen. Sinnvoll und im Hinblick auf ihre Wirksamkeit geprüft
sind Patientenschulungsprogramme und Information in Selbst-
hilfegruppen. In schweren Fällen einer FM werden komplexere
psycho- und verhaltenstherapeutische Ansätze empfohlen.
Wenn überhaupt, ist medikamentös die Gabe von Antidepres-
siva beziehungsweise Muskelrelaxanzien wie Amitriptylin
([Saroten® Retard, Tryptizol®] und das in Deutschland und
der Schweiz nicht gebräuchliche Cyclobenzaprin), Serotonin-
Wiederaufnahmehemmern (SSRI) oder GABA-Agonisten
(Gabapentin [Neurontin® oder Generika], Pregabalin [Lyrica®])
sinnvoller als die von zentral wirkenden Analgetika (Tramadol
[Tramal® oder Generika]). Peripher wirkende Analgetika, NSAR
und Kortikosteroide haben sich in Studien eindeutig als nicht
wirksam erwiesen.
Bei postmenopausalen Patientinnen hat sich klinisch auch und
vor allem eine Hormonsubstitution bewährt, die aus anderen
Gründen aber nicht mehr so unproblematisch gesehen werden
kann wie noch vor einigen Jahren, auch wenn die positiven
Auswirkungen einer Hormonersatztherapie auf den Bewe-
gungsapparat insgesamt gut belegt sind.
Oft ist eine substanzielle und nachhaltige Besserung nur durch
grundlegende Änderungen privater oder beruflicher Lebens-
umstände zu erreichen, wobei eine Beschwerdeabnahme im
Senium fast regelmässig zu verzeichnen ist. Dies kann durch
eine sich zwangsläufig einstellende Akzeptanz des Alterungs-
prozesses erklärt werden.
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Literatur unter: www.allgemeinarzt-online.de
Prof. Dr. med Christof Specker Klinik für Rheumatologie & klinische Immunologie
Katholisches Krankenhaus St. Josef Kliniken Essen Süd D-45239 Essen
Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 2/2007. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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