Transkript
FORTBILDUNG
Mikro- und Makroangiopathie bei Diabetes mellitus
Risikofaktoren eindämmen heisst Gefässe schützen
Im Kampf gegen die diabetischen Folgeschäden und im Kampf für eine bessere Lebens-
Merksatz
erwartung und Lebensqualität unserer Diabetespatienten haben wir eine einzige, aber wirklich scharfe und wichtige Waffe: die recht-
■ Mikroangiopathie und Neuropathie werden eher durch eine gute Blutzuckereinstellung und weniger durch die Bekämpfung der Risikofaktoren günstig beeinflusst.
zeitige und richtige Behandlung der Diabetiker mit Bekämpfung von Hyperglykämie, Dyslipoproteinämie und Hypertonie.
genauso hoch ist wie bei Nichtdiabetikern, die bereits einen Infarkt überstanden haben. Die weitaus meisten Infarktereignisse verzeichneten allerdings Diabetiker nach bereits überstandenem ersten Infarkt.
HELLMUT MEHNERT
Bei den diabetischen Folgeschäden unterscheidet man zwischen der spezifischen diabetischen Mikroangiopathie (Retinopathie, Glomerulosklerose) und der Makroangiopathie (Arteriosklerose).
Was trifft welchen Diabetes-Typ? Grundsätzlich unterscheiden sich Folgeschäden von Typ-1- und Typ-2-Diabetikern in qualitativer und quantitativer Hinsicht nur wenig. Die diabetische Retinopathie ist zum Beispiel bei beiden Diabetestypen annähernd gleich häufig. Lediglich die proliferative Form der Netzhauterkrankung wird bei Typ-l-Diabetikern weitaus häufiger beobachtet, während bei Typ-2-Diabetikern die Makulopathie im Vordergrund steht. Unter den Typ-l-Diabetikern entwickeln etwa 40 Prozent nach 15 Jahren Diabetesdauer eine spezifische Nephropathie. Bei Typ-2-Diabetikern liegt die Prävalenz bei 15 Prozent. Doch infolge längerer Lebenserwartung dieser Patienten gibt es heute absolut mehr dialysepflichtige Typ-2- als Typ-l-Diabetiker.
Das koronare Risiko Die Bedeutung des Typ-2-Diabetes für die Entstehung der koronaren Herzerkrankung geht aus der wegweisenden Studie von Haffner (l) hervor. Dabei zeigte sich, dass das Risiko für einen Herzinfarkt für Diabetiker ohne vorangegangenen Herzinfarkt
Zuordnung der Vaskulopathien Aus der Abbildung geht hervor, dass man die diabetesspezifische Mikroangiopathie von der Makroangiopathie bei Diabetes unterscheidet und dass beide Formen die Hypertonie beeinflussen und ihrerseits vom erhöhten Blutdruck in ihrem Verlauf verschlechtert werden. Neben der diabetesspezifischen Retinopathie und der Glomerulosklerose sieht man natürlich auch Gefässveränderungen an verschiedenen anderen Organen, die aber offenbar nicht so wichtig sind wie die Veränderungen an Auge und Niere. Anders ist es bei Arteriosklerose, das heisst Makroangiopathie bei Diabetikern. Typ-2-Diabetiker haben häufig bereits bei der Manifestation der Zuckerkrankheit makroangiopathische Veränderungen, was mit den Risikofaktoren des sogenannten metabolischen Syndroms (Insulinresistenz, Stammfettsucht, Hochdruck, Dyslipoproteinämie, Gerinnungsstörungen) erklärt wird. Natürlich ergibt sich daraus ein buntes Bild der verschiedenen bevorzugt befallenen Gefässgebiete, wie sie auf der rechten Seite der Abbildung erkennbar sind.
Präventionsmassnahmen Bei der Prävention ist zu unterscheiden zwischen der Primärprävention der diabetischen Stoffwechselstörung (Tabelle 1), der Primärprävention von Mikro- und Makroangiopathie sowie Neuropathie (Tabelle 2), der Sekundärprävention von Mikround Makroangiopathie sowie Neuropathie (Tabelle 3) sowie der Tertiärprävention dieser Folgeschäden (Tabelle 4).
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FORTBILDUNG
Tabelle 1: Primärprävention der diabetischen Stoffwechselstörung
■ Eugenische Massnahmen (?) ■ Gentherapie ■ Typ 1: Immunsuppression in der prädiabetischen Phase ■ Typ 2: Normalisierung des Körpergewichts in der prädiabeti-
schen Phase, körperliche Tätigkeit
Kann man einen Diabetes verhindern? In Tabelle 1 sind die Möglichkeiten der Primärprävention der diabetischen Stoffwechselstörung aufgezeichnet. Natürlich kann man generell eugenische Massnahmen bei der Erbkrankheit Typ-1- und Typ-2-Diabetes diskutieren, was sich zum Beispiel auf das Abraten des Kinderwunsches beziehen könnte. Dies wird man aber nicht tun, da die hereditäre Penetranz – vor allem des Typ-1-Diabetes – sehr gering ist. Wenn eine Frau einen Typ-1-Diabetes hat, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind, gezeugt mit einem nichtdiabetischen Partner, bis zum 18. Lebensjahr einen Typ-l-Diabetes entwickelt, nur bei 1 bis 2 Prozent. Die Verifizierung der Gentherapie steht noch in den Sternen. Besser scheint es auszusehen mit der immunsuppressiven Behandlung des Typ-1-Diabetes in der prädiabetischen Phase, zumal diese Autoimmunerkrankung durch die Bestimmung von Autoimmunmarkern vorzeitig vermutet werden kann. Ergebnisse diesbezüglicher Studien stehen aber noch aus. Allenfalls kann man sagen, dass gemäss neuerer Befunde von Ziegler eine frühzeitige glutenhaltige Kost bei Säuglingen mit Typ-1diabetischer Belastung zu einer rascheren Manifestation des Typ-1-Diabetes führt, das heisst umgekehrt, dass längeres Stillen eine gewisse Prävention gegenüber dieser Autoimmunerkrankung bewirkt.
Völlig andere Verhältnisse liegen beim Typ-2-Diabetes vor, weil man hier mit der Normalisierung des Körpergewichts und der körperlichen Tätigkeit in der prädiabetischen Phase wichtige Möglichkeiten hat, dem Typ-2-Diabetes hervorragend vorzubeugen.
Primärprävention von Gefässkomplikationen und Neuropathie Bei der Primärprävention der vaskulären Schäden wie auch der Neuropathie (Tabelle 2) steht die exakte Diabeteseinstellung ganz im Vordergrund. Wie zum Beispiel die Ergebnisse einer amerikanischen Zehn-Jahres-Studie (DCCT) bei über 1400 Patienten gezeigt haben, kommt es mit einer intensivierten Insulintherapie und deutlich verbesserten HbA1c-Werten im Vergleich zu einer Kontrollgruppe mit Mischinsulintherapie zu einer drastischen Reduzierung von Retinopathie, Nephropathie und Neuropathie (1). Gleiches gilt für die Normalisierung des Blutdrucks, die sowohl für die Mikro- als auch für die Makroangiopathie von Bedeutung ist (Abbildung). Die Normalisierung der Blutfettwerte nützt wohl in erster Linie – aber nicht ausschliesslich – der Reduzierung arteriosklerotischer Veränderungen. Immer wieder wird das Rauchen als Risikofaktor zu wenig beachtet und unterschätzt. Dabei spielt das inhalierende Rauchen nicht nur eine nachteilige Rolle für die Makroangiopathie, sondern, wie man jetzt weiss, auch für die Erkrankung der kleinen Gefässe, das heisst für die Retinopathie und die Glomerulosklerose. Die körperliche Tätigkeit ist gewiss von Vorteil für die Prävention und Therapie der Makroangiopathie, wie viele Studien gezeigt haben, bei denen durch regelmässige körperliche Tätigkeit nicht nur die Diabetesmanifestationsrate, sondern vor allem auch die Quote der Herzinfarkte zurückging. Die Fusspflege vermag die Risiken des diabetischen Fusses zu verringern.
Abbildung: Diabetes mellitus und Gefässsystem
Diabetische Mikroangiopathie Retinopathie Glomerulosklerose
ferner Gefässveränderungen • an Haut • an Muskulatur
Hypertonie
Nephropathie Pyelonephritis Polyneuropathie diabetischer Fuss
Konjunktiva Plazenta Skelett
Infektionsneigung
Makroangiopathie bei Diabetes Koronarsklerose Arteriosklerose der Nierengefässe
Sklerose der Beinarterien
Zerebralsklerose
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FORTBILDUNG
Tabelle 2: Primärprävention von Mikro- und Makroangiopathie sowie Neuropathie
■ Exakte Diabeteseinstellung (Mi, Ma, Neu) ■ Normalisierung des Blutdrucks (Mi, Ma) ■ Normalisierung der Blutfettwerte (Ma) ■ Aufgabe des Rauchens (Mi, Ma) ■ Körperliche Tätigkeit (Ma) ■ Fusspflege (Mi, Ma, Neu)
Mi = Mikroangiopathie, Ma = Makroangiopathie, Neu = Neuropathie
Tabelle 3: Sekundärprävention von Mikro- und Makroangiopathie sowie Neuropathie
■ Exakte Diabeteseinstellung (Mi, Ma, Neu) ■ Normalisierung des Blutdrucks (Mi, Ma) ■ Normalisierung der Blutfettwerte (Ma) ■ Aufgabe des Rauchens (Mi, Ma) ■ Körperliche Tätigkeit (Ma) ■ Fusspflege (Mi, Ma, Neu) ■ Medikamentöse Behandlung (Mi, Ma, Neu)
Mi = Mikroangiopathie, Ma = Makroangiopathie, Neu = Neuropathie
Tabelle 4: Tertiärprävention von Mikro- und Makroangiopathie sowie Neuropathie
■ Lasertherapie (Mi) ■ Dialyse bei Niereninsuffizienz (Mi, Ma) ■ Konservative Behandlung oder Amputation des
diabetischen Fusses (Mi, Ma, Neu) ■ Angioplastie (Ma)
Mi = Mikroangiopathie, Ma = Makroangiopathie, Neu = Neuropathie
Sekundärprävention von Gefässkomplikationen und Neuropathie Bei der Sekundärprävention von Mikro- und Makroangiopathie sowie Neuropathie (Tabelle 3) bietet sich fast das gleiche Bild wie bei der Primärprävention. Nur kommen hier medikamentöse Massnahmen hinzu, die sich gegen die Mikroangiopathie (Mikroalbuminurie) mit ACE-Hemmern oder Sartanen, bei bereits vorhandener Makroangiopathie gegen die Hypertonie und gegen die Dyslipoproteinämie und bei der Neuropathie gegen schmerzhafte Zustände richten.
Forderungen Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Prävention und Therapie eng miteinander verzahnt sind. Gelingt es doch mit entsprechenden primär- und sekundärpraventiven Massnahmen, zugleich eine Therapie der Mikro- und Makroangiopathie sowie der Neuropathie zu betreiben. Neuerdings werden medikamentöse Ansätze daraufhin geprüft, ob es – etwa mit Glitazonen – gelingt, deren günstige Effekte auf Blutdruck, Mikroalbuminurie, Gefässendothel, Lipide und Weiteres im Sinne einer medikamentösen Prävention auszunutzen und der Entstehung vor allem makroangiopathischer Schäden vorzubeugen. Grundsätzlich gilt ja, dass die Makroangiopathie nicht nur durch die Hyperglykämie nachteilig beeinflusst wird, sondern vor allem durch die Dyslipoproteinämie und ganz besonders durch die Hypertonie. Auch die Bauchfettsucht hat sich – im Gegensatz zur Hüftfettsucht – als besonders atherogen erwiesen. Die Mikroangiopathie und übrigens auch die Neuropathie werden viel eher durch die Normalisierung der Blutglukosewerte günstig beeinflusst und weniger durch die genannten Risikofaktoren, die für die Makroangiopathie Gültigkeit haben. Natürlich steht ganz im Vordergrund aller therapeutischen Bestrebungen die Reduzierung des Übergewichts bei den zu 85 Prozent übergewichtigen Typ-2-Diabetikern und den nicht selten ebenfalls fettsüchtig gewordenen Typ-1-Diabetikern. Hier besteht die Möglichkeit, das diabetische Geschehen gleichsam zurückzuschrauben und durch eine kaloriengerechte Kost zusammen mit körperlicher Betätigung zu erreichen, dass sich die Stoffwechsellage normalisiert und auch die Risikofaktoren der Makroangiopathie günstig beeinflusst werden. So erstaunt es nicht, dass zu Beginn aller präventivmedizinischen und therapeutischen Massnahmen eine gründliche Schulung der Patienten stehen muss, um diese Therapieziele zu erreichen. Erfahrungsgemäss ist die Kooperationsbereitschaft der Patienten in diätetischer Hinsicht schlecht und lässt im Laufe des Diabetes auch noch nach. Andererseits darf man aber diese wichtigste und im Übrigen kostengünstigste Massnahme nicht versäumen, wenn es darum geht, Prävention und Therapie bei Diabetikern zu betreiben. ■
Literatur unter www.allgemeinarzt-online.de
Prof. Dr. med. Hellmut Mehnert Facharzt für Innere Medizin
Endokrinologe und Diabetologe Geschäftsführender Vorstand der Forschergruppe
Diabetes e.V. München D-82152 Krailing
Tertiärprävention Die Tertiärprävention (Tabelle 4) stellt eine Art Bankrotterklärung der Diabetikerbetreuung dar, da hier nur noch eingreifende Methoden, wie Dialyse und Amputation, zum Tragen kommen.
Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt 8/2007. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
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