Transkript
Ohne Dings kein Bums?
Gelten die alten Präventionsregeln noch uneingeschränkt?
BERICHT
Mit dem legendären Slogan «Ohne Dings kein Bums» hat uns die Aidsprävention jahrelang begleitet. Bei HIV-serodifferenten Paaren ist diese Forderung aber nicht mehr ohne Weiteres aufrechtzuerhalten. Wirft das nun die bewährten Präventionsregeln über den Haufen? Nein! Doch ein Blick auf die im Februar abgehaltene Retroviruskonferenz in Boston (CROI 08) bestätigt einmal mehr die Fortschritte in der antiretroviralen Therapie, und davon sollen auch HIV-serodifferente Paare profitieren.
THOMAS FERBER
HIV/Aids hat sich zu einer Jahrzehnte dauernden chronischen Erkrankung gewandelt, verbunden mit allen Komplikationen und Überlegungen, wie sie ähnlich auch bei anderen chronischen Leiden angestellt werden müssen. Nach Auskunft des Infektiologen Prof. Manuel Battegay, Universitätsspital Basel, weisen gut Behandelte lediglich eine Mortalität von 2 bis 3 Prozent jährlich auf. Doch könnte sich diese erfreuliche Situation, wie Battegay auf dem CROI 08 erklärte, mit zunehmendem Alter durchaus wieder verschlechtern. Immer mehr zeigt sich, dass das Überleben bei speziellen Gruppen von HIV-Patienten unterschiedlich ist. So spielt beispielsweise das Alter eine immer wichtigere Rolle bei den Betroffenen, wie auch die Toxizität der Medikamente. Dann stellt sich die Frage, ob noch früher mit der Therapie begonnen werden soll, um die Prognose weiter zu verbessern. Diese Überlegun-
gen sind für Battegay schon ein Hinweis darauf, dass die Erkrankung über viele Jahre behandelbar ist. Mittlerweile sind die Therapieergebnisse so gut, dass HIV-serodifferente Paare (ein Partner HIV-positiv), wie die Eidgenössische Aidskommission mitgeteilt hat, nach eingehender Beratung selbst entscheiden können, ob sie sich beim Geschlechtsverkehr schützen wollen oder nicht (vgl. «Ärztezeitung» vom 30.1.2008). Dies wurde nicht überall auf Anhieb verstanden, doch mittlerweile hat sich der Sturm gelegt, wie ein Gespräch mit dem St. Galler Aidsspezialisten und Infektiologen Prof. Pietro Vernazza zeigt, der an der Ausarbeitung des Papiers beteiligt war (siehe Interview auf Seite 230 f).
Noch früher behandeln? Seit einiger Zeit häufen sich Beobachtungen, nach denen HIV-Positive auch überdurchschnittlich oft an Erkrankungen versterben, die nichts mit der Infek-
tion selbst zu tun haben. Forscher wollen diese Entwicklung jetzt in Studien eingehender unter die Lupe nehmen. Verglichen werden sollen Gesunde mit HIV-Positiven, die CD4-Werte über 500 pro ml Plasma aufweisen. «Grundsätzlich ist es richtig, solche Vergleiche anzustellen, nur stellt sich die Frage, ob mit einem früheren Therapiebeginn diese Art von Mortalität wirklich verringert werden kann», so Battegay. Es ist nach Auffassung des Aidsspezialisten denkbar, dass zu Beginn der HIV-Infektion der Immunschaden so gross ist, dass er selbst mit einer frühzeitigeren Behandlung nicht mehr ganz ausgeglichen werden kann. So spielt das aktivierte Immunsystem eine entscheidende Rolle bei den nicht HIV-assoziierten Erkrankungen. Selbst bei nicht nachweisbarer HIV-Replikation finden sich laut Pietro Vernazza Zeichen für eine permanente Immunaktivierung und damit Entzündungsreaktion. Diese wiederum stellen einen Motor dar für die im Stillen ablaufende HIV-Replikation. Davon sind, wie Vernazza zu bedenken gibt, auch Personen betroffen, die HIV sehr gut zu kontrollieren vermögen. Die Immunaktivierung steht ausserdem mit vielen Alterungsprozessen im Zusammenhang und beschleunigt diese. Sie kommt für Gefässwandschädigungen als Ursache für die erhöhte kardiovaskuläre Mortalität infrage und fördert beispielsweise auch die Knochenalterung. All dies deutet laut Vernazza darauf hin, dass möglicherweise noch früher mit einer antiretroviralen Behandlung begonnen werden sollte. Wichtig ist für den Infektiologen, dass HIV-Positive frühzeitig einem Spezialisten für eine Beurteilung zugewiesen werden.
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BERICHT
tung hätten. Hirschel weist dar-
auf hin, dass HIV auch die Bil-
dung von Fibrinspaltprodukten
begünstigt und zu einer erhöhten
endothelialen Aktivität von Ad-
häsin führt. All diese Faktoren
können zu einer erhöhten kardio-
vaskulären Morbidität und Mor-
talität beitragen. Auch Hirschel
spricht sich dafür aus, im Rahmen
Manuel Battegay: Bei gut Behandelten beträgt die Mortalität nur 2 bis 3 Prozent jährlich, im Alter könnte sich die Situation aber verschlechtern.
Bernard Hirschel: Eine früher einsetzende Therapie sollte zunächst in kontrollierten Studien geprüft werden.
von kontrollierten Studien zu prüfen, ob eine frühere antiretrovirale Therapie sich noch günstiger auf die Prognose auswirkt. Lebenslange Therapien schlagen
auf die Behandlungskosten. Al-
Höhere Medikamenten-,
lerdings: Behandelte sind laut Hirschel
weniger Folgekosten?
weniger krank in Bezug auf aidsspezifi-
Am CROI 08 in Boston wurden wiederum sche Infektionen, daher werden andere
mehrere Studien zu den neuen antiretro- Behandlungen hinfällig. Sie sind auch
viralen Substanzen gezeigt, alle jeweils sehr viel weniger oder im besten Falle
mit sehr guten Ergebnissen*. Battegay kaum mehr infektiös. Damit stecken
gibt aber zu bedenken, dass bei den sich auch bedeutend weniger Personen
neuen Medikamenten, die bisher eine an. Solche Überlegungen müssten seiner
sehr gute Verträglichkeit bewiesen Meinung nach auch in die Kostenüberle-
haben, noch keine Aussagen über poten- gungen mit einbezogen werden. Schliess-
zielle Langzeitnebenwirkungen gemacht lich nähmen die Arbeitsproduktivität
werden könnten. Eine Kohortenstudie und auch die Lebensqualität entschei-
mit über 30 000 Patienten ergab bei- dend zu und Spitalaufenthalte ab. Batte-
spielsweise eine erhöhte Infarktrate gay wiederum rechnet «nur» mit einer
beim Einsatz eines reversen Transkrip- durchschnittlich um drei Jahre gegen-
tasehemmers. Doch Enos Bernasconi, über den heutigen Richtlinien vorgezo-
Mitglied der Fachkommission Klinik und genen Therapie, falls dereinst wirklich
Therapie von Aids des BAG sowie Infek- die antiretrovirale Behandlung schon
tiologe am Ospedale Regionale di Lu- bei weniger als 500 CD4 pro ml Plasma
gano, relativiert: «Solche Ergebnisse aus begonnen werden sollte.
Kohortenstudien sind mit Vorsicht zu
geniessen und könnten rein zufällig Primoinfektion nicht verpassen
zustande kommen, ich würde sie nicht Somit bleibt nach wie vor die Prävention
überbewerten.» Schon bisher waren von HIV/Aids ein ganz zentrales Anlie-
Stoffwechseleffekte der antiretroviralen gen. Eine sehr wichtige Rolle spielen
Medikamente ein Thema, doch der In- dabei die praktizierenden Hausärzte, die
fektiologe Bernard Hirschel vom Genfer den HIV-Test als Routineelement in ihrer
Universitätsspital, wie Bernasconi Mit- Praxis anwenden, nicht zuletzt, weil sie,
autor der neuen Empfehlungen, möchte wie Battegay unterstreicht, mit weitesten
auch diese Faktoren, beispielsweise die Bevölkerungskreisen in Kontakt stehen.
Einflüsse auf den Lipidstoffwechsel, Das würde heutzutage bedeuten, dass
nicht überbewerten, weil oft die alters- man praktisch allen Patienten einen HIV-
bedingten Risikofaktoren sowie das Test anbietet, sofern sich bei der Ana-
Rauchen eine ungleich höhere Bedeu- mnese Risiken ergeben oder wenn gar
der klinische Verdacht für eine Infektion
*Im Detail Interessierte können die gezeigten Poster von der Internetseite herunterladen (www.retroconference.org). Es genügt, unter der Suchfunktion die Substanznamen oder Studienakronyme einzugeben (z.B. ARTEMIS).
besteht. Routinemässig soll der HIV-Test in der Schwangerschaft oder noch besser vor Schwangerschaftswunsch zur Anwendung kommen. Bei der notfallmässi-
gen Beurteilung von Patienten mit Fieber
sollte der HIV-Test heute eigentlich zum
Routineangebot gehören. Dies nicht nur,
um dem Betroffenen eine Behandlungs-
chance zu eröffnen (immer noch kommen
rund 30% zu spät zur antiretroviralen
Therapie und haben daher eine hohe
Mortalität), sondern vor allem auch
wegen der präventiven Wirkung, falls
der Patient sich als HIV-positiv erweist.
Solche Patienten sind in der Anfangs-
phase ihrer Krankheit hochinfektiös.
Darauf weist eine Vielzahl von Studien
hin. In Boston wurde auch eine Studie
aus der Schweizer HIV-Kohortenstudie
vorgestellt, die aufgrund von Virusver-
wandtschaftsanalysen gezeigt hat, dass
ein gewisser Teil der Frischinfizierten
massgeblich für eine Weiterverbreitung
von HIV verantwortlich ist. Es gilt, sol-
che Personen rechtzeitig zu erfassen, um
die Ausbreitung von HIV zu stoppen.
Kommt es bei Frischinfizierten zu einem
massiven Abfall der CD4-Zellen, dann
wird eine antiretrovirale Therapie gestar-
tet. In Boston wurden mehrere Studien
zur Behandlung von Frischinfizierten ge-
zeigt, die jedoch widersprüchliche Re-
sultate lieferten. Immerhin zeichnet sich
ab, dass diejenigen längerfristig von
einer Behandlung profitieren dürften,
die erstens frühzeitig und zweitens mög-
lichst lange, das heisst über mindestens
zwei bis drei Jahre antiretroviral behan-
delt werden. Es komme darauf an, all
jene Menschen zu erfassen, die einen
Abfall der CD4-Werte unter 350 pro ml
Plasma aufweisen, sagt Battegay. Dieser
Zeitpunkt kann je nach Person unter-
schiedlich lange nach der Erstinfektion
auftreten: «Genauso wie es Patienten
gibt, die das HIV sehr lange unter Kon-
trolle haben, gibt es auch Patienten,
deren Immunsystem früh versagt und
damit eine antiretrovirale Therapie rela-
tiv schnell erforderlich macht.»
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Dr. med. Thomas Ferber Neustadt 40
8200 Schaffhausen Tel. 052-620 34 04 E-Mail: thomasferber@mail.ru
Interessenkonflikte: Reise und Unterkunft wuden von GSK und Pfizer übernommen.
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