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Titel
Der Nonna-Effekt
Untertitel
-
Lead
Fiona, die Agglohausärztin, und ich, die Teilzeitlandärztin, haben die Segnungen des Nonna-Effekts erkannt. Wir geniessen sie aus vollen Zügen. Es lebe die Zeit im Leben, in der Haar und Oberlippenbart ergrauen! Da wird frau von Zeitungen gebeten, mal eine Kolumne zu schreiben. Und sie darf sich endlich so richtig urchig aufführen. Meistens muss man das noch nicht mal. Schon ein Basiliskenblick genügt, und im Bus stehen junge Männer eilfertig auf und bieten einem ihren Platz an.
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Rubriken — ARSENICUM
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13529
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arsenicum
Fiona, die Agglohausärztin, und ich, die Teilzeitlandärztin, haben die Segnungen des Nonna-Effekts erkannt. Wir geniessen sie aus vollen Zügen. Es lebe
die Zeit im Leben, in der Haar und Oberlippenbart ergrauen! Da wird frau von Zeitungen gebeten, mal eine Kolumne zu schreiben. Und sie darf sich endlich so richtig urchig aufführen. Meistens muss man das noch nicht mal. Schon ein Basiliskenblick genügt, und im Bus stehen junge Männer eilfertig auf und bieten einem ihren Platz an. Mir muss keiner mehr sagen, die heutige Jugend sei unhöflich! Stimmt nicht. Nonnamässig lässt frau sich auf den Sitz sinken, strahlend lächelnd und lustvoll seufzend, und sie dankt dem jungen Mann von unten herauf. Mit bewegten Worten, in denen von müden Knochen und freundlichen Mitmenschen die Rede ist. Er strahlt und fühlt sich als Gutmensch. Alle Oldies rundherum lächeln auch, weil sie nun wieder 20 Minuten lang nicht mehr ob der verderbten Jugend verzweifeln müssen. Die Nonna selber sitzt bequem und grinst innerlich, weil sie vorher keineswegs den Sitzenden grimmig angestarrt hatte, sondern ohne Lesebrille Mühe hatte, dem Vordermann in die Zeitung zu gneissen, daher der böse Blick. Das Privileg des Alters erlaubt einem Äusserungen, für die man als junge Frau vor den Kadi zitiert worden wäre. Und diese schwer verdaulichen Mocken werden jetzt auch noch als goldene Wahrheiten akzeptiert. (Anmerkung des Layouters: Zumindest glaubt die Nonna das?!) «Hören Sie mit dem Saufen auf. Jetzt!», röhrt frau in der Sprechstunde. «Sonst machen Sie sich und ihre Familie kaputt.» Und zu unserem grössten Erstaunen geht der so Gemassregelte in sich und vermindert tatsächlich nachhaltig und langfristig seinen Alkoholkonsum. Ich erinnere mich noch gut daran, was mir vor 20 Jahren die Freunde des Hochprozentigen sagten, wenn ich sie nach dem zweiten FiaZ taktvoll fragte, ob möglicherweise ein eventuelles Alkoholproblemchen vorliegen könne? Oder die Dicken. Feindlich haben sie einen früher gemustert, wenn man als gertenschlanke Endzwanzigerin etwas über

den Nutzen einer Gewichtsreduktion murmelte.? «Sie haben doch keine Ahnung, Frau Doktor!», schmollten sie damals. Dank Nonna-Effekt kriegen sie jetzt ihr Fett ab. Denn die alte Hausärztin lehnt sich im Drehstuhl ein wenig zurück, auf dass die rubensschen Dimensionen nicht mehr vom Weisskittel kaschiert werden, macht eine vage Bewegung über den eigenen Äquator und lacht junoesk: «Sie sehen, ich bin in der gleichen Gewichtsklasse. Wie schwierig es ist, weiss ich sehr wohl!» Und dann öffnet sich das adipöse Gegenüber für ein Gespräch über Points, Brotwerte, Glyxindexe, Kalorien und den inneren Gourmand. Hat es nach einem Monat vier Kilo abgenommen, kann man als Nonna vollmundig loben, ohne dass es als herablassendes «Noten geben» fehlverstanden wird. Denn irgendwie assoziieren alle mit weiblichen bemoosten Häuptern nur Gutes: Zustupf zum Sackgeld, Weihnachtsgutzi, liebevolle und gerechtfertigte Ermahnungen. Bei der Nonna muss nicht pubertiert werden. Aber wenn es einem schlecht geht, dann darf man es. Nonnas sind nie bedrohlich, sondern wohlwollend, tröstend und unterstützend. Man fühlt sich um sie herum besser und vitaler, weil sie stets ein wenig zerstreut sind und ihre Kniegelenke hörbar knirschen. Kein Konkurrenzdenken, kein Neid kommt bei jungen KollegInnen auf, wenn die Alte richtige Diagnosen stellt und die neuesten Therapien kennt. Denn die Jungen meinen, dass sie das im Laufe ihres bewegten, langen Lebens gelernt habe. Oder es in pergamentenen Büchern mit Schweinsledereinband liest. Und realisieren nicht, dass sie sich morgens um fünf – oder nachts um zwei – die neuesten Papers und Internetinfos reingezogen und dann Musik gerippt hat. Tja, auch das geringe Schlafbedürfnis im Alter hat viel für sich! Genau wie die Kinder und Enkel, die einem die neueste Hard- und Software beschaffen und erklären. Daher mein brandneuer Nonna-Tipp: Freuen Sie sich aufs Alter!
Gastkolumnistin Annette Thommen

Der Nonna-Effekt

222 ARS MEDICI 6 ■ 2008