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Titel
Musig a so wie früener
Untertitel
-
Lead
Leise seufzend nehme ich Herrn S. und seine Krankengeschichte in Empfang und setze das respektvolle Pokergesicht auf, welches auch für Logorrhoiker angemessen ist. Auf dem Weg zum Sprechzimmer textet er schon los. «… und ich habe noch den Vater gekannt, wissen Sie, der war von 1980 bis 1987 Bundesrat, der alte Schlumpf, wie aus dem Gesicht geschnitten ist die Eveline ihm, und das war ein ganz Origineller, der hat Schwyzerörgeli gespielt und unter dem Künstlernamen Raetus Telena Stücke komponiert. Auch eine Polka, da-da-daaa-dim-dam-daaam, die ist auf der CD erschienen, die hiess ‹Musig a so wie früener›, oder so, kennen sie die CD?» «Nein!», sage ich und schiebe ihn ins Sprechzimmer. Im Stehen summt er weiter: «Da-da-daaa-dim-dam-daaam.
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Rubriken — ARSENICUM
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Musig a so wie früener

arsenicum
Leise seufzend nehme ich Herrn S. und seine Krankengeschichte in Empfang und setze das respektvolle Pokergesicht auf, welches auch für Logorrhoiker angemessen ist. Auf dem Weg zum Sprechzimmer textet er schon los. «… und ich habe noch den Vater gekannt, wissen Sie, der war von 1980 bis 1987 Bundesrat, der alte Schlumpf, wie aus dem Gesicht geschnitten ist die Eveline ihm, und das war ein ganz Origineller, der hat Schwyzerörgeli gespielt und unter dem Künstlernamen Raetus Telena Stücke komponiert. Auch eine Polka, da-da-daaa-dim-dam-daaam, die ist auf der CD erschienen, die hiess ‹Musig a so wie früener›, oder so, kennen sie die CD?» «Nein!», sage ich und schiebe ihn ins Sprechzimmer. Im Stehen summt er weiter: «Da-da-daaa-dim-dam-daaam. Die Polka, die kennen Sie doch, oder? Wann ist die CD gleich noch rausgekommen, 2006 oder vielleicht war es auch 2005 oder 2004 oder war es noch früher, doch noch in den Neunzigern? Egal, was soll’s, auf jeden Fall, seine Combo, die hiess Bernina, genau wie der Berg, oder unsere Frauen würden sagen, wie die Nähmaschine, hahaha, wissen Sie, die aus Steckborn, ist ja noch schön, der Bodensee, und die Thurgauer, gschaffig sind die in Mostindien, genau wie die Sankt Galler, können Sie sich noch an Kurt Furgler erinnern …» Sanft drücke ich ihn auf den Stuhl und lege die Blutdruckmanschette an. Zwischen Systole und Diastole höre ich nicht nur korotkowsche Geräusche, sondern welche Zwischenrufe im Bundeshaus erschallten, als der Schwarzkatholik Kurt Furgler und der Rote Willy Spühler gewählt wurden. Eine kleine Zusammenfassung der Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung und der katholischen Kirche und anderer Fundamentalisten folgt, als ich die Manschette abnehme und den Fundus inspiziere. Die Lungenauskultation wird erschwert durch Herrn S. Rezitation einiger Bonmots von Bundesrat Willy Ritschard. Ich lasse das Stethoskop sinken. «Je höher der Affe klettert, desto besser sieht man seinen Hintern!», trage ich ein weiteres Ritschard-Zitat bei. Man will ja vor seinen Patienten eine gute Falle machen. «Genau, genau!», wiehert Herr S., «und wissen Sie noch, was der Nello Celio immer sagte, oder Moment mal, war das der Flavio Cotti? Egal, irgend so ein Tessiner halt, nein, der Cotti war das nicht, der ist nur in Badehosen mit dem deutschen Aussenminister Kinkel in der Ostsee – oder war es die Nordsee?» «Adria?», suggeriere ich. «Nein, eher Insel Sylt. Im Ausland lassen sie immer die Hosen runter!», widerspricht er, während

ich die Ehre von Bundesrat Cotti zu retten versuche und betone, dass dieser die Beinkleider keineswegs ausgezogen habe. «Wobei die Dreifuss, die hat immer in der Schweiz die Skandale gemacht», sinniert Herr S. «Zmitts in Bern, dätschbäng vor dem Bundeshaus, hat die mit dem Manser gestrickt. Irgendwie tragisch, dieser junge Mann. Mit dem Regenwald, das ist doch eine Schande, da kämpft ja auch dieser Amerikaner für, dieser String oder Swing …» «Sting», unterbreche ich, «Engländer». «Die Musik sagt mir zwar gar nichts», fährt Herr S. unbeirrt fort, «ich höre dieses Pop-Zeug nicht gerne. Die können ja alle nicht mehr singen, haben auch keine Stimmen mehr. Früher konnten die das noch. Erinnern Sie sich noch an Enrico Caruso? Einfach grossartig, als Herzog im Rigoletto!» Ich verklemme mir die Bemerkung, dass Herr S., Geburtsjahr 1929, den berühmten Tenor, Todesjahr 1921, wohl genauso wenig erinnern kann wie ich. Heiter plaudert Herr S. weiter, inzwischen über Bundesrat Gnägi und Gnagi mit Sauerkraut, welches die Bayern Eisbein nennen. Bevor wir zu König Ludwig II. kommen, und zu Moritz Leuenberger, über den er sich immer sehr wortreich ärgert, kann ich ihn verabschieden. Ein Scherzwort von Herrn S. über den Markennamen «Penisol», den auch ich für einen Fehlgriff eines naiven Ecosol-Mitarbeiters halte, ignoriere ich und freue mich, dass mir heute Friedrich Traugott Wahlen, Amtszeit 1959 bis 1965, erspart bleibt. Später, beim Abendessen mit der Familie erzählte ich eine Anekdote über Bundesrat Koller. Oder war es Villiger? «Der war aus einer Familie, die Zigarren herstellte, zum Beispiel die Rössli ...», fing ich an. Ich war schon tief im Stammbaum der Villigers und wollte gerade zu den Feinheiten der Ligero-, Seco- und Volado-Blätter übergehen, als mich meine Frau unterbrach: «Nein, die sind von Burger Söhne AG!» Ich verlor den Faden. «Was wollte ich sagen, wo war ich? Pferde? Haflinger? Villacher? Village People? Also, du erinnerst dich sicher noch an diese fünf Typen mit dem Song YMCA …» Entsetzt bemerkte ich, wie das Gesicht meines Sohnes langsam zum Pokerface mutierte. Ich stotterte: «Nein, natürlich nicht, klar, warst ja 1977 noch nicht geboren …» Und schwieg dann ein bisschen.

174 ARS MEDICI 5 ■ 2008