Transkript
STUDIE
Minocyclin bei akutem ischämischem Schlaganfall
Das Antibiotikum scheint auch neuroprotektiv zu wirken
Gemäss einer Studie aus Israel
haben Schlaganfallpatienten,
die schon in den ersten Stun-
den nach dem akuten Ereignis
Minocyclin bekommen, eine
deutlich bessere Prognose.
NEUROLOGY
Minocyclin ist ein semisynthetisches Tetrazyklin, das sich in Tiermodellen verschiedener neurologischer Erkrankungen wie multiple Sklerose und ParkinsonKrankheit als eindeutig neuroprotektiv erwiesen hat. Auch im tierexperimentellen Modell eines Schlaganfalls zeigte Minocyclin vielversprechende Ergebnisse. So konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass die Gabe von Minocyclin nach einer SchlaganfallInduktion im Tierversuch die Überlebensrate von Pyramidenbahnneuronen von 10,5 auf 77 Prozent anhob. In einem Versuch mit Ratten, bei dem eine transiente fokale zerebrale Ischämie induziert wurde, konnte durch die Gabe von Minocyclin das Infarktareal um 63 bis 76 Prozent reduziert werden. Als Ursache für die Schutzwirkung von Minocyclin werden verschiedene Mechanismen diskutiert, schreiben Y. Lampl und Kollegen von der Universität Tel Aviv in der Zeitschrift «Neurology». Minocyclin soll antiinflammatorisch wirken, die Aktivierung von Mikroglia sowie MatrixMetalloproteinasen reduzieren, den apoptotischen Zelltod verhindern und zur Bildung von Stickoxid beitragen. Auf dem Hintergrund dieser vielverspre-
chenden tierexperimentellen Daten führten die Autoren eine klinische Studie mit Schlaganfallpatienten durch.
Studiendesign In die Studie wurden 152 Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall aufgenommen. Es galten folgende Einschlusskriterien: Alter über 18 Jahre, NIHSS (National Institute of Health Stroke Scale) >5 und Beginn der Schlaganfallsymptomatik 6 bis 24 Stunden vor Beginn der Behandlung. Die Patienten erhielten randomisiert über 5 Tage 200 mg Minocyclin oral (n = 74) oder Plazebo (n = 77). 1 Patient musste von der Studie ausgeschlossen werden, weil er zwischen der Aufnahme in die Studie und dem Beginn der Behandlung eine Hirnblutung entwickelte. 35,1 Prozent der Patienten waren weiblich, das Durchschnittsalter der Teilnehmer lag bei 66,7 ± 11,11 Jahren. Mithilfe des Barthel-Indexes, des NIHSS und der modified Ranking Scale (mRS) wurden die neurologischen Ausfälle, die globalen funktionellen Fähigkeiten sowie der Grad der Behinderung erfasst. Die NIHSS-Befunde wurden folgendermassen kategorisiert: ■ vollständige oder fast vollständige
Besserung (0 bis 1) ■ leichte Beeinträchtigung (2 bis 7) ■ mässige Beeinträchtigung (8 bis 14) ■ schwere Beeinträchtigung (>15).
Die Patienten wurden von einem Untersucher bewertet, der über die Gruppenzuteilung (Minocyclin oder Plazebo) nicht informiert war. Die Patienten wurden zu Beginn der Studie sowie nach 7, 30 und 90 Tagen untersucht.
Merksätze
■ In Tierexperimenten konnte bereits eine Neuroprotektion durch Minocyclin nachgewiesen werden.
■ Eine plazebokontrollierte Studie mit 152 Patienten kam nun zu dem Ergebnis, dass Patienten, die nach einem akuten ischämischen Schlaganfall rasch Minocyclin bekommen hatten, signifikant bessere Ergebnisse aufwiesen als Betroffene aus der Plazebogruppe.
Ergebnisse In der Minocyclingruppe vergingen bis zum Beginn der Behandlung durchschnittlich 12,64 Stunden, in der Plazebogruppe 11,99 Stunden. Keiner der Patienten musste die Behandlung aufgrund von Nebenwirkungen abbrechen. Insgesamt verstarben während der Nachbeobachtungszeit 14 Patienten (5 aus der Minocyclin- und 9 aus der Plazebogruppe). Zu Beginn der Studie wiesen die beiden Behandlungsgruppen ähnliche NIHSSScores auf. Am Tag 90 waren die NIHSSScores in der Minocyclingruppe signifikant niedriger als in der Plazebogruppe (1,6 ± 1,9 versus 6,5 ± 3,8, p < 0,0001). Ein entsprechender Unterschied in den beiden Behandlungsgruppen konnte schon am Tag 7 (6,5 ± 3,8 versus 8,1 ± 4,4, p < 0,0001) und am Tag 30 (1,8 ± 2,1 versus 7,1 ± 4,4, p < 0,0001) beobachtet werden. Tatsächlich konnten schon ab Tag 1 Unterschiede der NIHSS-Befunde in den beiden Behandlungsgruppen festgestellt werden, und diese Unterschiede blieben während der gesamten Nachbeobachtungszeit signifikant. Unterschiede des Barthel-Indexes in den beiden Gruppen konnten von Tag 7 bis Tag 90 nachgewiesen werden. Die Werte der mRS zeigten bereits am Tag 2 einen Unterschied und blieben während der übrigen Nachbeobachtungszeit signifikant unterschiedlich.
212 ARS MEDICI 5 ■ 2008
MINOCYCLIN BEI AKUTEM ISCHÄMISCHEM SCHLAGANFALL
Diskussion Die Ergebnisse der vorliegenden Studie weisen darauf hin, dass die Gabe von Minocyclin im akuten Stadium des Schlaganfalls mit besseren klinischen Ergebnissen assoziiert ist. Das Studiendesign sah vor, mit der Therapie innerhalb von 24 Stunden nach Auftreten der Symptome zu beginnen und über 5 Tage zu behandeln. Diese Entscheidung wurde aufgrund der Tatsache getroffen, dass die Minocyclinwirkung auf ischämisches Hirngewebe zumindest teilweise von den inhibitorischen Mechanismen auf apoptotische Vorgänge abhängt. In-vivo-Studien lassen vermuten, dass es innerhalb von 20 Minuten nach der Ischämie zum apoptotischen Zelltod kommt, der 24 bis 48 Stunden später einen Höhepunkt erreicht und 4 Wochen persistiert. In anderen Studien wurde über einen direkten Zusammenhang zwischen der Anzahl apoptotischer Zellen und der Ischämiedauer berichtet. Die Reduktion der Apoptose wird über verschiedene Mechanismen erreicht, die sich wahrscheinlich mitochondrial abspielen. In der aktuellen Studie wurde kein Unterschied zwischen Schlaganfällen mit grösseren oder kleineren neurologischen Ausfällen und auch kein Zusammenhang mit der Lokalisation und/oder Ätiologie nachgewiesen. Diese Ergebnisse können dadurch erklärt werden, dass Minocyclin zusätzlich zum antiapoptotischen Effekt weitere Wirkungen entfaltete. Dazu zählen die Inhi-
bition der Mikroglia-Aktivierung, die Induktion der Stickoxidsynthase sowie die Unterdrückung der Freisetzung freier Radikale aus Leukozyten. Die Inhibition von Matrix-Metalloproteinen, welche Entzündungsprozesse induzieren, und Veränderungen der Blut-Hirn-Schranke sowie weitere Mechanismen stehen ebenfalls in Zusammenhang mit der Minocyclinaktivität. Die antibiotische Wirkung von Minocyclin scheint dagegen für die günstigen Effekte des Tetrazyklins bei Schlaganfall nicht von Bedeutung zu sein. Vergleicht man die Ergebnisse der Kontrollgruppe mit denjenigen von Kontrollgruppen aus früheren Studien, so scheinen die Ergebnisse in der vorliegenden Studie schlechter zu sein. Die Autoren erklären dies durch das therapeutische Fenster, das 6 Stunden nach Auftreten der Symptome begann; aus diesem Grund waren Patienten mit einer frühen spontanen Besserung und Patienten mit transienten ischämischen Attacken von der Studie ausgeschlossen. Der rasche Behandlungseffekt, der trotz der recht spät und variabel einsetzenden Therapie beobachtet wurde, kann auf die unterschiedlichen Wirkmechanismen von Minocyclin im akuten Schlaganfallstadium zurückzuführen sein – auch wenn Minocyclin hauptsächlich in apoptotische Vorgänge eingreift. Die Studie kommt zu hoffnungsvollen Ergebnissen, allerdings weist sie auch mehrere Limitationen auf:
■ Es handelte sich um eine offene Stu-
die, bei der nur der Untersucher, der
die Patienten bewertete, verblindet
war. Deswegen sollten die Ergeb-
nisse in einer Doppelblindstudie be-
stätigt werden.
■ In der Studie wurde eine Minocyclin-
dosis verwendet, die sich als sicher
bewährt hat. Die optimale Mino-
cyclindosis steht noch nicht fest.
■ Die Patienten wurden mit Mino-
cyclin oral behandelt – eventuell ist
eine intravenöse Therapie noch ef-
fektiver.
■ Die Zahl der Patienten war relativ
gering, deswegen sollten die Ergeb-
nisse in einer weitaus grösseren ran-
domisierten Studie bestätigt werden.
■ Die Behandlung wurde 6 bis 24 Stun-
den nach Beginn der Symptomatik
eingeleitet. Möglicherweise führt eine
früher einsetzende Therapie zu an-
deren Ergebnissen.
■
Y. Lampl et al. (Department of Neurology, Edith Wolfson Medical Center, Holon and Sackler Faculty of Medicine, Tel Aviv, Israel) et al.: Minocycline treatment in acute stroke. An open-label evaluator-blinded study.
Interessenkonflikte: keine deklariert
Andrea Wülker
ARS MEDICI 5 ■ 2008 213