Transkript
FORTBILDUNG
Ist das ein echter Ischias?
Diagnose und Therapie von ausstrahlenden Rückenschmerzen
Vom Kreuz ins Bein ausstrahlende Schmerzen
gehören zu den häufigen Beratungsergebnis-
sen. Ein Leitfaden zu den wichtigen Punkten
bei der Abklärung und Behandlung.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Der «Ischias» hat mancherlei Namen bekommen: ischialgiforme Schmerzen, lumbosakrales radikuläres Syndrom, Nervenwurzelschmerz, Nervenwurzeleinklemmung. Zu 90 Prozent ist ein Ischias durch einen Bandscheibenvorfall bedingt, der auf eine Nervenwurzel drückt, ischialgiforme Schmerzen können aber auch durch eine lumbale Spinalkanalstenose oder Tumoren bedingt sein. Geradezu typisch für das Leiden sei die grosse Variabilität der therapeutischen Massnahmen sowohl im Vergleich verschiedener Länder als auch innerhalb einzelner Länder, schreiben die niederländischen Autoren in ihrer Übersicht. Dies kann in Zusammenhang stehen mit der Spärlichkeit zuverlässiger Daten zu einzelnen diagnostischen und therapeutischen Interventionen, aber auch mit fehlenden klaren Richtlinien und mit Unterschieden in der Gesundheitsversorgung und bei den Versicherungsgegebenheiten.
Merksätze
■ Die meisten Patienten mit akutem Ischias haben eine günstige Prognose, aber zirka 20 bis 30 Prozent haben auch nach ein oder zwei Jahren noch anhaltende Probleme.
■ Die Diagnose erfolgt aufgrund von Anamnese und körperlichem Untersuchungsbefund.
■ Eine Bildgebung ist nur indiziert bei Warnzeichen («red flags») oder wenn eine Bandscheibenoperation erwogen wird.
■ Passive Therapien (Bettruhe) sind durch ein aktiveres Vorgehen ersetzt worden.
■ Heute besteht ein Konsens, dass die Initialbehandlung für ungefähr sechs bis acht Wochen konservativ sein soll.
■ Eine Bandscheibenoperation kann zwar eine raschere Linderung von Beinschmerzen bringen, aber im Vergleich zu konservativem Management wurden nach einem oder zwei Jahren keine eindeutigen Unterschiede gefunden.
Wer erkrankt an Ischias? Präzise Zahlen fehlen, aber Schätzungen gehen davon aus, dass 5 bis 10 Prozent der Patienten mit lumbalen Rückenschmerzen Ischias haben, wobei die Lebenszeitprävalenz für solche Schmerzen zwischen 49 und 70 Prozent schwanken soll. Einige persönliche und arbeitsbedingte Risikofaktoren sind bekannt (Kasten 1). Die Zusammenhänge zu sexueller Betätigung und körperlicher Fitness erscheinen jedoch widersprüchlich.
Wie diagnostiziert man einen Ischias? In erster Linie erfolgt die Erfassung der Diagnose über die Anamnese und die körperliche Untersuchung. Definitionsgemäss erwähnen die Patienten den ins Bein ausstrahlenden Schmerz. Fragen zur genauen Lokalisation des Schmerzes (Oberschenkel? bis unters Knie?) und zu begleitenden Empfindungsstörungen erlauben die Zuordnung zu einem Dermatom respektive Ner-
venwurzelniveau. Beliebteste Untersuchung bei Ischiasverdacht ist das Anheben des gestreckten Beins, der Lasègue-Test. Seine Sensitivität wird auf 91 Prozent beziffert, die Spezifität aber nur auf 26 Prozent. Demgegenüber ist der gekreuzte positive Lasègue spezifischer (88%), aber weniger sensitiv (29%). Neben dem ins Bein ausstrahlenden können die Patienten auch einen im Rückenbereich lokalisierten Schmerz aufweisen, der jedoch nicht im Vordergrund steht. Kasten 2 listet Indikatoren auf, die für Ischias und gegen unspezifische lumbale Schmerzen sprechen.
Braucht es eine Bildgebung? Eine diagnostische Bildgebung ist nur nützlich, wenn ihre Ergebnisse das weitere Management beeinflussen. Beim akuten Ischias beruht die Diagnose auf Anamnese und Untersuchung,
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FORTBILDUNG
Kasten 1: Risikofaktoren für akuten Ischias
persönliche Faktoren: ■ Alter (Häufigkeitsspitze 45–64 Jahre) ■ nimmt mit zunehmender Körpergrösse zu ■ Rauchen ■ psychischer Stress
berufsbedingte Faktoren: ■ anstrengende körperliche Aktivität, z.B. häufiges Heben,
v.a. zusammen mit Beugen und Drehen ■ Autofahren, inkl. Vibration des ganzen Körpers
und die Therapie ist konservativ. In diesem Krankheitsstadium ist daher eine bildgebende Untersuchung nur indiziert, wenn Warnhinweise (sog.«red flags») auf von einer Diskushernie verursachte Grunderkrankungen wie Infektion oder Malignom vorliegen. Eine weitergehende Diagnostik mit Bildgebung kann auch indiziert sein bei Patienten mit schweren Symptomen, die innert sechs bis acht Wochen nicht auf eine konservative Behandlung angesprochen haben. In dieser Situation kommt ein chirurgischer Eingriff infrage, der vorgängig die Darstellung der vorgefallenen Bandscheibe und der Nervenwurzelkompression erfordert. Für die Indikation ist eine gute Übereinstimmung der klinischen Befunde mit denjenigen des Tomogramms sehr wichtig. Dabei ist immer im Auge zu behalten, dass Diskushernien im MRI oder Computertomogramm (CT) auch bei asymptomatischen Personen mit 20 bis 36 Prozent sehr häufig sind. Eine eindeutige diagnostische Überlegenheit des MRI über das CT hat sich nach Einschätzung dieser Autoren nicht nachweisen lassen, das alleinige Röntgenbild hilft in dieser Situation jedoch nicht weiter.
Wie ist bei Ischias die Prognose? Im Allgemeinen ist der Verlauf bei Ischias günstig, und die Schmerzen und die Behinderung lassen innert zweier Wochen weitgehend nach. So waren in einer randomisierten Studie, die nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) mit Plazebo verglich, innerhalb von drei Monaten 60 Prozent und innert zwölf
Kasten 2: Hinweise auf Ischiasschmerz
■ einseitiger Beinschmerz, der stärker ist als der Schmerz im Rücken
■ ausstrahlender Schmerz in den Fuss oder in Zehen ■ Taubheit und Parästhesie mit demselben Verteilungs-
muster ■ Anheben des ausgestreckten Beins verstärkt den Schmerz
(Lasègue-Test) ■ lokalisierter neurologischer Befund (einer Nervenwurzel
zuordenbar)
Monaten 70 Prozent der Patienten geheilt. In den Plazebogruppen von Studien, die randomisiert mit nichtchirurgischen Interventionen verglichen, berichteten die Hälfte innert zehn Tagen und drei Viertel innert vier Wochen von einer Besserung. Obwohl also für eine grosse Mehrheit der Ischiaspatienten die Prognose gut ist, leidet ein substanzieller Teil von bis zu 30 Prozent auch nach einem Jahr oder länger noch an Schmerzen.
Wie wirksam ist die konservative Therapie? Die konservative Behandlung hat die Schmerzlinderung durch Analgetika oder durch Reduktion der Nervenwurzelkompression zum Ziel. Letztes Jahr ergab eine systematische Review, dass konservative Behandlungen bei den meisten Patienten den natürlichen Verlauf der akuten Ischiaserkrankung nicht beeinflussen und die Symptome nicht verringern. Auch wenn dies nicht formell in randomisierten Studien untersucht wurde, scheint die adäquate Information der Patienten über die Ursachen und die erwartete (gute) Prognose ein wichtiger Teil des Managements dieser Erkrankung zu sein (Kasten 3). Für die meisten verfügbaren konservativen Interventionen bei Ischias fehlen harte Daten zur Effektivität. Zwischen Bettruhe und dem Rat, aktiv zu bleiben, scheint nur ein kleiner Unterschied bei der Schmerzlinderung zu bestehen. Deshalb hat man die Empfehlung zur Bettruhe, lange Zeit ein Grundpfeiler der Ischiastherapie, heute zugunsten der Aufforderung zur im Rahmen der Schmerzen möglichen Bewegung verlassen. Traktionstherapie, Analgetika, NSAR, intramuskuläre Steroide und das Muskelrelaxans Tizanidin (Sirdalud®) sind in den Augen der Autoren unter Berufung auf eine systematische Review nicht effektiver als Plazebo. Dieselbe Übersicht sah Anhaltspunkte, dass epidurale Steroidinjektionen bei akutem Ischias effektiv sein können, eine neuere, auf einer grösseren Anzahl von Studien beruhende Review stellt diese Aussage jedoch wieder infrage. Verlässliche Daten zu Opioiden und Kombinationsmedikationen fehlen. Auch für Manipulation, heisse Packungen oder Korsetts gibt es keine verlässlichen Beweise der Effektivität.
Welches ist der Stellenwert der Chirurgie? Ein chirurgischer Eingriff zielt auf die Entfernung des Diskusluxats, allenfalls auch von Teilen der Bandscheibe oder auf die Erweiterung einer Foramenstenose. Die Operation soll die Schmerzen und Funktionsausfälle im Bein beeinflussen und hat nicht den begleitenden Rückenschmerz im Fokus. Konsens besteht darüber, dass ein Cauda-equina-Syndrom eine absolute Indikation zu sofortiger Operation darstellt. Ein elektiver Eingriff kommt bei einseitigem Ischias infrage. Längere Zeit stützte sich die Operationsempfehlung nur auf eine alte randomisierte Studie, die für das chirurgische Vorgehen im Vergleich zum konservativen Management einen Vorteil nach einem Jahr, nicht aber nach vier und zehn Jahren Followup ergeben hatte. Ebenfalls als stützend für die Operationsindikation bei ausgewählten Patienten mit Diskushernie, die nicht auf konservative Therapie anspricht, werden Studien mit der Chemonukleolyse angesehen, die einen Behandlungsvorteil
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Kasten 3: Klinische Guidelines für Ischias des niederländischen Kollegiums für Allgemeinmedizin
Diagnose:
■ Nach «red flags» suchen: Malignom, osteoporotische Fraktur, Radikulitis, Cauda-equina-Syndrom
■ Anamnese: Lokalisation; Schweregrad; Kraftverlust; Sensibilitätsstörungen; Dauer; Verlauf; Einfluss von Husten, Ruhe, Bewegung; Auswirkungen auf die Alltagsaktivitäten
■ körperliche Untersuchung inklusive fokussierter Neurostatus: Lasègue-Test
■ bei dermatomalem Muster oder positivem Lasègue-Test, Kraftverlust, Empfindungsstörung: Reflexe (PSR, ASR), Sensibilität an den lateralen und medialen Seiten von Füssen und Zehen; Grosszehenkraft bei Extension; Spitzengang und Fersengang (Seitendifferenzen?); gekreuzter Lasègue
■ Bildgebung oder Labortests sind nur indiziert, wenn «red flags» vorliegen, aber nicht nützlich bei Diskushernienverdacht.
Therapie:
■ Erklärung der Ursache der Symptome und Beruhigung des Patienten: Die Symptome nehmen gewöhnlich mit der Zeit ohne spezifische Massnahmen ab.
■ Rat, aktiv zu bleiben und mit den Alltagsaktivitäten fortzufahren. Einige Stunden Bettruhe können etwas symptomatische Linderung bringen, bewirken jedoch keine schnellere Heilung.
■ Wenn nötig Verschreibung von Medikamenten in vier Stufen: 1. Paracetamol, 2. NSAR, 3. Tramadol, Paracetamol oder NSAR in Kombination mit Codein, 4. Morphin
■ Unverzügliche Überstellung an den Neurochirurgen bei Cauda-equina-Syndrom oder akuter schwerer Parese oder (innerhalb weniger Tage) progressiver Parese
■ Überweisung zum Neurologen, Neurochirurgen oder orthopädischen Chirurgen in Fällen von nicht beherrschbaren (morphinrefraktären) radikulären Schmerzen oder wenn der Schmerz innert sechs bis acht Wochen unter konservativen Massnahmen nicht abnimmt.
gegenüber Plazebo ergeben hatten. Eine Cochrane-Review erinnerte letztes Jahr allerdings daran, dass die Langzeitauswirkungen des operativen Eingriffs unklar und der optimale Operationszeitpunkt unbekannt seien. Studien neuen Datums sind etwas widersprüchlich. In einer Untersuchung ergaben sich durch eine Mikrodiskektomie im Vergleich zum konservativen Vorgehen nach zwei Jahren keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich Beinschmerz, Rückenschmerz und subjektiver Behinderung. In der grossen SPORT (spine patient outcomes research trial)-Studie in den USA ergaben sich geringe, nicht signi-
fikante Differenzen zugunsten der Operation, in der assoziier-
ten Beobachtungsstudie hatten die operierten Patienten signifi-
kant bessere Ergebnisse für Schmerz und Funktion, allerdings
sind diese Ergebnisse aus methodischen Gründen nicht wirk-
lich stringent.
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B.W. Koes (Department of general Practice, Erasmus MC, University Medical Center Rotterdam) et al.: Diagnosis and treatment of sciatica. Brit med J 2007; 334: 1313–1317.
Interessenkonflikte: keine deklariert
Halid Bas
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