Transkript
REFERAT
Wegen Zerumenentfernung vor den Richter?
Auch bei banalen Massnahmen wichtig: umfassende Patientenaufklärung
Ein deutsches Landgericht kam zu einer etwas überraschenden Feststellung: Der Arzt habe
Merksatz
vor der mechanischen Entfernung eines Ohrenschmalzpfropfs den Patienten auf die mögliche Schmerzhaftigkeit und dadurch ausgelöste
■ Bei einer instrumentellen Zerumenentfernung muss zuvor gegenüber den Patienten die Aufklärung erfolgen, dass es bei abrupter Kopfbewegung zur Trommelfellschädigung kommen kann.
unkoordinierte Kopfbewegungen mit allfälli-
ger Verletzungsfolge hinzuweisen und ihn zu
ermahnen, den Kopf nicht zu bewegen.
LARYNGO-RHINO-OTOLOGIE
Sachverhalt: Wegen starker Hals- und Schluckbeschwerden mit Ausstrahlung zu den Ohren suchte der Patient eine HNO-Klinik auf. Da im linken Gehörgang obturierendes Zerumen angetroffen wurde, musste dieses zwecks genauer Otoskopie entfernt werden. Diese Entfernung erfolgte mittels Häkchen. Dabei kam es zu einer unerwarteten abrupten Abwehrbewegung des Kopfes durch den Patienten, der überdies kollabierte. Die weitere Untersuchung ergab eine Trommelfellverletzung, jedoch keine weiteren traumatischen Veränderungen im Mittelohr oder Auswirkungen auf das Labyrinth. Eine operative Versorgung der Trommelfellperforation wurde vom Patienten abgelehnt. Der Patient beklagte Schmerzen und ein verzerrtes Gehör. Nach acht Wochen waren die Beschwerden abgeklungen. Nach Auffassung des Gerichts bestand eine unzureichende Aufklärung über die Risiken einer Zerumenentfernung. Nach Ansicht der Juristen hätte der Arzt den Patienten vor plötzlichen Schmerzen und Reaktionsbewegungen warnen müssen. Der Sachverständige erläuterte, dass bei Entfernung trommelfellnahen härteren Zerumens Schmerzen entstehen könnten mit unkontrollierten Kopfbewegungen des Patienten und der Gefahr einer Trommelfellperforation. Das Gericht erblickte darin einen aufklärungsrelevanten Umstand, da «von einem Patienten nicht erwartet werden kann, dass er wisse, ob und wann bei einer mechanischen Reinigung
des Gehörgangs plötzlich derartige Schmerzen entstehen, die eine reflexartige oder schreckbedingte Kopfbewegung provozieren». Schon in einer Vorinstanz war ausgeführt worden, dass über seltene Komplikationen aufzuklären sei. Dies sei schon dann erforderlich, wenn ernsthafte Stimmen der medizinischen Wissenschaft auf bestimmte mit einer Behandlung verbundene Risiken hinweisen. Dabei käme es nicht auf die statistische Häufigkeit dieses Risikos an, sondern darauf, ob dieses Risiko der Behandlung spezifisch anhafte und ob es bei seiner wenn auch seltenen Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belaste. Die Aufklärungspflicht bestehe demnach, wenn zum Zeitpunkt der Behandlung ein solches Risiko bekannt sei. Die Gefährdung des Tommelfells sei ein solches aufklärungspflichtiges Risiko. Aufgrund der mangelhaften Aufklärung fehle es an der wirksamen Einwilligung des Patienten in die vorgenommene Massnahme, sodass der behandelnde Arzt für den eingetretenen Gesundheitsschaden des Patienten einzustehen habe. Im konkreten Fall wurde ein Schmerzensgeld in Höhe von 600 Euro zugesprochen. Die Entscheidung des Landgerichts hat nicht nur bei Medizinern, sondern auch bei Juristen einiges Erstaunen ausgelöst. Immerhin handelt es sich bei einer durch Ohrreinigung aufgetretenen Trommelfellperforation um ein sehr seltenes Risiko. Über ein solches ist nach ständiger Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) nur dann aufzuklären, wenn das Risiko im Falle seiner Verwirklichung das Leben des Patienten schwer belastet und trotz seiner Seltenheit für den Eingriff spezifisch und für den Laien überraschend ist. Der BGH hat dies zum Beispiel für den Fall der Erblindung nach einer Siebbeinoperation oder einer Querschnittslähmung bei einer chirotherapeutischen Manipulationsbehandlung an der Halswirbelsäule
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angenommen. Solche lebensbedrohenden oder -verändernden Risiken können hier jedoch nicht angenommen werden. Nach Auffassung des BGH kommt es auch nicht darauf an, dass der Patient die Risiken in extenso kennt; es genügt ein allgemeines Bild von der Schwere und Richtung des konkreten Risikospektrums. Demnach muss die Kenntnis des Patienten ausreichend sein, dass beim Einführen ärztlicher Instrumente in den Gehörgang, ebenso wie von zahnärztlichen Instrumenten in die Mundhöhle, im Falle abrupter Bewegungen Verletzungen entstehen können. Eine solche Kenntnis darf von Erwachsenen angenommen werden, sodass die Gefahrenmöglichkeit als bekannt vorauszusetzen und nicht speziell aufklärungspflichtig ist.
Tipp für die Praxis Das Unverständnis des Landgerichts legt wiederum dar, wie unmöglich es ist, den Anforderungen der Gerichte im täglichen Praxisverlauf nachzukommen. Man sollte das Urteil jedoch nicht nur kritisch bewerten, sondern auch nicht gänzlich ignorieren. Man tut daher gut daran, Patienten vor derartigen medizinischen Massnahmen zu einer ruhigen Kopfhaltung anzumahnen.
Kommentar des Referenten
Die Entscheidung der Juristen ist wohl vom Ausmass ihres
medizinischen Wissens her zu interpretieren. Man kann von
medizinischen Laien, demnach auch von Rechtsgelehrten,
keine intime Kenntnis der Medizin verlangen. Auch die Beur-
teilung von Gutachten medizinischer Sachverständiger unter-
liegt wiederum Juristen. Und dass Juristen nicht unfehlbar
sind, beweist schon die Häufigkeit von Rekursen und Neuver-
handlungen an höher gelegenen Gerichtshöfen. Je mehr man
sich als Arzt durch Aufzeichnungen in Krankengeschichten
absichert, umso besser fährt man bei allfälligen Klagen. Und
zuletzt noch: Ohrspülungen bei Zerumen sind im Allgemeinen
schonender und weniger riskant als eine instrumentelle Entfer-
nung.
■
A. Wienke und K. Janke: Aufklärung bei Cerumen-Entfernung? Urteil des LG Darmstadt vom 17.08.2005. Laryngo-Rhino-Otol. 2007; 86: 51–52.
Interessenkonflikte: keine
Ernst Moritsch